Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine Replik auf eine Debatte zum Charakter der gegenwärtigen Krise, die am 6. und 7. August 2013 in „neues deutschland“ zwischen Funktionären von „Die Linke“ stattfand, siehe
www.neues-deutschland.de/artikel/829420.vor-dem-epochenbruch.html und
www.neues-deutschland.de/artikel/829560.html

Das Angebot zur Veröffentlichung auch dieser Replik an gleicher Stelle war der Redaktion von „neues deutschland“ noch nicht einmal eine negative Antwort wert.

Elmar Flatschart

Am Ende wird Altbekanntes nicht reichen

Oder: Um uns aus dem Elend zu erlösen, müssen wir zuerst verstehen, wie es beschaffen ist.

Einer der erfreulichen Effekte der sogenannten „Finanzkrise“ und ihrer politischen Konsequenzen ist es, dass bisweilen neuer Raum für Debatten entsteht, wo früher bestenfalls verschlossene Türen vorzufinden waren. Gewisse Fragenkomplexe, die in etablierten linken Kreisen ehedem kaum diskutiert wurden bzw. werden konnten, schaffen nun ihren Weg in die öffentliche Auseinandersetzung. Dass dies alles andere als einfach ist beweist der krisentheoretische Beitrag von Manfred Sohn. Er ist mutig angesichts einer gewissen hegemonialen Ausrichtung der deutschsprachigen linken Diskurse, die krisentheoretischer Intervention allzu oft mehr als nur Kritik entgegenbringt. Ob polemisch oder nicht – die Kritiken an radikalen krisentheoretischen Auseinandersetzungen können nicht nur auf einen breiten politischen Konsens bauen, sie tun dies meist auch in einer sehr eindeutigen, oft an Arroganz grenzenden Art und Weise. Dass dabei der inhaltliche Austausch auf der Strecke bleibt, beweist leider auch die an Sohn gerichtete Replik von Alban Werner.

Werners Kritik beginnt mit einem Zugeständnis – die Frage nach dem „Stadium des Kapitalismus“ wäre eine wichtige, die zu diskutieren ist. Genau darum sollte es tatsächlich gehen – unabhängig vom Ergebnis bedürfte es umfassenderer gesellschaftstheoretischer Debatten, die sich jener Frage sachlich widmen. Sachlich heißt nun aber, die Sache selbst überhaupt in Betracht zu ziehen und zugleich in der Kritik auch wirkliche auf sie einzugehen. Beides ist bei Werner – wie vielen Kritiker_innen der Krisentheorie – offensichtlich nicht gegeben.

Gleich zu Beginn wird klar gemacht, dass nicht nur den Autor, sondern auch „viele in der Partei“ derartiges „nicht überzeugt“. Mit dieser Flankierung versehen geht die kritische Auseinandersetzung jedoch nur vermeintlich in medias res, denn bereits die Frontalattacke bleibt hinsichtlich der gebotenen Argumente unklar bis bodenlos. Ohne tatsächlich auf die krisentheoretischen „Versatzstücke“ einzugehen, wird die Beweisführung auf das Theorem des tendenziellen Falls der Profitrate – welches wohl für die meisten Marxist_innen zumindest noch „altbekannt“ ist – verlagert. Dass sich Sohn auf die maßgeblich von Robert Kurz entwickelte Krisentheorie bezieht, die nicht auf dem tendenziellen Fall der Profitrate, sondern dem säkularen Abschmelzen der Wertmasse basiert, interessiert hier bereits nicht. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass das Konzept der „inneren Schranke“ nicht als Ausdruck ein und desselben krisentheoretischen Korpus verhandelt wird, sondern relativ vulgär die „ungeheure Anpassungsfähigkeit“ des Kapitalismus dagegen ins Feld führt. Dies ist aber erneut kein adäquates Argument, denn wer die krisentheoretischen Überlegungen teilt, muss nicht zwangsläufig die Anpassungsfähigkeit und Dynamik des Kapitalismus bestreiten. Die Kapitalbewegung kann und wird in ihrer betriebswirtschaftlichen Binnenlogik einer „kreativen Zerstörung“ (Schumpeter) so innovativ sein, wie noch nie – trotzdem kann sich das System als Ganzes an den Abgrund bewegen. Das sind schlicht zwei Paar Schuhe und gänzlich unterschiedliche gesellschaftstheoretische Abstraktionsebenen. Aber erneut zählt ohnehin nicht die Sache, vielmehr wird Sohn vorgeworfen, dass er ungenügende „empirische und theoretische Untermauerung“ liefere. Der Vorwurf fehlender Untermauerung an einen relativ kurzen Debattenbeitrag gerichtet erscheint reichlich deplatziert – v.a. dann, wenn eine Quelle genannt wird, die eben jene Untermauerung durchaus umfassender liefert.

Keine „industrielle Revolution“ in Sicht

Abgesehen davon ist die krisentheoretische Argumentation aber eigentlich bereits auf einer abstrakteren, formtheoretischen Ebene angesiedelt, die der stofflichen vorgelagert ist. Das Argument bei Kurz und anderen ist nicht (primär) ein ökologischer Engpass bzw. dessen Konsequenzen für die kapitalistische Verwertungsmöglichkeit; vielmehr wird die These entwickelt, dass die Form, in welcher der stoffliche Bezug hergestellt wird, selbst in die Krise gerät. Arbeit als Wertsubstanz, die sich in der unmittelbaren Verbrennung von menschlicher Energie –„Herz, Muskel, Hirn“ – im Kontext eines realen Naturverhältnisses in der Warenproduktion artikuliert, wird zusehends obsolet. Wohlgemerkt nicht im landläufigen Verständnis des „Tätig Seins“ schlechthin, sondern im Marxschen Sinne der abstrakten Arbeit, d.h. der spezifischen Tätigkeitsform, in der im Kapitalismus die soziale Synthesis hergestellt wird. Die These ist also um vieles komplexer als in der Kritik verhandelt – finale Krise heißt auch bei Kurz nicht, dass in einem großen Kladderadatsch alles plötzlich zusammenbricht, sondern meint vielmehr, dass eine progressive Entwicklung der soziale Synthesis stiftenden Vergesellschaftungsweise auf Basis ihrer eigenen Grundlage nicht mehr möglich ist.

Die Ausführungen Sohns zur Frage der Finanzmarktpolitik lese ich ausgehend von diesen Prämissen nicht als Dechiffrierung eines „Täuschungsmanövers“, sondern als kausale Einordnung des jahrzehntelangen Trends umfangreicher Verschiebungen hin zum Finanzsektor: die krisenhafte Entwicklung des Kapitals hat die Flucht in die Finanzmärkte, nebenbei auch die sogenannte „neoliberale Transformation“ , nicht nur möglich, sondern systemisch notwendig gemacht. Gerade die immense Bedeutung des fiktiven Kapitals zeugt also davon, dass das Ende der Fahnenstange allmählich erreicht ist: Die schubhaften Kriseneruptionen auf den Finanzmärkten sind Ausdruck der zunehmenden Unmöglichkeit, auf Basis der immer fiktiver werdenden sozialen Verhältnisse die aktuell herrschende Reichtumsform weiter aufrecht zu halten. Es gibt am Stand der Produktivkräfte also tatsächlich keinen Weg zurück hinter das fiktive Kapital – gerade dieses Faktum demarkiert jedoch die innere Schranke der kapitalistischen Prozesslogik.

Veraltete Rezeptlösungen lieber entsorgen

Das alles gilt auch außerhalb Europas

Dies gilt mutatis mutandis auch für den „informellen Bereich“, die Reproduktionstätigkeiten und die klassisch weibliche Sphäre von Care und Familie. Global betrachtet ist die Subsumption unter astreine kapitalistische Verhältnisse nämlich stets auch relativ zum Stand der Entwicklung des Gesamtaggregats zu betrachten. Hier ist allerdings auch Manfred Sohns emphatische Bezugnahme auf den vage definierten „Reproduktionsbereich“ zu kritisieren – letzterer kann nicht als frei von systemischen Zwängen oder gar Hort der Emanzipation verstanden werden, sondern ist die „dunkle Kehrseite“ (Roswitha Scholz) des Werts, repräsentiert seine notwendige informelle Seite. Diese ist aber von vorne herein (patriarchaler) Teil der Vergesellschaftungsweise und steht im kapitalistischen Idealfall in einem geordneten Verhältnis zur formellen Wertproduktion. Ist dies nicht der Fall, nehmen informelle und quasi-häusliche Reproduktionsformen überproportional zu, so kann dies als Krisenerscheinung und Ausdruck einer „Verwilderung“ der patriarchalen Momente des Kapitalismus verstanden werden. Es stellt sich also die weitere Frage, in welcher Proportion die Zahl der nun „westlichen“ Konsum- und Arbeitsnormen unterworfenen Haushalte zur Zahl jener steht, die nur noch informell, halb oder gar nicht mehr richtig ins System geholt werden – dabei aber trotzdem nicht mehr zurück zu einer alten Versorgung können, „im“ System und zugleich von im exkludiert vegetieren müssen. In diesem Zusammenhang ist auch der Grad der Verstädterung mitnichten ein eindeutiger Indikator für eine steigende Arbeitspopulation, da die Leute vielfach vom Land ins städtische Slum und äußerst schwierige Überlebensbedingungen wechseln. Wird diese Rechnung berücksichtigt, dann fallen global mehr Menschen aus formalen Verhältnissen und (zurück) in nicht-wertproduktive Formen der Reproduktion, als in den wenigen Ländern des Zentrums von reproduktiven Tätigkeiten in formelle Verhältnisse überführt werden. Letztlich kann sich auch im Westen nur eine privilegierte Elite die Abgabe der Care-Arbeit an (selbst natürlich nicht abgesicherte, meist migrantische und erneut weibliche) Lohnarbeiter_innen leisten. Was sich hier herausbildet ist eine beschränkte und herrschaftsförmige Care-Kette, die gerade in Zeiten der Krise selbst noch auf tönernen Beinen steht. Angesichts der zunehmend prekären Verhältnisse auch in Deutschland von einer neuen „Vergesellschaftung“ zu sprechen ist nicht nur eine schlechte „Prognose“ von Seiten Werners, es ist purer Zynismus.

Aus Altbekanntem mach Altbekanntes? Wunschdenken ist auch keine Lösung