Marxistische Kritik Nr. 2, Januar 1987
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]
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Udo Winkel
[S. 70-77]
DIE KRISE DES MARXISMUS-ODER:
ZUR "NEUEN" MARXREZEPTION DER "ALTEN AKADEMISCHEN LINKEN"
I.
Die sogenannte "Krise des Marxismus" und seine Verwandlung in eine
positive, mit der bürgerlichen konkurrierende, sich mit ihr austauschende
und ihre Prämissen und Theoreme übernehmende Wissenschaft, die
heute allenthalben im vormaligen akademischen Marxismus sichtbar wird,
ist kein auf die "Postmoderne" beschränktes Phänomen. Der "gesunde
Menschenverstand" des bürgerlichen Bewußtseins, als eben das
"richtige Bewußtsein" einer "falschen Realität", affiziert immer
wieder - unter bestimmten Bedingungen - auch marxistisches oder vorgeblich
marxistisches Denken.
So zeigt schon Karl Korsch 1923 in seinem Versuch die Etappen der Entwicklung
der marxistischen Theorie zu bestimmen, die qualitative Veränderung
des "Marxismus der 2. Internationale" gegenüber Marx und Engels auf:
"Aus der materialistischen Geschichtsauffassung, die bei Marx und Engels
wesentlich materialistische Dialektik gewesen war, wird bei ihren Epigonen
schließlich etwas wesentlich undialektisches: Bei der einen Richtung
verwandelt sie sich in eine Art heuristisches Prinzip für die wissenschaftliche
Einzelforschung; bei der anderen gerinnt das flüssige methodische
Prinzip der materialistischen Dialektik Marxens zu einer Anzahl theoretischer
Sätze über den kausalen Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinungen
auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, d.h. also
zu etwas, was man am richtigsten als eine allgemeine systematische Soziologie
bezeichnen würde. Die einen behandeln also das materialistische Prinzip
Marxens als einen 'subjektiven Grundsatz bloß für die reflektierende
Urteilskraft' im Sinne Kants, während die anderen die Lehren der marxistischen
'Soziologie' als ein je nachdem mehr ökonomistisches oder mehr geographisch-biologisches
System dogmatisch hinnehmen. Alle diese und noch eine Reihe anderer, weniger
eingreifender Deformationen, die der Marxismus in der zweiten Periode seiner
Entwicklung in den Händen der Epigonen erlitten hat, können wir
charakterisieren mit dem einen, alles zusammenfassenden Satz: 'Die einheitliche
Gesamttheorie der sozialen Revolution ist umgewandelt in eine wissenschaftliche
Kritik der bürgerlichen Wirtschaftsordnung und des bürgerlichen
Staates, des bürgerlichen Erziehungswesens, der bürgerlichen
Religion, Kunst, Wissenschaft und sonstigen Kultur, die nicht mehr nach
ihrem ganzen Wesen notwendig verläuft in einer revolutionären
Praxis, sondern ebensogut verlaufen kann und tatsächlich
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in ihrer wirklichen Praxis meist verläuft in allerhand Reformbestrebungen,
die grundsätzlich den Boden der bürgerlichen Gesellschaft und
ihres Staates nicht überschreiten.'" (Korsch, Karl, Marxismus und
Philosophie, Ffm. 1966, S.102-104).
Geistesgeschichtlich erscheint der Bernsteinsche Revisionismus als
Antwort auf das Scheitern des verdinglichten Vulgärmarxismus der alten
Kautskyschen "Marxorthodoxie". Der neue kapitalistische Aufschwung nach
der langen Phase der "Großen Depression" (1873-95) ließ den
Glauben an eine "naturnotwendige Entwicklung" zum Sozialismus obsolet werden.
In dieser Situation einer "Krise des orthodoxen Marxismus" erfolgte eine
Ergänzung und Revision der Marxschen Theorie durch Übernahme
des bürgerlichen Verständnisses von Wissenschaft, während
ihrerseits bürgerliche Wissenschaftler den "Marxismus" durch die Bernsteinsche
revisionistische Brille rezipierten. Gegen "die Fallstricke der hegelianisch-dialektischen
Methode" fordert Bernstein,
"daß der Sozialdemokratie ein Kant nottut, der einmal mit der
überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend
ins Gericht geht, der aufzeigt, wo ihr scheinbarer Materialismus die höchste
und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist, daß die
Verachtung des Ideals, die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten
Mächten der Entwicklung Selbsttäuschung ist, die von denen, die
sie verkünden, durch die Tat bei jeder Gelegenheit selbst als solche
aufgedeckt ward und wird." (Bernstein, Eduard, die Voraussetzungen des
Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek 1969, S.217).
So wird die Dialektik Hegels durch den kantigen Dualismus von theoretischer
und praktischer Vernunft ersetzt. Die Realität der Arbeiterbewegung
spaltet sich auf in die ethisch begründeten und eben wissenschaftlich
nicht begründbaren sittlichen Ideale des Sozialismus und den durch
das positivistische Trial and Error (Versuch und Irrtum) - Verfahren bestimmten
praktischen Reformismus. Von Marx soll das übrigbleiben, was für
eine positive Tatsachenforschung fruchtbar sei.
Hier knüpft nun die zeitgenössische bürgerliche Soziologie
an. Man kann hier von einem "bürgerlichen Pendent des Revisionismus"
(Lenk) sprechen: Bernsteins Forderung, die Einzelaussagen des historischen
Materialismus als bloße Arbeitshypothesen zu bewerten, wurde in der
Soziologie - v.a. bei Max Weber, Troeltsch und Werner Sombart - zur methodischen
Selbstverständlichkeit, verbunden mit einer Relativierung, da das
ökonomische Erklärungsprinzip als eines von vielen möglichen
- wie dem psychologischen, ethnologischen, religionswissenschaftlichen
u.a. - in die soziologische Methodik eingeführt wird (Methodenpluralismus).
Bernstein und der Soziologie erscheint die Theorie inadäquat in Bezug
auf die Buntheit und Mannigfaltigkeit des "wirklichen Lebens".
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Konsequenterweise begründet er seinen Eklektizismus mit dem Hinweis,
daß "das Leben umfassender als alle Theorie" sei. Hatte Marx den
Anspruch erhoben, die inneren Zusammenhänge der gesellschaftlichen
Totalität zu bestimmen, so erfolgt aus der Leugnung der Dialektik
durch den positivistischen Wissenschaftsbegriff der nominalistische Charakter
der positivistisch-revisionistischen Konzeption: Die begrifflichen Bestimmungen
werden zu allenfalls zweckmäßigen Setzungen, die bestimmte Merkmalskombinationen
zusammenfassen.
Kurt Lenk hat in seiner Kritik bürgerlicher Marxrezeption als
einer der Wenigen begriffen, welche Bedeutung der Warenfetisch und seine
Eliminierung für die "Verbürgerlichung" des Marxismus hatte (und
hat), er sei deshalb hier ausführlich zitiert:
"Die Eliminierung der Entfremdungskategorie aus der ursprünglichen
Marxschen Konzeption ist das gemeinsame Merkmal der orthodoxen Richtungen
des Marxismus, des Vulgärmarxismus und des Revisionismus. In ihnen
wird die Marxsche Ideologiekritik auf das simple Theorem reduziert, Ideologien
seien lediglich zum Zwecke der Beherrschung der ausgebeuteten Klassen ersonnene
gedankliche Instrumente. Die genetisch-kritische Herleitung der ideologischen
Bewußtseinsformen, die mit einem historischen Verständnis ihrer
Funktion und ihrer Wahrheitsmomente einherging, verschwindet im gleichen
Maße, als die Analyse des Warenfetisches vom Ideologieproblem getrennt
wird. Tritt die Subjekt-Objekt-Dialektik, wie sie nicht nur in den Frühschriften
Marxens entwickelt worden ist, hinter einem neutralen Abbildtheorem zurück,
so können Wahrheit und Unwahrheit einer Theorie nur mehr am Grad der
Abbildhaftigkeit der in ihr enthaltenen Aussagen gemessen werden. Sowohl
die gesellschaftliche Wirklichkeit als auch die ihr entsprechenden Bewußtseinselemente
werden dann als vorgegebene Größen eingeführt, nach deren
Wahrheit und Unwahrheit nicht mehr gefragt werden müsse, da sich diese
nur dadurch bestimmten, in welchem Maße ein Urteil adäquate
Widerspiegelung des Objekts leistet. Allein die Praxis bestimme darüber,
inwieweit dies der Fall sei.
Wahrheit, Entfremdung und Ideologie sind bei Marx
voneinander unablösbare Kategorien, denn ohne Entfremdungstheorie
kann es für ihn auch keine wissenschaftliche Entscheidung über
das Wahrheitsproblem geben. Ebensowenig ist eine Erörterung des Ideologieproblems
ohne den Begriff der Entfremdung - der ökonomischen wie der geistigen
- möglich und sinnvoll. Der objektive, klassische Ideologiebegriff
Marxens, der aus der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur selbst abgeleitet
wird, ist nur im Zusammenhang mit seiner Theorie des Warenfetischismus
und der daraus resultierenden ökonomischen Entfremdung zu bestimmen.
Denn im Verschwinden des konkreten Lohnverhältnisses hinter abstrakten
Wertrelationen der zirkulierenden Waren auf dem Markt liegt der eigentliche
Grund für das Entstehen entfremdeter Bewußtseinsformen. Bei
Marx wird der Überbau nicht einfach als das gegenüber der gesellschaftlichen
Praxis Unwahre eingeführt. Schon deshalb nicht, weil die gesellschaftliche
Realität von ihm als eine von Grund auf verkehrte und entfremdete
bestimmt wird. Während Praxis stets als historisch-umwälzende,
revolutionäre Praxis gefaßt ist, als eine, die durch begriffliche
Transzendierung des
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bloß Wirklichen realiter das einlöst, was in der Philosophie
an kritischen Momenten enthalten ist, tritt bereits beim späten Engels
eine Fetischisierung der Praxis ein. Der Wertakzent, den Marx der umwälzenden
Praxis gegenüber einer nur im Denken sich vollziehenden "Revolutionierung"
verliehen hatte, verschiebt sich in der Folgezeit derart, daß nun
aller Praxis im Sinne der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen
Lebens ein Primat gegenüber der "bloßen" Theorie zukommen soll.
Die Wahrheit wird gleichgesetzt mit geschichtlicher Wirkkraft, was dazu
führt, daß man dem "Unterbau" ex definitione mehr "Wahrheit"
zugesteht als dem ideologischen Überbau. Hatte Marx noch den Akzent
auf politisch-historische Praxis als einer revolutionären gelegt,
so wird dieser Praxisbegriff tendenziell nun in der Weise vergröbert,
daß jede gesellschaftlich-politische oder industrielle Tätigkeit
bereits als ein in der Theorie überlegenes Element gilt. Die damit
vollzogene Neutralisierung des Marxschen Praxisbegriffs geht mit der Eliminierung
der Entfremdungstheorie einher: Marx hat die Philosophie als eine Kritik
der bestehenden Wirklichkeit ernster genommen als die Philosophen selbst.
Sie sollte auch in Deutschland wirklich und damit praktisch werden. Im
orthodoxen Marxismus hingegen wird Theorie abgewertet, weil sie gegenüber
der historischen Praxis als minder wirklich - im Sinne von "unmittelbar
wirksam" - erscheint. Der Überbau gewinnt mit dieser neuen Akzentuierung
einen gewissermaßen irrealen Charakter." (Lenk, Kurt, Marx in der
Wissenssoziologie, Neuwied und Berlin 1972, S. 212-214).
Gerade das Nichtbegreifen bzw. Nichtbegreifenkönnen, daß
die gesellschaftliche Realität eine im Prozeß kapitalistischer
Wertproduktion mitproduzierte Wirklichkeit darstellt, die eigenen Produkte
sich den Menschen gegenüber verselbständigen und sie beherrschen
(Marktgesetze) und ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse ihnen
als verdinglichte, als quasi "zweite Natur" gegenübertreten, läßt
sie eben - bis hin zum "strukturalistischen Marxismus" Althussers - dieser
Verdinglichung aufsitzen. Während dem jungen Lukács klar war,
daß im Kapitel über den Warenfetischismus im 1. Band des "Kapital"
die Grundlagen der materialistischen Geschichtsauffassung gelegt wurden,
zerfällt den Epigonen - und darin manifestiert sich ihr bürgerliches
Bewußtsein - die Totalität in die Pole Individuen hier und verdinglichte
gesellschaftliche Struktur dort, die nur äußerlich zusammengebracht
werden können. D.h. wie die erste Natur kann auch die zweite nur mit
einem äußerlichen Instrumentarium und ihr äußerlich
bleibenden Methoden, als Objekt, untersucht werden. Damit ist und bleibt
der Positivismus die Grundlage bürgerlicher Wissenschaft. Will man
auf dieser Grundlage weiterhin an einem, wie auch immer gearteten, Sozialismus
festhalten, so kann dieser eben selbst nur äußerlich als ethischer
begründet werden. Daher auch die Bedeutung des Neukantianismus für
den im "kategorischen Imperativ" wurzelnden "Sozialismus".
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II.
Der quantifizierende qualitätslose Kreislauf des kapitalistischen
Akkumulationsprozesses verführt das bürgerliche Denken zur Reproduktion
des immergleichen. So unterscheidet sich auch die heutige Marxkritik und
-revision - bei erhöhtem wissenschaftstheoretischem Aufwand - kaum
vom alten Revisionismus und der Rezeption von Marx durch die Soziologie
der Jahrhundertwende.
So kommt das Editorial "Mehrwert" 25, das die Referate eines Kolloquiums
unter dem Titel "Was bleibt von Marx?" wiedergibt, zu dem Ergebnis:
"Wie schon der kurze Blick auf die vergangenen Debatten auf dem Gebiet
der Politischen Ökonomie lehrt, bestand ihr allgemeines Resultat darin,
mehr alte Gewißheiten aufgelöst zu haben als daß sie zu
einem einheitlichen corpus von methodischen und inhaltlichen Überzeugungen
geführt hätte. Die Diskussion um Marx hat sich enorm verfachlicht
und damit vervielfältigt. Mochte es früher vielleicht ausreichen,
Marx gründlich gelesen zu haben, oder für wahr zu halten, was
für Marx Resultat seiner Forschungen war, so ist heute die Beschäftigung
mit Marx ohne Einbeziehung der Forschung anderer "Schulen" völlig
undenkbar geworden. Man kann nicht mehr Marxist sein, ohne die Bereitschaft,
Marxsche Lehren zu revidieren. Marx ist in den Kontext der modernen Wissenschaften
gestellt und aus dem Kontext der Arbeiterbewegung herausgelöst worden.
Das hat einerseits zu einer gewissen akademischen Anerkennung geführt,
andererseits aber die Antwort auf die Frage erschwert, wodurch ein wissenschaftlicher
Ansatz sich als marxistisch auszeichnen kann. Ein bestimmtes Glaubensbekenntnis
kann dies ebenso wenig sein wie ein schon abgeklärter Satz von theoretischen
Grundannahmen, auf den alle in der Tradition der Politischen Ökonomie
stehenden Forscher sich verpflichtet fühlten. Was die von der Kritik
der Politischen Ökonomie angetriebenen Forschungen eint, scheint uns
das gesellschaftstheoretische Interesse an einer Produktionsweise zu sein,
der "universelle Kulturbedeutung" (Weber) zukommt, die heute mehr denn
je schicksalhaft die gesellschaftliche Entwicklung im Weltmaßstab
prägt. Dieses Forschungsinteresse ist in emanzipatorischer Absicht
zusammengehalten; es ist angeleitet von der Idee einer besseren, Ausbeutung
und Entfremdung diskriminierenden Gesellschaft. Die Funktion eines Weltbildes,
das als Interpretationsrahmen für die Fülle der Ereignisse die
kollektive Identität einer Gruppe stiftet, kann dieses Interesse heute
nicht mehr übernehmen. Insofern reflektiert sich in dem Zerfall der
einheitsstiftenden Funktion dieses Weltbildes auch, daß das historisch
Mögliche komplexer geworden ist. Ist dies nicht auch ein Vorteil?"
(Mehrwert 25, Berlin November 1984, S. 5-6).
Karl-Ernst Lohmann hat in einer positiv-übereinstimmenden systematischen
Rezension dieses Bandes im "Argument" das Selbstverständnis der "neuen"
Marxrezeption der "alten" akademischen Linken gut herausgearbeitet, daher
erscheint es nützlich, diesen Text in die Kritik miteinzubeziehen.
Lohmann konstatiert richtig die "Verwissenschaftlichung" der Kritik der
politischen Ökonomie zur positiven Ökonomie:
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"Generell kann man denn auch den Weg vieler linker Ökonomen seit
1968 so bezeichnen: Von der rebellischen Attitüde, mit der die "bürgerliche
Nationalökonomie" aufgrund ihres "Klassencharakters" angegriffen wurde,
zur nachdenklichen Frage, wie man kritischer Ökonom bleiben und die
in der kapitalistischen Ökonomie existierenden Herrschaftsbeziehungen
weiter thematisieren kann, ohne hinter das Niveau eben jener "bürgerlichen"
Wirtschaftswissenschaft zurückzufallen. Von der politökonomischen
zur fachökonomischen Analyse, von der "dialektischen" zur analytischen
Methode. (Anführungszeichen sind bekanntlich immer ein Zeichen von
Hilflosigkeit - und so könnte man auch formulieren: Den kritischen
Ökonomen ist seit 1968 fraglich geworden, was das Bürgerliche,
den Klassencharakter der herrschenden Orthodoxie ausmacht und umgekehrt,
wie legitim das methodisch Andere, das Dialektische, und die politischen
Implikationen der marxistischen Heterodoxie sind.)
Es könnte sein, daß sich ein "Neomarxismus" herausbildet,
der diesen Namen verdient, der also in einem ähnlichen Verhältnis
zum Marxismus steht wie die Neoklassik zur Klassik: Gewisse (sozialistische,
kritische) Intentionen beibehaltend, dabei aber methodisch und inhaltlich
eine gänzlich andere Theorie aufbauend." (Das Argument, Rezensionsbeiheft,
27.Jg., Dezember 1985, S. 191-194).
Die "neue" positive Ökonomie beruht auf folgenden Postulaten:
1. Methodisch werden die Forderungen der analytischen Wissenschaftstheorie
akzeptiert. So fordert Glombowski die stärkere "Verwendung mathematischer
Modelle", die durch empirische Analysen ergänzt werden sollen (Der
abstrakt-unhistorische Charakter der Modelle in der bürgerlichen Ökonomie
wird selbst vom kritischen Rationalisten Albert als "Modellplatonismus"
bespöttelt.). Das Aufgeben der Totalitätssicht führt hier
zum unmittelbaren Gegeneinander bzw. zur äußeren Ergänzung
von abstrakt-verdinglichtem System (wie auch in den soziologischen Systemtheorien)
und konkret empirischem Material.
2. Inhaltlich geht es um eine "Revision bzw. Reformulierung der
Marxschen Werttheorie. Danach ist eine substanzialistische Interpretation
des Werts ("Als Kristalle dieser ihnen (den Waren) gemeinschaftlichen gesellschaftlichen
Substanz (der abstrakt menschlichen Arbeit) sind sie Werte - Warenwerte."
(MEW 23, S. 52)) unzulässig, sie wird durch die Definition einer Wertrelation
ersetzt. ...'Jede Wertschöpfungslehre hat (...) den Webfehler, im
Kern Rechtfertigungslehre zu sein - entweder für die jeweils gegebene
Einkommensverteilung oder für die Alternative zu ihr.' (so Küntzel).
Eine arbeitswerttheoretisch begründete Ausbeutungstheorie hat normative
Prämissen - und die kann man eben akzeptieren oder auch nicht." (S.192).
Schon Bernstein sah ja in der Favorisierung der objektiven oder subjektiven
Wertlehre eine rein normative Entscheidung. Marx hat
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schon in einem Brief an Kugelmann vom 11. Juli 1868 auf die Unsinnigkeit
des "Beweisens" des Werts verwiesen:
"Was das 'Centralblatt' angeht, so macht der Mann die größtmögliche
Konzession, indem er zugibt, daß wenn man unter Wert sich überhaupt
etwas denkt, man meine Schlußfolgerungen zugeben muß. Der Unglückliche
sieht nicht, daß, wenn in meinem Buch gar kein Kapitel über
den 'Wert' stünde, die Analyse der realen Verhältnisse, die ich
gebe, den Beweis und den Nachweis des wirklichen Wertverhältnisses
enthalten würde. Das Geschwätz über die Notwendigkeit, den
Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit,
sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der
Wissenschaft. Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will
nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit
einstellte, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, daß die
den verschiedenen Bedürfnissen entsprechenden Massen von Produkten
verschiedene und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit
erheischen. Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen
Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form
der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise
ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt
nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiedenen Zuständen
ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen.
Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt
in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen
Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend
macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte.
Die Wissenschaft besteht eben darin, zu entwickeln, wie das
Wertgesetz sich durchsetzt. Wollte man also von vornherein alle dem Gesetz
scheinbar widersprechenden Phänomene 'erklären', so müßte
man die Wissenschaft vor der Wissenschaft liefern. Es ist gerade der Fehler
Ricardos, daß er in seinem ersten Kapitel über den Wert alle
möglichen Kategorien, die erst entwickelt werden sollen, als gegeben
voraussetzt, um ihr Adäquatsein mit dem Wertgesetz nachzuweisen...
Der Vulgärökonom hat nicht die geringste Ahnung davon,
daß die wirklichen, täglichen Austauschverhältnisse und
die Wertgrößen nicht unmittelbar identisch sein können.
Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft besteht ja eben darin, daß
a priori keine bewußte gesellschaftliche Regelung der Produktion
stattfindet. Das Vernünftige und Naturnotwendige setzt sich nur als
blindwirkender Durchschnitt durch. Und dann glaubt der Vulgäre eine
große Entdeckung zu machen, wenn er der Enthüllung des inneren
Zusammenhangs gegenüber drauf pocht, daß die Sachen in der Erscheinung
anders aussehn. In der Tat, er pocht darauf, daß er an dem Schein
festhält und ihn als letztes nimmt. Wozu dann überhaupt eine
Wissenschaft?" (Marx, Karl-Engels, Friedrich, Briefe über das 'Kapital',
Berlin 1954, S. 184-186).
Das objektive Obsoletwerden des Wertes (siehe Robert Kurz: Die
Krise des Tauschwerts, in: MK, Nr.1) kann nicht mehr als historische Schranke
des Kapitals begriffen werden, sondern tritt als "Krise" der unbegriffenen
Marxschen Werttheorie in Erscheinung.
3. Politisch formuliert Lohmann seine Kritik an dem "Beitrag
Backhaus", der indeutlichem Kontrast zu den Beiträgen der genannten
Ökonomen
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steht, der also am originären Marx festhält. Auch hier zeigt
sich, daß Lohmann nicht weit über Bernstein hinauskommt, der
schon Hegel zum toten Hunde erklärte und meinte, was Marx und Engels
theoretisch erreichten, hätten sie nicht wegen, sondern trotz Hegel
erreicht.
"Ihm (Backhaus, d.V.) zufolge besteht der Gegenstand der Marxschen
Kritik der politischen Ökonomie in Nachweis und 'Ableitung' der 'Verrücktheit'
der ökonomischen Formen, d.h. der 'objektiven 'Irrationalität"
kapitalistischer Ökonomien. Diese Irrationalität veranlasse den
Theoretiker 'allenfalls zur Anstrengung, Nichtklares klar zu denken; nicht
aber kann das zum Kriterium der Sache selbst gemacht werden' (Adorno, zit.7),
und Backhaus fügt hinzu: 'schon gar nicht zu einem ökonomischen
Sinnkriterium'. Umgekehrt wird der Wirtschaftswissenschaft vorgeworfen,
daß sie 'die in den widersprechenden Bestimmungen der Dinge selbst
liegenden Schwierigkeiten gern als ... Widerstreit der definitions wegschwatzen
will' (Marx, zit. 7). Was folgt, ist ein Plädoyer für die Rekonstruktion
der Marxschen Formanalysen mit Hilfe der Hegelschen Dialektik.
Wollten die kritischen Okonomen diesem Forschungsprogramm folgen,
dann wäre der Preis, den sie zu zahlen hätten, sehr hoch: Denn
der Weg in den Hegelschen Sprachdschungel ist ein Weg ins marxphilologische
Ghetto. Es würde dann allenfalls zu jener resignativen Arroganz à
la Backhaus reichen, der der Fachökonomie pauschal die Wissenschaftlichkeit
abspricht und ihr 'Niveau' beklagt. Der Verzicht auf Klarheit der Formulierungen
und auf logische Widerspruchsfreiheit kann überhaupt nicht hingenommen
werden. Jede Rede von 'Widersprüchen', etwa von dem zwischen Gebrauchswert
und Wert, muß sich in Aussagen übersetzen lassen, die a) verständlich
und b) logisch konsistent sind. Würden kritische Ökonomen auf
diese Forderung verzichten, hätten sie zu Recht keine Chance, in der
wissenschaftlichen Offentlichkeit ernstgenommen zu werden." (S. 193-194).
Neben dem gänzlichen Unverständnis der dialektischen Methode
gegenüber - man könnte von einem Positivismus par excellence
sprechen - zeigt sich hier vor allem auch ein wichtiges Motiv der positiv
gewendeten "kritischen Okonomie": die Sorge um die wissenschaftliche Reputation
im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb.
Der "herrliche Sonnenaufgang" (Hegel) der Marxrezeption der Studentenbewegung
mit der Forderung nach der "Kritik bürgerlicher Wissenschaft" endet
so in der "ewigen Polarnacht" des universitären Akademismus, als splitterhafter
Bestandteil des bürgerlichen Wissenschaftspluralismus, d.h. als Methodenpluralismus
auf positivistischer Grundlage.
Der II.Teil wird sich mit der Arbeit von Dozekal = von der "Rekonstruktion"
der Marxschen Theorie zur "Krise des Marxismus" beschäftigen.