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Robert Kurz

Die kulturelle Richtung des 21. Jahrhunderts
Symbolische Orientierung und neue Gesellschaftskritik

 

Kann es für das 21. Jahrhundert überhaupt noch gesellschaftliche Ziele geben? Trotz oder vielleicht gerade wegen der sozialen Weltkrise ist an der Jahrhundertwende nicht mehr von einem Aufbruch zu neuen Ufern die Rede. Die Gebetsmühle der endlosen Modernisierung dreht sich zwar weiter, aber die wenigsten wollen noch daran glauben. Um etwas Neues beginnen zu können, müßte eine leidenschaftliche Auseinandersetzung über anzustrebende gesellschaftliche Projekte geführt werden. Aber die sozialen, politischen und kulturellen Leidenschaften scheinen erloschen, die Diskurse in den Medien schleppen sich mühsam dahin. Weder in den gesellschaftlichen Beziehungen noch im Verhältnis zur Natur werden neue Herausforderungen formuliert. Die Vorstellung einer großen "Aufgabe für die Menschheit" klingt nicht nur antiquiert, sondern naiv und geradezu sinnlos.
Was heute als neu und zukunftsweisend angepriesen wird, ist kein Inhalt und kein Ziel mehr, sondern bloße Form oder bloßes Medium, geistlos gewordene Apparatur. Das Internet ist das beste Beispiel dafür. Je schneller sich die Technologie der Kommunikation entwickelt, desto weniger Inhalt gibt es, der überhaupt noch der Mitteilung wert wäre. Wenn das technologische Mittel den Inhalt ersetzen muß, führt sich die "instrumentelle Vernunft" selber ad absurdum. Im Endstadium dieser Entwicklung haben die mit perfekten Kommunikationsmitteln ausgerüsteten Menschen einander nichts mehr zu sagen.
Diese unübersehbare Inhaltslosigkeit und Ziellosigkeit deutet auf die geistige und kulturelle Erschöpfung des herrschenden gesellschaftlichen Systems hin. Wie die Menschen nur in Gesellschaft individuell sein können, so können sie als Individuen auch nur gesellschaftliche Inhalte und Ziele entwickeln. Das auf sich selbst bezogene Individuum dagegen ist zwangsläufig leer, es kann sich keine eigenen Inhalte setzen; seine Projekte verlieren sich in nichtiger Trivialität. Die Moderne ist am Ende des 20. Jahrhunderts in tödlicher Langeweile versunken. Insofern haben sich extremistische Mikroökonomie, soziale Atomisierung und Entsolidarisierung auch in kultureller Hinsicht bereits am Kapitalismus gerächt. Weil die sozialen Monaden auseinander driften, können sie sich kein gesellschaftliches Ziel mehr setzen; und weil sie keinen inhaltlichen Bezug mehr zueinander haben, driften sie umso mehr auseinander. Eine Gesellschaft aber, die sich keine gemeinsame Herausforderung stellen kann, ist zum Absterben verurteilt.
Um ein gesellschaftliches Ziel und damit inhaltliche Projekte formulieren zu können, bedarf es einer kulturellen "Richtung", einer raumzeitlichen Orientierung der Gesellschaft. Diese Orientierung bezieht sich nicht nur auf die Technik oder die Ökonomie, sondern auch auf die soziale Psyche, auf die gesellschaftlichen Imaginationen, auf das Verhältnis der Geschlechter und das "Lebensgefühl", nicht zuletzt auf das Verhältnis zur Geschichte. Natürlich hatte auch der moderne Kapitalismus eine solche kulturell-symbolische Ausrichtung. Aber als Weltsystem an seinem Ziel angelangt, kann er jetzt kein Ziel mehr sehen und verliert daher jede Orientierung in der Raumzeit. Die permanent in allen Medien propagierte Aufgabe, sich an die blinden Prozesse des Weltmarkts anzupassen, stellt kein inhaltliches Ziel aktiver Neugestaltung dar, kein positives "Menschheitsprojekt", sondern ist nur der mechanische Nachvollzug einer längst verselbständigten Struktur, die jeden Inhalt und damit jedes Ziel oder Projekt apriori in den Status der Gleichgültigkeit versetzt: egal was es ist, es kann niemals einen autonomen Sinn haben, sondern nur Material für den immergleichen Verwertungsprozeß des Kapitals liefern.
Daß die sogenannte Postmoderne in dieser entscheidenden Hinsicht die Moderne nicht überwindet und nichts Neues hervorbringt, zeigt sich schon an der Inhaltslosigkeit ihres eigenen Begriffs, der nur auf ein leeres "Danach" verweist. Die Postmoderne gibt keine neue gesellschaftliche Orientierung, sondern sie erhebt die Orientierungslosigkeit zur Tugend. Das in zielloser Beschleunigung erstarrte warenproduzierende System soll seinen Zustand kultureller Erschöpfung überleben, um sich bis in alle Ewigkeit im Leerlauf weiterzudrehen. Die postmoderne Theorie ist gewissermaßen die Karikatur eines Wegweisers, indem sie in alle Richtungen zugleich zeigt und deshalb bedeutungslos bleibt.
Es ist leicht einzusehen, daß eine neue kulturell-symbolische Orientierung und damit neue gesellschaftliche Ziele nur durch radikale Kritik der erschöpften gesellschaftlichen Ordnung gewonnen werden können; und radikale Kritik ist gerade das, was die Postmoderne als nicht mehr denkbar verwirft. Nun hat sich in der Tat die bisherige sozialistische Gesellschaftskritik zusammen mit ihrem Gegenstand erschöpft, weil sie selber Geist vom Geiste des Kapitalismus war. Wie der östliche Staatskapitalismus nur ein historisches Derivat des westlichen Privatkapitalismus bildete, so teilte er auch dessen kulturelle Imaginationen und symbolische Codes. Die Gesellschaftskritik des 19. und 20. Jahrhunderts machte halt an den Grenzen des modernen warenproduzierenden Systems; sie war selber ein Abkömmling der "instrumentellen Vernunft", von der sie schließlich wieder eingeholt und verschluckt wurde.
Wenn also eine neue kulturelle Orientierung nur durch radikale Gesellschaftskritik zu gewinnen ist, so gilt ebenso auch umgekehrt, daß eine solche Kritik der herrschenden Ordnung im 21. Jahrhundert nur zusammen mit einer grundsätzlich anderen symbolischen Codierung des raumzeitlichen Empfindens formuliert werden kann. Wer den "Terror der Ökonomie" brechen will, muß auch bewußt die imaginativen Codes des Kapitalismus knacken; die Kritik der politischen Ökonomie kann nur zu Ende geführt werden, wenn sie mit einer Kritik der diesem System inhärenten symbolischen Ordnung und kulturellen Orientierung einhergeht, also die Aufmerksamkeit und die Hoffnungen in eine andere Richtung lenkt und überhaupt das "Bild der Welt" umstürzt.
Bis jetzt ist dieses Problem ebensowenig gründlich und umfassend thematisiert worden wie die Kritik der ökonomischen Kategorien; und deshalb befindet sich die Linke weiter auf dem Rückzug, obwohl die Erschöpfung der kapitalistischen Welt immer deutlicher zutage tritt. Worin besteht eigentlich die inzwischen obsolet gewordene kulturelle Orientierung des Kapitalismus? Auf der Zeitachse ist es zweifellos eine ganz einseitig in die Zukunft gerichtete Dynamik. Modernisierung ist gleichbedeutend mit einer permanenten Entwertung der Vergangenheit und damit der Geschichte. Unabhängig von ihrer Qualität gelten "das Neue", die Mode, die unaufhörliche ökonomische Entwicklung, die dauernde Bewegung als Wert an sich. Der moderne Begriff der Geschichte, wie ihn die Philosophie der Aufklärung kreiert hat, ist ganz von diesem Code bestimmt, in dem die Menschheit gewissermaßen wie eine abgeschossene Rakete erscheint, die in mechanischer historischer Aufwärtsbewegung ihre Bahn zieht. In dieser Ruhelosigkeit gilt die Vergangenheit nur als ausgebrannter Abfall der Gegenwart und die Gegenwart nur als Abfall der Zukunft.
Das reaktionäre vermeintliche Gegenbild, nämlich eine imaginative Idealisierung der Vergangenheit, ist nur die Kehrseite derselben Medaille. Dabei wird weder der Eigenwert vergangener Kulturen erfaßt noch das zerstörerische Moment der kapitalistischen Dynamik überwunden, sondern immer nur das unpersönliche kapitalistische Herrschaftsverhältnis elitär mystifiziert und in die Geschichte zurückprojiziert. Es ist seine eigene Vergangenheit, die der Kapitalismus in den konservativen und reaktionären modernen Ideologien idealisiert, um die katastrophalen Folgen seiner blinden Dynamik und seine inneren sozialen Widersprüche repressiv zu bannen. Bei dieser Idealisierung handelt es sich in Wahrheit nur um einen anderen Modus in der Entwertung der Geschichte. Reaktionärer Kulturpessimismus und liberale Fortschrittsideologie stellen die beiden kulturellen Pole derselben kapitalistischen Enthistorisierung dar, die auch ineinander umschlagen können; das faschistische Denken enthält beide Momente gleichermaßen.
In der Postmoderne ist diese kapitalistische immanente Polarität von "Fortschritt" und "Reaktion" in sich zusammengefallen, was gerne als Überwindung des Gegensatzes von "links" und "rechts" gefeiert wird, tatsächlich aber neben der kulturellen auch auf die politische und ideologische Erschöpfung des Kapitalismus verweist. Der bürgerliche "Fortschritt" ist in eine sinnlose Kreisbewegung übergegangen und deshalb mit der "Reaktion" identisch geworden. Die Entwertung der Vergangenheit findet jetzt nur noch in der einen identischen Weise statt, daß sich auch die Geschichte, die vergangenen Kulturen, Ideen und Verhältnisse in Waren verwandeln, die vermeintlich beliebig konsumiert werden können. Diese halluzinierte Gleichzeitigkeit, die den gesamten Raum der menschlichen Geschichte in das kalte Licht des Marktes taucht und alle Differenzierungen auslöscht, je mehr von "Differenz" geredet wird, gibt der postmodernen kommerziellen Kultur eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem Treiben von Affen, die in einer Bibliothek spielen und kreischend die Bücher durcheinanderwerfen.
Eine mit radikaler Kapitalismuskritik verbundene neue Orientierung der Kultur kann nur darin bestehen, die permanente Entwertung der Geschichte zu beenden - aber weder im Sinne der Idealisierung irgendeiner Vergangenheit noch als deren Konsum, sondern als kritische Suche nach den Spuren, die der Kapitalismus systematisch verwischt hat. Es geht darum, die Geschichte der modernen Disziplinierung und der Menschendressur, die historische Verwandlung des Lebens in das Material ökonomischer Imperative aufzudecken, um die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser Lebensweise fragwürdig zu machen. Heute antwortet jeder Manager, Politiker oder Fußballstar auf die Frage nach seinen vergangenen Fehlleistungen und deren Ursachen stets mit dem stereotypen Satz: "Wir schauen nach vorn". Die Umkehrung dieser Perspektive wäre gewissermaßen eine "Kapitalismuskritik nach rückwärts", eine symbolische Orientierung an der kritischen Rückschau, eine Verweigerung des kapitalistischen Bewegungsgesetzes, ein "Schuß in die Uhr" (Walter Benjamin).
Um eine andere Zukunft gewinnen zu können, ist paradoxerweise die verschüttete Vergangenheit wichtiger als die entleerte Gegenwart. Der emanzipatorische Fortschritt kann nur gerettet werden, wenn sich das kritische Denken vom symbolischen Code der bürgerlichen Aufklärungsphilosophie und damit von einem Begriff der Geschichte emanzipiert, der eine permanente "automatische", von der "unsichtbaren Hand" der Ökonomie bestimmte Ausrichtung auf die Zukunft impliziert. Heute ist es fortschrittlich, stehenzubleiben und sich umzudrehen, um auf das Trümmerfeld der Modernisierung zurückzublicken. Es geht also um ein anderes Verständnis der Geschichte, einen Umsturz des historischen Weltbildes. Die Gesellschaft kann nur zur Besinnung kommen, wenn sie eine Leidenschaft für eine radikal kritische Archäologie der erschöpften Moderne entwickelt.
Eine solche Umkehrung der Perspektive hätte auch Konsequenzen für die psychische Orientierung. Denn die kritisch-emanzipatorische Wendung nach rückwärts, um sich der Geschichte neu zu versichern, bedeutet auch eine Veränderung im kulturell-symbolischen Verhältnis von "innen" und "außen". Der kapitalistische Mensch ist "außengeleitet" von Kriterien des Prestiges und des schönen Scheins, wie er durch Werbung, Verpackung und "Selbstdarstellung" suggeriert wird. Auch hier wäre aber die Umkehr der kulturellen Richtung keine mystifizierende "Innerlichkeit" oder esoterische "Wesensschau" als reaktionäre Kehrseite derselben Medaille, um vor den gesellschaftlichen Widersprüchen in ein imaginäres inneres Ich zu flüchten. Im Gegenteil würde der emanzipatorische "Weg nach innen" darin bestehen, die verdrängte Geschichte und die falsche Objektivierung kapitalistischer Zwänge auch in Psyche und Sprache zu entdecken - gewissermaßen als eine "innere Archäologie" der Modernisierung sowohl auf der persönlichen als auch auf der sozialpsychologischen Ebene, um den Prozeß der psychischen "Verinnerlichung" dieser Zwänge sichtbar zu machen. Die voreilig totgesagte Psychoanalyse und die feministische Sprachkritik enthalten unausgeschöpfte Möglichkeiten für eine solche Umcodierung.
Schließlich kann auch die Orientierung im Raum von diesem radikalen kulturell-symbolischen Paradigmenwechsel nicht unbehelligt bleiben. Wie die kapitalistische Dynamik zeitlich blind in die Zukunft gerichtet ist, so ist sie räumlich "nach oben" orientiert. Der futuristische Poet Marinetti wünschte sich schon um die letzte Jahrhundertwende, das Automobil möge abheben wie eine Rakete; und wenige Jahrzehnte später landete tatsächlich ein Mann auf dem Mond. Daß diese "abhebende" Imagination des Kapitalismus männlich bestimmt ist, zeigt sich bis zur Lächerlichkeit schon in der Form der Rakete als Symbol des Phallus; die Orientierung in den Luft- und Weltraum, die keineswegs zufällig militärisch fundiert ist, enthält das Bild einer "abgelösten" und gewissermaßen davonfliegenden männlichen Sexualität.
Aber längst hat sich auch dieser symbolische Code erschöpft. Die Weltraumfahrt ist so langweilig geworden wie die leere Zukunft des Marktes. Auf den erreichbaren Planeten findet man nur chemisch-physikalische Wüsten. Und selbst deren kapitalistische Ausbeutung als Ressourcen bleibt illusorisch, denn die Kosten für den Transport würden das Millionenfache der möglichen Ausbeute verschlingen. Die Technologie fossiler Brennstoffe, auf der die kapitalistische Produktionsweise beruht, ist viel zu primitiv für einen "Aufbruch in den Weltraum". Cape Canaveral und Baikonur sind jetzt schon Ruinen der männlich ausgerichteten warenproduzierenden Zivilisation, sie wissen es nur noch nicht.
Eine radikale symbolische Umcodierung im Verhältnis zum Raum wird den Blick "nach unten" richten: nicht nur in dem archäologischen Sinne, daß die Geschichte unter unseren Füßen liegt, sondern auch im Hinblick auf technologische Herausforderungen und Erfordernisse der gesellschaftlichen Reproduktion. So ist außer dem Inneren der Erde auch der größte Teil der Erdoberfläche unerforscht, nämlich die unteren Schichten und der Grund der Ozeane. Daß der Aufwand an Ressourcen und Fähigkeiten für diese Zielrichtung im Vergleich zur Luft- und Raumfahrt minimal geblieben ist, zeigt die tiefe Abhängigkeit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung von den obsolet gewordenen symbolischen Codes des Kapitalismus. Wenn der Mensch ein Kulturwesen ist, dann wird er sich eine neue kulturelle Orientierung in Raum, Zeit und Psyche suchen müssen; und vielleicht wird diese Wende im 21. Jahrhundert die Gesellschaft ebenso umwälzen wie die soziale und ökonomische Krise.