erschienen in der Folha de São Paulo
am 31.05.2009

Robert Kurz

DAS KRUMME HOLZ DER THEORIE

Isaiah Berlin – ein problematischer Denker des Liberalismus im 20. Jahrhundert

Das liberale Denken gehört nicht nur den Vertretern einer radikalen Freiheit des Marktes, die gegenwärtig ihren Geist aufgeben, auch wenn damit die Probleme der kapitalistischen Weltkrise unbewältigt bleiben. Isaiah Berlin, dessen Geburtstag sich zum hundertsten Mal jährt, war eher ein Vertreter jenes Liberalismus, der im angelsächsischen Raum oft als „links“ empfunden wird, weil er sich mehr um die Rechte von Minderheiten kümmert als um die Rechte der Konzerne. Der schillernde Begriff der Freiheit gewann für Berlin Gehalt aus dem Gegensatz zu den doktrinären Ideologien des 20. Jahrhunderts, die er als aus Rußland und dem Baltikum nach England emigrierter Jude leidvoll am eigenen Leib erfahren musste. Er wollte sich mit keinerlei Doktrin verbinden, auch nicht mit der eines enthemmten Kapitalismus.

Wie alle Denker eines mehr politischen als ökonomischen Liberalismus hing er der Idee einer abstrakten Freiheit des Individuums an, ohne die konkreten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen dieses Programms zu reflektieren. Deshalb teilte er auch die Blindheit des Liberalismus für den totalitären Charakter der kapitalistischen Maschine, die allein durch politische Institutionen der Demokratie nicht gebändigt werden kann. Obwohl er in seinem ersten Buch der Marxschen Theorie gerecht werden wollte, konnte er sie letztlich nicht anders als unter dem Eindruck des Stalinismus wahrnehmen, den er wie so viele als Konsequenz der Ideen von Marx zu begreifen versuchte. Dabei zielte gerade Marx auf eine andere Freiheit des Individuums, das nicht verstaatlicht, sondern von den Zwängen eines ökonomischen Selbstzwecks ebenso wie von der damit verbundenen staatlichen Menschenverwaltung befreit werden sollte.

Es ist charakteristisch für Berlin, dass er in der skeptischen und antidogmatischen Tradition eines Montaigne grundsätzlich allen Ideen misstraute, sie aber gleichzeitig für notwendig hielt. Er verstand sich als Anhänger der Aufklärung, ohne den „Aberglauben an die Vernunft“ zu teilen, aber auch ohne diese Vernunft als spezifisch kapitalistische zu historisieren. Das ist ja allerdings auch dem Marxismus nicht gelungen. Umgekehrt wollte Berlin die romantische Gegenaufklärung als notwendiges Gegengewicht zur doktrinären Vernunft verstehen, obwohl er ihre selber doktrinären Auswirkungen im 19. und 20. Jahrhundert verurteilte. Das könnte an die postmoderne Metaphysik der Ambivalenz und Kontingenz erinnern, für die alle Theorien ein wenig richtig und ein wenig falsch sind. Aber das Paradox eines „absoluten Relativismus“ muss im Licht der Philosophie Berlins erst recht als dogmatisch erscheinen. Seinen „moralischen Pluralismus“ wollte er wiederum durch das Postulat universeller Werte relativieren, die für alle Menschen gleichermaßen Gültigkeit haben sollen. Dieses Dilemma verweist darauf, dass alle Moralphilosophie auf eine Quadratur des Kreises hinausläuft, weil sie ihre eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen unaufgeklärt lässt.

Allerdings erinnert die Skepsis gegen eine Vergötterung der modernen Vernunft auch an Adorno, der auf seine Weise einer „Ableitung“ der Welt aus dem bloßen theoretischen Begriff misstraute und „mit dem Begriff gegen den Begriff“ denken wollte, um das zu berücksichtigen, was in der Identitätslogik des vermeintlich aufgeklärten Denkens nicht aufgeht. Berlin liebte den Ausdruck Kants vom „krummen Holz der Humanität“. Auf die kritische Reflexion übertragen, könnte man vom „krummen Holz der Theorie“ sprechen, die ihre Grenzen kennen muss, ohne sich aufzugeben. Diesen Gedanken hat Adorno allerdings gegen die Aporien der modernen Vernunft bei Kant und Hegel selbst gewendet. Berlins liberale Pluralität blieb in diesen Aporien stecken. Wenn er an Marx dessen Monismus kritisierte, übersah er, dass es sich dabei um einen negativen Monismus handelt, der die falsche identitäre Einheit der kapitalistischen Welt von Grund auf kritisiert. Eine plurale Gesellschaft, in der die Menschen „ohne Angst verschieden sein können“ (Adorno), wäre erst durch eine Überwindung des imperialen Diktats der Ökonomie möglich, das vom Staat immer nur exekutiert werden kann.

Berühmt geworden ist Berlins Unterscheidung zwischen einer „negativen Freiheit“ und einer „positiven Freiheit“. Erstere versteht sich als bloße Freiheit von einem äußeren Zwang, letztere als Freiheit für ein selbstbestimmtes Dasein. Weil Berlin den inneren Zwang der kapitalistischen Fetischgesellschaft nicht dechiffrieren konnte, wurde diese Differenzierung anschlussfähig für das neokonservative Denken des ökonomischen Radikalismus. Wenn die Menschen auf eine „Selbstverantwortung“ gerade unter den Zwängen der universellen Konkurrenz vergattert werden und sich als Humankapital zwecks „Selbstverwertung“ verstehen sollen, wird Berlins Begriff der positiven Freiheit brutal instrumentalisiert. Die Prediger einer derart repressiven Verantwortungsethik wissen meistens gar nicht, woher sie ihr Schlagwort haben.

Isaiah Berlin bleibt so ein problematischer Denker des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Die Freiheit des Individuums, auf die auch Marx durch seine radikale Ökonomiekritik hinaus wollte, bleibt uneingelöst. Damit zeigt sich, dass die Ideen der vergangenen Epoche ihr Verfallsdatum überschritten haben. Das gilt für den politischen Liberalismus ebenso wie für den traditionellen Marxismus, die nur einen Gegensatz in der gemeinsamen Hülle des warenproduzierenden Systems darstellen. Der Totalitarismus des Marktes und der Totalitarismus des Staates bilden die beiden Pole jener verselbständigten, keinerlei moralischen Werten zugänglichen „Verwertung des Werts“ (Marx), die in der neuen Weltwirtschaftskrise an ihre historische innere Schranke stößt. Solange das Verlangen nach Freiheit und Selbstbestimmung zwischen diesen beiden Polen hin- und hergehetzt wird, muss es sich zu Tode erschöpfen.