EXIT! Krise und
Kritik der Warengesellschaft
Heft 12, November 2014
Inhalt
EDITORIAL
Johannes
Bareuther
ZUM ANDROZENTRISMUS DER
NATURBEHERRSCHENDEN
VERNUNFT (TEIL 1)
Dämonische
und mechanische Natur
- Bockelmanns denkformanalytische Ableitung der Wissenschaftlichen
Revolution
- Strukturelle Spaltungen im Naturverhältnis
- Francis Bacon als Propagandist der naturbeherrschenden Vernunft
- Die Hexenverfolgungen als Gründungsverbrechen des
warenproduzierenden Patriarchats
und ihre Rolle bei der Etablierung der wissenschaftlichen
Rationalität
- Zusammenfassung und historischer Ausblick
Robert
Kurz
DER KAMPF UM
DIE
WAHRHEIT
Anmerkungen zum
postmodernen Relativismusgebot in der
gesellschaftskritischen Theorie - Ein Fragment
Wahrheitskonflikte
Von der Theoretisierung der
Politik zur Politisierung
der Theorie
An der Tagesordnung sind die
Taktik, die Kriegslist,
die Mimikry, die Camouflage.
Das
„antidogmatische“ Dogma der Postmoderne
Das Drehen der Schraube
Der historische Ort als
Kampfplatz der Ideen
Linguistic turn
Sprachtotalitarismus und Ding an
sich
Geschichte als Kampfplatz der
Ideen, Ideen als
Kampfmittel der Geschichte
Roswitha Scholz
FETISCH ALAAF!
Zur Dialektik
der Fetischismuskritik im heutigen Prozess des
„ Kollaps der Modernisierung“. Oder:
Wieviel Establishment kann radikale Gesellschaftskritik ertragen?
- Die „Neue
Marxlektüre“ – eine kurze Geschichte der
Fetischismuskritik seit 1965 und ihre
Vervielfältigung/Vermassung heute.
- Der „neue Geist des
Kapitalismus“, das „unternehmerische
Selbst“ und Fetischismuskritik
- Fetischismuskritik
und Wissenschaftsbetrieb
- Fetischismuskritik, Wahrheit und Inhalt
- Feminismus und
Fetischismuskritik
- Resümee:
Fetischismuskritik als Widerspruchsbearbeitung oder radikale Kritik?
Daniel Späth
FORM- UND
IDEOLOGIEKRITIK DER FRÜHEN HEGELSCHEN SYSTEME II:
DAS „SYSTEM DER SITTLICHKEIT“
I. Das
„Natursystem“
Nicht-Identität
im Zeitalter des objektiven Widerspruchs kapitalistischer
Fundamentalkrise
Transzendentalphilosophie“
und „Philosophie des Geistes“:
Hegels Kant-Kritik und
die
wechselseitige Subsumtionslogik des „Systems der
Sittlichkeit“
Die
sittliche Natur und das
Formprinzip des Geistes
Sittliche
Natur und die „abstrakte
Arbeit“ als „Arbeit des Begriffs“
Die
„Arbeit des Begriffs“ als
Formbewegung der Zirkulation
Natursystem
und positive
Dialektik: Die Hegelsche Dialektik als Identitätslogik
Roswitha Scholz
NACH POSTONE
Zur
Notwendigkeit einer Transformation der fundamentalen Wertkritik. Moishe Postone und
Robert Kurz im Vergleich – und
die Wert-Abspaltungskritik
Einleitung
Die
Grundargumentation von Postone
Methodologischer
Individualismus, Struktur –
Handlung u. ä.
Warenform
und Kapitalform
Geld
– Zirkulation – Kapitalform – Mehrwert
Verhältnis
von abstrakter und konkreter Arbeit
Abstrakte
Zeit, konkret historische Zeit, biographische Zeit, lebensweltliche
Zeit und
die konkrete Zeit des Zerfalls des Kapitalismus
Revolutionäres
Subjekt und Mittelstandsvergesellschaftung
Wert-Abspaltung,
fragmentierte Totalität und soziale Disparitäten:
Einige notwendig
unvollständige Bemerkungen zum Kontext der Wert-Abspaltung als
gesellschaftlichem Basiszusammenhang
REZENSIONEN
– GLOSSEN – KOMMENTARE
Gerd Bedszent: Ein
altes/neues Gespenst geht um
Gerd Bedszent: Hunger
Udo Winkel: Libido und
Gesellschaft
Udo Winkel: Wien, die Juden und
der Antisemitismus
Udo Winkel: Der 1. Weltkrieg
Gerd Bedszent: Die Ukraine –
Dualität von Nationalismus und
Staatszerfall
EDITORIAL
Die
mit dem Crash von 2008 manifest gewordene Krise ist längst
keine rein
ökonomische Krise mehr, wenn sie es denn jemals war. Der
Niedergang des durch
das Kapital konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisses
kann keines seiner
Subsysteme unberührt lassen, mögen die in ihrem
Rahmen Handelnden sich auch von
der gesellschaftlichen Totalität unabhängig
wähnen: Der bürgerliche Staat ist
ebenso in Auflösung begriffen wie die Politik und die
bürgerliche Rechtsform.
Es sieht so aus, als würde die Krise weltweit in ein
allgemeines Gemetzel
münden, auch wenn die kapitalistischen Zentren davon bisher
weitgehend
verschont geblieben sind. Diese Entwicklungstendenz wird inzwischen
auch von
der bürgerlichen Statistik erfasst und ist Gegenstand
amtlicher
Verlautbarungen:
Mehr Kriege und kriegerische
Konflikte
als im Jahr 2013 gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht. Das
Heidelberger
Institut für internationale Konfliktforschung zählt
in seinem Konflikt-Barometer weltweit 20
Kriege, 25 „begrenzte Kriege“ und darüber
hinaus 176 „gewaltsame Krisen“, also
heftige und mit Waffengewalt ausgetragene gesellschaftliche Konflikte.
Davon nicht
betroffen sind – von wenigen, kleineren Ausnahmen abgesehen
– nur die
kapitalistischen Kernstaaten: Europa (ohne Russland), Nordamerika,
Australien
und Japan.
Noch labiler stellt sich die
Lage im Failed State
Index dar, also der Liste der Staaten,
die ihre Basisfunktionen
nicht oder nicht mehr in vollem Umfang wahrzunehmen in der Lage sind.
Als voll
funktionsfähig sind hier nur noch Nordeuropa, Kanada und
Australien erfasst,
als weitgehend stabil immerhin noch die übrigen
kapitalistischen Kernstaaten,
während alle anderen bereits als gescheitert oder
gefährdet gelten. Nun lässt
sich, wie immer bei empirischen Erhebungen dieser Art, über
die ihnen zugrunde
liegende Methodik mit Sicherheit streiten, und unbesehen ist davon
auszugehen,
dass diese Studien auch fragwürdige Teilergebnisse enthalten.
Die Tendenz ist
jedoch klar: Zwar ist die Krise von den kapitalistischen Zentren
ausgegangen,
ihre Folgen aber haben zuallererst diejenigen zu
tragen, zu deren Lasten
die kapitalistische Entwicklung schon immer ging.
Das zeigen auch die immer
stärker
anschwellenden Flüchtlingsströme. Nach einem Bericht der
UN-Flüchtlingsagentur UNHCR waren noch nie seit dem Ende
des
Zweiten Weltkriegs so viele Menschen auf der Flucht wie im Jahr 2013,
nämlich
über 51 Millionen, 6 Millionen mehr als im Vorjahr. Die
Mehrheit von ihnen ist
minderjährig, und die Mehrheit ist weiblich. Die erwachsenen
Männer, so ließe
sich schlussfolgern, sind im Krieg oder bereits tot. Zwei Drittel der
Flüchtlinge sind Binnenflüchtlinge, die vor
Bürgerkriegen in andere Teile ihrer
zerfallenden Staaten flohen, ein Drittel musste sein Geburtsland
verlassen. Sie
landen dann zu 86 Prozent in anderen Staaten der kapitalistischen
Peripherie,
die ihrerseits von Auflösungsprozessen und zunehmenden
bürgerkriegsähnlichen
Auseinandersetzungen gekennzeichnet sind, so dass nicht zu erwarten
ist, das
sie auf Dauer dort bleiben können. „Diesen
verzweifelten, ausgestoßenen
Menschenmassen eines in Agonie befindlichen kapitalistischen
Weltsystems wird
gar keine andere Option bleiben als die Flucht in die wenigen Zentren,
die noch
nicht in Anomie versinken. Das global anschwellende
Flüchtlingselend stellt das
Endprodukt der Weltkrise des Kapitals dar, das – an seinen
inneren und äußeren
Widersprüchen kollabierend – eine
buchstäblich überflüssige Menschheit
produziert.“ (Tomasz
Konicz: Im
Weltbürgerkrieg)
Obwohl die kapitalistischen
Kernländer
bisher nur einen geringen Teil der Flüchtlinge bei sich
aufgenommen haben, ist
ihre Antwort auf die sich hier abzeichnende
„Bedrohung“ eindeutig: So wie
innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften die wenigen Reichen sich
zunehmend, von privatem Wachpersonal geschützt, in ihren
Ghettos einbunkern, so
verschärfen die wenigen vergleichsweise reichen
Länder die
Zuwanderungsbestimmungen und setzen diese, wo nötig, gewaltsam
durch: In
Nordamerika durch den an der Grenze zwischen Mexiko und USA errichteten
„Eisernen Vorhang“, in der EU durch die
dafür eigens geschaffene
Grenzschutzagentur Frontex, die illegale Flüchtlinge jetzt
schon im Mittelmeer
aufgreifen soll, mit dem zynischen Argument, sie dadurch vor dem
Ertrinken zu
bewahren. Dieser Versuch einer Abschottung kann aber auf Dauer wohl
ebenso
wenig gelingen wie der inzwischen als gescheitert anzusehende Versuch,
die
„neue Weltordnung“ mit militärischen
Mitteln durchzusetzen.
Angesichts
der hier zum Ausdruck kommenden Verteilung der Krisenfolgen ist es
schon mehr
als abenteuerlich, die Krise nicht als Welt(wirtschafts)krise, sondern
nur als
Krise des „traditionellen Kapitalismus in den USA, Europa und
Japan“ zu deuten,
wie es Rainer Trampert in Konkret 07/14 tut.
Dagegen habe sich „die
halbe Welt auf den Weg der kolossalsten Industrialisierung aller Zeiten
begeben“. Letztlich bleibe nur Europa als
„Krisengebiet des Weltkapitalismus“
übrig. Die USA dagegen saniere sich demnächst durch
die mit „Fracking“
verbundene Halbierung der Energiekosten und eine militärische
Auszeit, während
ein Teil der übrigen Welt einen Anstieg der Warenproduktion
entfacht habe, „der
den Containerumschlag in zwölf Jahren auf 600 Millionen
Stück im Jahr
verdreifachte“. Den „Endzeittheoretikern“
eines globalen Niedergangs ruft er in
diesem Zusammenhang zu, „der Realität eine Chance zu
geben“. Womit wohl alles
gesagt ist.
JustIn Monday hat in seiner
Erwiderung
auf Trampert in Konkret 08/14 zurecht betont, dass
die Krise den
ökonomischen Gesamtzusammenhang betrifft. Das scheint etwas zu
sein, was
Trampert nicht denken will oder kann. Für ihn gibt es nur ein
System
miteinander konkurrierender Nationalökonomien, aber keine
alles umfassende
Totalität des Weltmarkts. Bei einer solchen Sichtweise ist
allerdings von
vornherein klar, dass es immer nur (relative) Gewinner und Verlierer
geben
kann, aber keinen allgemeinen Niedergang.
Eine weitere und entscheidende
Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit einer Kapitalismuskritik
à la
Trampert liegt darin, dass diese den Unterschied zwischen
Gebrauchswert, Wert
und Preis ignoriert oder gar nicht kennt und daher – ebenso
wie die akademische
Volkswirtschaftslehre – den Oberflächenerscheinungen
der kapitalistischen
Produktionsweise aufsitzen muss. Wer dagegen mit Marx auf der Bedeutung
nichtempirischer Größen wie der
gesamtgesellschaftlichen Wert- und
Mehrwertmasse zur Beurteilung der Entwicklung des Kapitalismus beharrt,
wird
der „Esoterik“ geziehen. Das hat inzwischen eine
mehr als zwanzigjährige
Tradition.1
Zueinander kommen werden wir wohl nicht mehr. Deshalb bleibt hier nur
übrig,
die Differenz, die uns wichtig ist, an einigen Beispielen deutlich zu
machen:
Was besagt etwa die
Verdreifachung des
Containerumschlags in zwölf Jahren? Eigentlich nur, dass die
Handelsströme
entsprechend gewachsen sind. Das aber ist nicht verwunderlich, wenn die
Industrieproduktion in Billiglohnländer verlagert wird, der
Konsum der nunmehr
dort produzierten Waren aber weiterhin vorwiegend in den
kapitalistischen
Kernländern stattfindet. Für die
Gesamtgröße der Warenproduktion lassen sich
daraus keine Schlüsse ziehen. Hinzu kommt, dass hier in
Gebrauchswerten
gerechnet wird, die für das Kapital aber nur als
Träger von Wert und Mehrwert
von Interesse sind (diese Feststellung gilt vermutlich bereits als
„Esoterik“).
Ob der mit den produzierten und in Containern verschifften Waren
erzielte
Mehrwert gestiegen oder gefallen ist, bleibt aber völlig
außerhalb Tramperts
Betrachtung. Dazu bedürfte es einer Theorie, auf die er sich
nicht einlassen
will.
An anderer Stelle stellt
Trampert fest,
dass die jährlich Wirtschaftsleistung der BRD von 2000 bis
2010 nur noch um 0,9
Prozent stieg. „Gleichzeitig schoß der Kapitalwert
in astronomische Höhen.“
Daraus schließt er auf einen „hohen Grad der
Kapitalbildung“. Was tatsächlich
in dieser Zeit in astronomische Höhen schoss, waren die
Aktienkurse. Offenbar
liegt hier eine Verwechslung von Wert und Preis vor. Das brachliegende,
mangels
realem Wirtschaftswachstum nicht verwertbare Kapital drängt in
die Aktien- und
Immobilienmärkte und treibt dort die Preise hoch (asset
inflation),
nicht aber seinen Wert. Diese Blasenbildung durch Spekulation ist eine
Folge
fehlender realer Anlagemöglichkeiten und damit, so Marx, eine
Krisenerscheinung. Trampert scheint sie dagegen als Indiz für
die Fitness der
kapitalistischen Produktionsweise zu deuten.
Dass die Industrieproduktion in
den
letzten Jahrzehnten von den kapitalistischen Kernländern
– Deutschland ist, was
die damit verbundenen Deindustrialisierungsprozesse betrifft, fast die einzige Ausnahme
– in Teile der
Peripherie verlagert wurde, ist unbestritten. Robert Kurz hat diesen
Prozess in
seinem Buch „Das Weltkapital“ als Bestandteil der
betriebswirtschaftlichen
Globalisierung analysiert.2
Aber was folgt daraus? Das Problem liegt aus Sicht einer wertkritischen
Analyse
nicht – wie es Trampert unterstellt – darin, dass
die Industrieanlagen „auf
Pump“ gebaut wurden, das werden seit langer Zeit alle, darin
hat er Recht. Das
Problem des Weltkapitals ist vielmehr, dass sich die damit erreichte
Situation
nur durch Defizitkreisläufe, also letztlich einen
kreditfinanzierten Warenfluss
von der Peripherie in die Kernländer aufrecht erhalten
lässt, was auf Dauer
nicht möglich sein wird. Die Länder der Peripherie
sind nur aufgrund ihrer
Hungerlöhne konkurrenzfähig, was Trampert auch
irgendwie zu wissen scheint,
wenn er ihren Vorteil gegenüber den Kernländern darin
ausmacht, dass diese
„demokratisch verfaßt und mit leidlichen
Sozialsystemen ausgestattet“ sind. Der
„neue Kapitalismus“ bleibt damit aber auf den
Export in die Länder des
„traditionellen Kapitalismus“ angewiesen. Jeder
Versuch, ihn durch eine erhöhte
Binnennachfrage zu ersetzen, würde sofort die
Konkurrenzfähigkeit auf dem
Weltmarkt untergraben.
In China übrigens, das
nach dem Crash
von 2008 ein Konjunkturprogramm nach dem anderen aufgelegt hat, um
seine
Wachstumsraten zu halten, und dazu kreditfinanziert ganze
Geisterstädte aus dem
Boden gestampft hat, scheint das Ende der Fahnenstange inzwischen
erreicht. Im
Juli 2014 ist das Volumen der vergebenen Kredite drastisch
eingebrochen, und
die Auguren sehen inzwischen einen Crash voraus, der mit dem von 2008
vergleichbar ist. Der muss nicht kurzfristig eintreten, aber dieser
Vorgang
zeigt doch, wie wackelig das Kartenhaus ist, das den „neuen
Kapitalismus“
tragen soll.
Gegenüber
den zahlreichen und vielfältigen Krisenerscheinungen sind
nicht alle so
resistent wie Rainer Trampert. Die zunehmenden Staatsbankrotte und
Austeritätsprogramme, die damit verbundenen
Legitimationsprobleme des
kapitalistisch-demokratischen Systems, soziale Unruhen, das Aufkommen
rechter
Parteien und islamistischer Fundamentalismen,
Bürgerkriegsszenarien und die
Zunahme auch zwischenstaatlicher bewaffneter Konflikte haben in der
Linken eine
Transformationsdebatte ausgelöst. Obwohl in Merkel-Deutschland
noch trügerische
Ruhe herrscht, geht neuerdings vielen die Rede vom Verfall des
Kapitalismus
leicht über die Lippen, selbst wenn sie nicht sagen
können, was da eigentlich
grundsätzlich schief läuft. Es wird nach neuen
Lösungen gesucht und die „Systemfrage“
gestellt, die dann allerdings regelmäßig mit
altlinken Rezepten beantwortet
wird: Wirtschaftsdemokratie, keynesianische Maßnahmen,
solidarische Ökonomie,
Commons u. ä.
Die hierin zum Ausdruck kommende
Verkürzung der Kapitalismuskritik liegt – etwas
pauschal gesagt – darin, dass
das Kapital nicht als übergreifendes gesellschaftliches
Verhältnis begriffen
wird, sondern als ein Subsystem unter mehreren (die
„Wirtschaft“), das
irgendwie übergriffig geworden ist
(„Raubtierkapitalismus“) und das es deswegen
wieder einzufangen und zu zähmen gilt. Dass das jeweils eigene
Subsystem
(Politik, Parteien, Gewerkschaften, Wissenschaftsbetrieb usw.) genauso
zum
Kapitalismus gehört und daher Teil des Problems und nicht etwa
seiner Lösung
ist, will dann nicht in den Kopf.
Das führt dazu, dass
die kritischen
Analysen und Lösungsvorschläge unbemerkt in die je
eigenen Strukturen
zurückgebogen werden: So lässt sich beispielsweise
mit Kapitalismuskritik
neuerdings wieder wissenschaftliche Karriere machen, allerdings sind
dazu die
im Wissenschaftsbetrieb herrschenden Regeln einzuhalten. Insbesondere
die
Wissenschaft selbst darf nicht infrage gestellt werden, womit freilich
ein
umfassender Ansatz von vornherein verbaut ist. Entsprechend laufen die
innerhalb des politischen Subsystems diskutierten Konzepte immer nur
darauf
hinaus, das „Primat der Politik“ gegenüber
der Ökonomie wiederherzustellen.
Dass die Politikform selber mit dem Kapitalismus zu überwinden
ist, kann gar
nicht gedacht werden.
Völlig
außerhalb der Wahrnehmung bleibt
schließlich, in welchem Maße die Individuen qua
bürgerlicher Subjektform von
der Gesellschaft, der sie angehören, affiziert sind. Der
Kapitalismus gilt als
ihnen äußerlich, so als könne er
abgeschafft werden, während seine Geld- und
Warensubjekte bleiben dürfen, wie sie sind. Daraus resultieren
Konzepte, die
die angestrebte Transformation zu einem Automatismus werden lassen.
Ihnen
zufolge gilt etwa die Entwicklung der Produktivkräfte und das
mit ihnen
verbundene Verschwinden der Arbeit aus der Produktion bereits als
ausreichend
für einen quasi von selbst sich vollziehenden
Übergang in die neue
Gesellschaft;3
oder aber es
wird –
das ist die bekannte
traditionelle Variante –, angenommen, die objektiven
Widersprüche des
Kapitalismus und das Leiden der Menschen unter den gesellschaftlichen
Verhältnissen müssten notwendig zu
revolutionärem Bewusstsein führen. Dabei
wird hoffnungsfroh übersehen, dass die real existierenden
Individuen
mehrheitlich anders auf ihr Überflüssigwerden
reagieren, nämlich mit reaktionären
Ideologiebildungen, der Organisation insbesondere der
männlichen
Konkurrenzsubjekte in mafiösen oder faschistoiden Rackets
– zu denen
mancherorts und nicht nur in der Peripherie auch die Polizei
zählt – und dem
Umschlagen des bisher noch durch die Rechtsform im Zaum gehaltenen
bürgerlichen
Krieges aller gegen alle in nackte Gewalt.
Da die Überwindung des
Kapitalismus
kein objektiver Prozess ist, sondern vielmehr „handelnden
Menschen aufgegeben“
(Robert Kurz), wird sich die Frage, welchen Ausgang der Verfall der
bürgerlichen Gesellschaft nimmt, letztlich daran entscheiden,
ob und wie weit
es den Individuen gelingt, sich ihrer Zurichtung als Waren- und
Geldsubjekte zu
entledigen. Für die Wert-Abspaltungs-Kritik bedeutet das, dass
wir uns noch stärker
als bisher den Verwüstungen zuwenden müssen, die die
bürgerliche Gesellschaft
im Innern ihrer Mitglieder anrichtet. Gerade die mit der
Aufklärung vollzogene
Ersetzung äußerer Zwänge durch in den
Individuen verankerte Zwangsprinzipien
ist es, die den Ausgang aus dem „stahlharten
Gehäuse“ (Max Weber) des
Kapitalismus für die in ihm Eingeschlossenen so schwierig
macht.
So
liegt denn auch der Schwerpunkt dieses Heftes auf der Kritik der
„subjektiven
Seite“ der bürgerlichen Gesellschaft und den im Zuge
ihres Niedergangs
auftretenden ideologischen Verwerfungen.
Während im 17.
Jahrhundert von Figuren
wie Francis Bacon, Galilei und Descartes die Programmatik und die
ersten
Ausführungen einer neuen gesetzesförmigen
Naturerkenntnis und der ihr
entsprechenden mechanistischen Philosophie formuliert wurden,
erreichten in
Europa die patriarchalen Gräueltaten der Hexenverfolgungen
ihren Höhepunkt.
Dieser frappierenden historischen Koinzidenz nachgehend, entwickelt Johannes Bareuther Überlegungen
ZUM
ANDROZENTISMUS DER NATURBEHERRSCHENDEN VERNUNFT. Es erweist sich dabei,
dass
sich die mechanische Naturwissenschaft zwar wesentlich der sich
zeitgleich
durchsetzenden Wertvergesellschatung verdankt, wie bereits Eske
Bockelmann
nachgewiesen hat. Darüber hinaus lassen sich jedoch Spuren des
Gründungsverbrechens des warenproduzierenden Patriarchats, der
„ursprünglichen
geschlechtlichen Abspaltung“ gewissermaßen, auch in
den Kategorien und Bildern
der neuen Naturauffassung aufzeigen. Sie werden im Verlauf des Textes
in einen
spekulativen Zusammenhang mit der Dialektik von innerer und
äußerer
Naturbeherrschung und der entsprechenden Dynamik des
männlich-bürgerlichen
Subjekts gebracht, wodurch die geschlechtliche Abspaltung als
konstitutive
Voraussetzung der neuzeitlichen Naturwissenschaft erkennbar wird.
Das Fragment „DER
KAMPF UM DIE
WAHRHEIT“ aus dem Nachlass von Robert Kurz
richtet sich gegen das
postmoderne Relativismusgebot in der gesellschaftskritischen Theorie.
Dieses
Gebot wird als Resultat einer transitorischen Ungewissheit am Ende der
bürgerlichen Epoche identifiziert, in der sich auch das Feld
der mit Marxschen
Ideen legitimierten Kapitalismuskritik für
Außenstehende oft als eine Art
Irrgarten darstellt. Die postmoderne Antwort auf diese Situation
besteht nun
darin, den „Verlust aller Gewissheiten“ nicht etwa
als problematisch zu
erleben, sondern zum Dogma zu erheben, zur neuen Heilsgewissheit, deren
Glücksversprechen darin besteht, sich auf nichts mehr
festlegen zu müssen und
alles offen zu lassen. Desto schärfer wird von diesem Dogma
jede bestimmte
Position kritisiert, die nicht auch ihr Gegenteil immer schon
anerkennt. Diese
Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit kann allerdings nicht auf Dauer
durchgehalten werden, weil die Schwerkraft der
Krisenverhältnisse selbst zu
einer Festlegung zwingt. Weil das postmoderne Denken sich einer neuen
inhaltlichen Klarheit oder Eindeutigkeit verweigert und ausgerechnet
darin das
Neue überhaupt sehen will, ruft es nur das in ihm schlummernde
Potential der
Barbarei ab, indem es von seiner eigenen begründungslosen
Entscheidung
überrumpelt wird.
In ihrem Artikel:
„FETISCH ALAAF! Zur
Dialektik der Fetischismus-Kritik im heutigen Prozess des
‚Kollaps der
Modernisierung‘. Oder: Wieviel Establisment kann radikale
Gesellschaftskritik
ertragen?“ geht Roswitha Scholz der Frage
nach, inwieweit
Fetischismus-Kritik im kollabierenden Kapitalismus
heute nicht selbst einen Hintergrund von Krisenideologie
bildet.
War Fetischismus-Kritik einstmals bestimmt von Hinterzimmer-Existenzen,
so gibt
es sie heute in verschiedensten Farben
und Formen. Sie ist nicht bloß in den linken Diskurs
eingesickert, sondern
beschäftigt selbst bürgerliche Kreise. Dabei
gerät sie immer mehr in die
Gefahr, Bestandteil der Krisenverwaltung und eines neuen
Entrepreneurships
(Unternehmertum) zu werden. Die Fetisch-KritikerIn bewegt sich
längst in einem
neuen opportunistischen Netzwerkkontext im Abstieg des Kapitalismus,
was sie im
Grunde auch weiß. Stattdessen ginge es darum, Distanz zur
eigenen
Theoriegeschichte zu gewinnen, auf einer Dialektik der Fetischkritik zu
bestehen und kompromisslos in der Einsicht eines notwendigen
„kategorialen bzw.
ontologischen Bruchs“ (Robert Kurz) weiterhin auch
„abgehoben“ zu
intervenieren. Einfachen Lösungen im Sinne einer
heruntergebrochenen Wert-Abspaltungskritik
sowohl im Kontext wissenschaftlicher Verarbeitung als auch in Form von
praktischen Pseudo-Konzepten gilt es somit mit Misstrauen zu begegnen.
Im zweiten Teil seiner
„FORM- UND
IDEOLOGIEKRITIK DER FRÜHEN HEGELSCHEN SYSTEME“
zeichnet Daniel Späth das
„System der Sittlichkeit“ nach, in dem Hegel
ausführlich Zeugnis über sein
Verständnis von Dialektik abgibt. Der vorliegende Text
beschäftigt sich mit dem
ersten System dieser Hegelschen Schrift, dem
„Natursystem“. Anschließend an das
Verhältnis von Anschauung und Begriff, wie es von Kant in
seiner
„Transzendentalphilosophie“ entwickelt wurde, geht
es in ihm darum, die
epistemologischen Gemeinsamkeiten von Kant und Hegel herauszuarbeiten,
um
sowohl die „Transzendentalphilosophie“ als auch die
„Philosophie des Geistes“
hinsichtlich des kategorialen Bruchs zwischen Subjektphilosophie und
Fetischkritik, positiver und negativer Dialektik einzuordnen. Vor
diesem
Hintergrund ermöglicht sich sodann eine ausführliche
Reflexion der Hegelschen
Dialektik, die nicht zuletzt auf ihren gesellschaftlichen Bezugspunkt
untersucht wird, wodurch bereits in diesem ersten Teil die kategoriale
Befangenheit Hegels in einer identitätslogischen
Subjektphilosophie deutlich
wird.
In dem Text „NACH
POSTONE. Zur
Notwendigkeit der Transformation einer ‚fundamentalen
Wertkritik‘. Moishe
Postone und Robert Kurz im Vergleich – und die
Wert-Abspaltungskritik“, legt Roswitha
Scholz das Augenmerk auf die Unterschiede zwischen Kurz und
Postone unter
dem Gesichtspunkt des (von Kurz inkriminierten)
„methodologischen
Individualismus“. Formelhaft ausgedrückt
verhält es sich so: Während Kurz
darauf pocht, das „Kapital“ als Ganzes zu lesen und
erst danach die Warenform
in den Blick nimmt, wobei dem dritten Band des
„Kapital“ gerade für den realkategorischen
Prozess eines heute auch empirisch beobachtbaren
Zusammenbruchs/Verfalls des
Kapitalismus Bedeutung zukommt, setzt Postone an den ersten 150 Seiten
des
Kapitals an und entwickelt hieraus den Gang des Kapitalismus, ohne
krisentheoretische Konsequenzen. Postone rekurriert
grundsätzlich auf die
Warenform, Kurz auf die Kapitalform. Postone verficht dabei implizit
einen
Standpunkt, der ideologisch tendenziell mittelschichtsgefällig
ist, nicht
zuletzt, weil er vor allem die Ökologie in den Vordergrund
rückt, während Kurz,
durchaus der ökologischen Frage gewahr,
Mittelschichtsinteressen gleichzeitig
als Ideologie entlarvt; bei Postone existiert eine „innere
Schranke“ im Grunde
bloß auf der Ebene der Ökologie, nicht aber der
Ökonomie. Postone und Kurz (zumindest
in seinem letzten Buch „Geld ohne Wert“) bewegen
sich dabei beide auf der Ebene
des Kapitals als Gesamtprozess. Die Ebene einer negativ dialektisch
verstandenen „Abspaltung des Weiblichen“
vom (Mehr-)Wert kommt bei beiden nicht bzw. bloß
nebensächlich vor. Aus
der Sicht der Wert-Abspaltungskritik müssten jedoch die
verschiedenen Ebenen,
die materielle, die kulturell-symbolische und – last, but not
least – die
psychoanalytische Ebene in ihrer dialektischen Verschränktheit
und damit
gleichzeitigen Geschiedenheit in ihrer
prozesshaften Entwicklung
zueinander in Beziehung gesetzt werden. Nur so ließe sich die
negative
Totalität, jenseits eines androzentrischen methodologischen
Individualismus,
wie auch ein androzentrischer Universalismus überwinden, der
überhaupt den
krisenhaften Zerfall des kapitalistischen Patriarchats erst wesentlich
ausmacht.
Die abschließende
Rubrik REZENSIONEN –
GLOSSEN – KOMMENTARE enthält sechs
Beiträge. Im ersten kommentiert Gerd
Bedszent unter der Überschrift „Ein altes/neues
Gespenst geht um“ die Herausgabe des
„Kommunistischen Manifests“ als Hörbuch,
gelesen vom Schauspieler Rolf Becker, dessen Lesung am 3. März
2013
Beifallsstürme hervorgerufen hatte. Ebenfalls Gerd
Bedszent setzt sich
dann im Beitrag „Hunger“ kritisch mit den
Verdiensten und Defiziten von Jean
Ziegler und seinem Buch „Wir lassen sie verhungern. Die
Massenvernichtung in
der dritten Welt“ auseinander. Udo Winkel
kommentiert in „Libido und
Gesellschaft“ die Neuherausgabe der gleichnamigen Schrift von
Helmut Dahmer, in
„Wien, die Juden und der Antisemitismus“ die zum
90. Geburtstag von Egon
Schwarz erschienenen Essays zum Fin de siècle und in
„Der 1. Weltkrieg“ die
zahlreichen im Jubiläumsjahr 2014 erschienenen Bücher
zu diesem Thema. Die
Rubrik schließt mit dem längeren, Anfang September
2014 fertiggestellten
Beitrag „Die Ukraine – Dualität von
Nationalismus und Staatszerfall“ von Gerd
Bedszent, der auf die historische Genese des dort
ausgebrochenen
Bürgerkriegs eingeht und damit eine adäquatere
Deutung des sogenannten
„Russland-Ukraine-Konflikts“ ermöglicht,
als sie in der Konfrontation von
westlichen Mainstream-Medien auf der einen und Teilen der Linken auf
der
anderen Seite verbreitet wird.
Im
Oktober 2014 erscheint das Buch unseres Autors Gerd
Bedszent: Zusammenbruch der Peripherie. Gescheiterte
Staaten als Tummelplatz von Drogenbaronen, Warlords und
Weltordnungskriegern im
Horlemann-Verlag.
Die Redaktion und Elmar
Flatschart
haben sich auf Grund inhaltlicher und organisatorischer Differenzen
einvernehmlich auf sein Ausscheiden aus dem Redaktionsteam geeinigt. Er
wird
dem Projekt EXIT auf der Basis inhaltlicher Zusammenarbeit aber bis auf
Weiteres verbunden bleiben.
Wir danken auch diesmal Angela
Aey
für ihre engagierte Arbeit am Layout des Heftes.
Claus Peter
Ortlieb für die Redaktion, im September 2014
1 Vgl. Thomas Ebermann / Rainer Trampert: Über
die Sanierung des Kapitalismus, die Verwandlung linker Theorie in
Esoterik,
Bocksgesänge und Zivilgesellschaft,
Konkret-Literatur-Verlag, Hamburg 1995;
zu den in drei Konkret-Heften 1995
veröffentlichten Auszügen aus dem
Buch hat Robert Kurz in zwei Texten Stellung bezogen: Fordistische
Fossile
in Konkret 04/95, Altdeutsche Radikalität
in Konkret 07/95; ein
weiterer Text Abschied von der Realität in
Konkret 02/97 geht auf
die von Ebermann/Trampert verbreitete Vorstellung ein, bei der
Globalisierung
handele es sich um eine Erfindung interessierter Kreise.
Während früher die
Möglichkeit einer fundamentalen Krise völlig
geleugnet wurde, reduziert
Trampert sie jetzt in einer Art negativem Eurozentrismus auf Europa.
Das ist
doch immerhin ein Fortschritt.
2 Vorher bereits in der o. g. Replik auf
Ebermann/Trampert in Konkret 02/97
3 Derartige Konzepte finden sich
beispielsweise im Umfeld der „Piratenpartei“, siehe
etwa Ludger Eversmann: Projekt
Post-Kapitalismus: Blueprint für die nächste
Gesellschaft, Telepolis-Ebook,
Heise-Verlag, Hannover 2014