Claus Peter Ortlieb

Das Erkenntnissubjekt als gewalttätige Eins 1

Notizen zum Verhältnis von Positivismus und Wertabspaltung

Die "Vollendung im Niedergang", die sich dem Kapitalismus wohl erst seit wenigen Jahrzehnten, nämlich in der Phase seiner fundamentalen Krise attestieren lässt (vgl. Ulrich 2005b), scheint das Aufklärungsdenken bereits mit Auguste Comte (1798 - 1857) erreicht zu haben. Seither jedenfalls hat sich, was das Selbstverständnis der institutionalisierten Erkenntnisgewinnung betrifft, der Wissenschaft also, nichts Wesentliches mehr getan. Zum Beleg schlage man die einleitenden Kapitel eines beliebigen Lehrbuchs der Experimentalphysik oder aber auch der Volkswirtschaftslehre auf: Positivismus allenthalben, und keine wirksame Alternative in Sicht. Wenn die Wissenschaft sich selbst erklärt, wird sie positivistisch. Nun muss bekanntlich das, was einer von sich selber denkt, mit dem, was er tut, nicht zwangsläufig übereinstimmen. Und diese Diskrepanz lässt sich auch im vorliegenden Fall feststellen. Man kann ohne Übertreibung sagen: Wären Galilei, Newton oder Einstein der positivistischen "Grundregel, daß keine Behauptung, die nicht genau auf die einfache Aussage einer besonderen oder allgemeinen Tatsache zurückführbar ist, einen wirklichen oder verständlichen Sinn enthalten kann" (Comte 1844/1994, 16) gefolgt, sie wären nie auf das Fallgesetz, die Gravitation oder die Relativitätstheorie gekommen (vgl. Ortlieb 1998). Wenn daher der Positivismus als Erklärung, was Wissenschaft ist, wenig taugt, so bestimmt er doch die allgemeine Auffassung von Wissenschaft und insbesondere das Bewusstsein ihrer Erkenntnissubjekte. Von besonderem Interesse sind hier gerade diejenigen Aspekte, bei denen Comte das Reflexionsniveau und die Form-Bewusstheit eines Kant der "Kritik der reinen Vernunft" nicht mehr erreicht. Denn wo solche Aspekte weiterhin für die Wissenschaft von Bedeutung, ihrem eigenen Selbstverständnis aber verborgen, also gewissermaßen ins "kollektive Unbewusste" abgerutscht sind, können sie eine umso größere und unkontrolliertere Wirkung erzielen.

Comtes Geschichtsphilosophie liest sich - wenn man diesen Begriff zur Verfügung hat - als die Geschichte einer Abspaltung, die von Comte als Fortschritt gefeiert wird. Mit seinem "Gesetz der Geistesentwicklung der Menschheit oder Dreistadiengesetz" (Comte 1844/1994, 5) unterscheidet er drei notwendig nacheinander durchlaufene Stadien (Erkenntnisformen), denen er die Kindheit, eine Art pubertäre Übergangsphase und schließlich das Mannesalter(!) der Geistesentwicklung bzw. der Menschheit zuordnet, wobei einzelne Menschen oder auch die "drei Rassen"(!) in ihrer Entwicklung unterschiedlich weit fortgeschritten sein können: Das "theologische oder fiktive" Stadium, das "metaphysische oder abstrakte" Stadium und schließlich das "positive oder reale" Stadium, die dann noch weiter ausdifferenziert werden. Entscheidend ist nun - und hier ist Comte sehr klar -, dass der im Übergang zur Erwachsenenphase liegende Fortschritt nicht etwa durch einen sprunghaften Erkenntniszuwachs, sondern vielmehr durch eine Veränderung der Fragestellung begründet wird. So weise etwa das theologische Stadium "eine typische Vorliebe für die unlösbarsten Fragen über Gegenstände auf, die einer entscheidenden Nachprüfung am unzugänglichsten sind" und suche nach "absoluten Wahrheiten" (a. a. O.). Das metaphysische (Übergangs-)Stadium behandele die gleichen Fragen, jedoch mit Mitteln, die eine "kritische oder auflösende" Wirkung erzielen: "Die Metaphysik ist also in Wahrheit im Grunde nichts anderes als eine Art durch auflösende Vereinfachungen schrittweise entnervter Theologie." (Comte 1844/1994, 13) Und als Ergebnis und Krönung dieser Entwicklung, die damit zugleich abgeschlossen sei, stelle sich wie von selbst das positive oder reale Stadium ein (Comte 1844/1994, 15/16):

Kurz gesagt: Bestimmte Fragen werden einfach nicht mehr gestellt, sondern tabuisiert. Sie sind allenfalls noch den Kindern (und Frauen?) vorbehalten, unter erwachsenen (weißen) Männern lösen sie nur noch peinliches Schweigen aus. Im Zentrum steht fortan die positive Methode als inhaltsleere Form, erlaubt ist, was sich von ihr fassen lässt, verboten, was sich ihr verweigert.

Mit der alten Metaphysik werden zugleich alle Fragen nach der Konstituiertheit des Subjekts und seiner Erkenntnisform entsorgt. Die "positive Methode" kann sich selber nicht begründen, weil eine derartige Selbstreflexion außerhalb ihres Vorstellungs- und Gegenstandsbereichs liegt (vgl. Ulrich 2005b). Nun handelt es sich hier aber nicht wirklich um eine Entsorgung, sondern um einen Vorgang der Abspaltung, und das Abgespaltene ist nicht endgültig verschwunden, sondern nur ins Dunkle abgedrängt, vom "Licht der Aufklärung" nicht mehr erreichbar, aber gleichwohl weiterhin wirksam. Das hat zur Folge, dass die tabuisierte Metaphysik, wenn sich auch im Rahmen positivistischer Wissenschaft ihre Fragen nicht mehr wegdrängen lassen, in ihren frühesten Formen des angeblich überwundenen "theologischen oder fiktiven Stadiums"  wiederkehrt und die Bestandteile des ansonsten so gängigen Gegensatzpaares von Religion/Magie auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite für die Beteiligten unvermittelt in eins fallen (vgl. Ulrich 2005a, 24), so etwa für Dewdney (1998, 30):

Warum passt die Mathematik, die doch unseren eigenen Köpfen entspringt, so gut auf die Natur, die damit doch eigentlich gar nichts zu tun hat? Bei den im Rahmen positiver Wissenschaft praktisch Tätigen löst diese Frage, wie hier bei dem Mathematiker Dewdney, regelmäßig ehrfürchtiges Staunen aus, je nach Standort entweder über die Mathematik, die so Großes zu leisten vermöge, oder über die Natur, die so rational eingerichtet sei. Wenn allerdings auch professionelle Wissenschaftstheoretiker über diesen Stand nicht hinauskommen, ziehen sie zu Recht den Spott auf sich (Adorno 1969, 30):

Das ins Dunkel verbannte Abgespaltene ist als (für die positive Wissenschaft) "unerforschliches (weibliches?) Geheimnis" für heilige Schauer offensichtlich noch immer gut.

Die Konstituiertheit der eigenen Rationalität und deren spezifische Rolle im Erkenntnisprozess bleiben dem Positivismus verborgen, sie kommen in seiner Selbsterklärung - anders als noch bei Kant - überhaupt nicht vor. Das wird dort deutlich, wo Comte (1844/1994, 16/17) die Prinzipien seiner Wissenschaft positiv beschreibt:

Auch hier findet sich die von Ulrich (2005b, Anmerkung 7) konstatierte Aggressivität des "völlig normalen Geisteszustandes", dem sich zu verweigern nur noch um den Preis der Pathologisierung oder zumindest der Verbannung in das geistig minderbemittelte "metaphysische Stadium" möglich ist. Als "normal" gilt diesem Denken die Vorstellung, die Gesetze, die es erforschen will, seien Eigenschaften der beobachteten Phänomene selbst. Nun hatte bereits David Hume, einer der noch mit metaphysischem Reflexionsniveau ausgestatteten Vorläufer des Positivismus, festgestellt, dass sich aus Beobachtungen keine Gesetze ableiten lassen, eine Überlegung, die ihn selber in den Skeptizismus trieb, dem Positivismus aber fremd ist, weil er sie in einem Akt der "metaphysischen Regression" vermeidet und nicht etwa, weil er die Metaphysik überwindet. Das Hume' sche Problem hat Kant bekanntlich dadurch gelöst, dass er die Gesetzesförmigkeit der Erkenntnisse als "Prinzipien der Vernunft" dort platziert, wohin sie gehören, nämlich in das erkennende Subjekt. Dieser Lösung hat der Positivismus nichts entgegen zu setzen, er nimmt sie nur einfach nicht zur Kenntnis.

Wer nach gesetzmäßigen Vorgängen sucht, findet sie, aber eben auch nur sie, muss also alles, was nicht gesetzmäßig ist, entweder ausblenden oder aber gewaltsam in die Fasson bringen, die gesetzesförmige Erkenntnis erst möglich macht. Nun kann es hinsichtlich der hier aufzubringenden und aufgebrachten Gewalttätigkeit durchaus einen Unterschied machen, ob man sich - mit Kant - ein Bewusstsein dafür bewahrt hat, dass im "Ding an sich" etwas existiert, was sich dieser Erkenntnisform entzieht bzw. von ihr abgespalten wird, oder ob man die Gesetzesförmigkeit für eine Eigenschaft der "Natur" bzw. der Dinge selbst hält, ohne dass ein Rest bleibt. Zumindest besteht im ersteren Fall auf dem Wege einer Historisierung dieser Erkenntnisform und der ihr zu Grunde liegenden Subjekt- und Gesellschaftsform die Möglichkeit ihrer Kritik und Überwindung, die anknüpfend an den Positivismus (oder aus anderen Gründen: an Hegel) unmöglich ist.3

Vor dem Gesetz sind alle gleich. Das Gesetz bezieht sich seinem Begriff nach auf ihm unterworfene, qualitativ gleiche oder als gleich unterstellte Entitäten, seien es nun die austauschbaren Warenmonaden der bürgerlichen Gesellschaft oder die auf Massenpunkte reduzierten Körper der Newton' schen Mechanik. Idealgestalt dieser Gleichheit sind die mathematischen Formen: Zahlen, geometrische Figuren, mathematische Funktionen usw. Als gleich gilt letztlich, was sich auf Mathematik reduzieren lässt. Die gesetzesförmige Naturerkenntnis kann daher gar nicht anders, als eine mathematische zu werden, und Gleiches gilt für ihre Nachahmung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, auch wenn diese nicht gerade von Erfolg gekrönt ist. Hinter der von Comte scheinbar harmlos postulierten "einfachen Erforschung von Gesetzen" verbirgt sich innerhalb der bereits blind vorausgesetzten "Logik einer nach Subjekt und Objekt aufgespaltenen Welt" (Ulrich 2005b) daher der gewalttätige Akt einer weiteren, doppelten Abspaltung, die durch das erkennende Subjekt ebenso wie durch sein Objekt hindurchgeht: Weil das Objekt per se keineswegs gesetzesförmig ist, muss es dazu erst gemacht werden. Alle Erfahrung, auf die objektive Erkenntnis sich bezieht, ist eine (im Experiment) produzierte, in der die so genannten "Störfaktoren" ausgeschaltet werden und damit das Objekt erst erkennbar gemacht wird. Derselbe Prozess wiederholt sich auf der Ebene des erkennenden Subjekts, das keinesfalls qua Menschsein auf den objektiven Erkenntnisprozess vorbereitet ist, sondern sich dazu (zum Manne) erst zurichten muss, indem es von seiner Körperlichkeit und anderen individuellen Eigenschaften abstrahiert, bis es auf das reine Trans­zendentalsubjekt kondensiert ist, während der ganze abgespaltene Rest im Erkenntnisprozess nichts zu suchen hat und allenfalls geeignet ist, ihn zu "verunreinigen" (vgl. Ortlieb 1998). Die "Identität von Subjekt und Objekt" besteht im (bewusstlosen) Akt der objektiven Erkenntnis also darin, dass das auf seine allgemeine, überindividuelle Form reduzierte Subjekt sich sein Objekt nach dem eigenen Bilde schafft. Was darin nicht aufgeht, gehört in den Müll, oder in den Worten von Horkheimer/Adorno (1988, 13):

Die Altmeister sind hier, wie so oft, durchaus doppeldeutig: Die "Eins" steht zum einen für die Zahl, aus der alle anderen Zahlen sich ableiten lassen, zum anderen für die Identität, genauer für das "Eins-Machen" einer Erkenntnis mit Gewalt.

Es wäre schon viel gewonnen, nicht als Vollendung, aber doch als Vorbedingung der Überwindung einer gewalttätigen Gesellschafts-, Subjekt- und Erkenntnisform, wenn sich ein Bewusstsein dafür verbreiten ließe, dass das als Positivismus bekannte End- und Verfallsprodukt des Aufklärungsdenkens seinerseits zu entsorgen ist.

 

Adorno, Theodor W. 1969: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Einleitung, Neuwied

Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max 1988: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt

Comte, Auguste 1844/1994: Rede über den Geist des Positivismus, Neuausgabe der deutschsprachigen Ausgabe, Hamburg

Dewdney, Alexander K. 1998: Alles fauler Zauber?, Basel

Kurz, Robert 2004: Blutige Vernunft, Bad Honnef

Ortlieb, Claus Peter 1998: Bewusstlose Objektivität, Krisis 21/22, 15 - 51

Ulrich, Jörg 2005a: Gott in Gesellschaft der Gesellschaft, EXIT! 2, 23 - 51

Ulrich, Jörg 2005b: Das moderne Subjekt als gewalttätige Null