Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Robert Kurz

Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel
Manifest für die Erneuerung revolutionärer Theorie

(Initiative Marxistische Kritik, IMK (Hrsg.), 1988)

Inhalt

1. Die bisherige Linke ist am Ende .......................... S.  9
2. Die Theorie muß ihr Recht bekommen ....................... S. 11
3 Eine Erneuerung des sozialistischen Ziels kann nur in einer fundamentalen Kritik der Warenproduktion bestehen..........S. 15
4. Die alte Arbeiterbewegung konnte nur Entwicklungshelfer kapitalistischer Vergesellschaftung sein ................. S. 23
5. Die wahren Totengräber des Kapitalismus werden erst heute geboren .................................................. S. 49
6. Revolutionäre Intelligenz kann sich nur außerhalb des Wissenschaftsbetriebs entwickeln ........................  S. 64

Nachwort .................................................... S. 78
Anhang ...................................................... S. 94

Robert Kurz. Manifest, April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]

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Vorwort                                      [S. 3-5]

I.
Das nachfolgende Manifest, Resultat eines mehrjährigen theoretischen Aufarbeitungsprozesses, stellt keinen Endpunkt, sondern einen Ausgangspunkt dar. Es ist nicht unmittelbar Anleitung zum Handeln im Sinne des üblichen politischen Praxis-Fetischismus, sondern theoretisches Programm eines revolutionären Willens, der sich des objektiven und subjektiven gesellschaftlichen Vermittlungsproblems bewußt ist: ein Programm insofern für die "theoretische Praxis" selbst als ein begriffenes Moment gesellschaftlicher Bewegung, das mit deren anderen Momenten weder unmittelbar identisch noch auch nur synchron sein kann.
Die apodiktischen Formulierungen, wie sie dem Charakter eines Manifests entsprechen, sollen keineswegs irgendeine Heilsgewißheit suggerieren oder eine neue Glaubenswahrheit in die Welt setzen. Vielmehr wird die Kohärenz einer erarbeiteten theoretischen Position "aus einem Guß" offengelegt, die für sich allerdings in Anspruch nimmt, den Zugang zu einer radikalen Kritik "aller bestehenden Gesellschaftsordnung" im Sinne des Kommunistischen Manifests erneut freizulegen. Es ist dies kein theoretisches "Sesam öffne dich" für denkfaule Mitläufer und Bekenner, sondern das Wiederaufnehmen einer verschütteten Dimension des Marxschen Werkes, ohne daß wir uns diesem in einem bloß schriftgelehrten Sinne auslegender Priester des "Marxismus" verpflichtet fühlen würden. Gerade aus einer solchen Haltung heraus ist dieses Manifest gleichzeitig ein hingeworfener Fehdehandschuh der gesamten heutigen Linken gegenüber, deren Spektrum sich in reformistischer Verplattung, steriler Traditionspflege und sprachloser Bauchmilitanz erschöpft.
Der Text gibt im wesentlichen die Anschauungen wieder, wie sie in der Zeitschrift "Marxistische Kritik" sowie auf zahlreichen Seminaren in den vergangenen Jahren entwickelt wurden; er geht aber über das bisher (wenige) Publizierte hinaus, auch über den gesicherten Konsens der Redaktion der "Marxistischen Kritik", die sich weder als abgeschottete monolithische Einheit noch den Theoriebildungsprozeß als abgeschlossen begreift. Die Kernaussagen über die Befangenheit der Linken in den warenfetischistischen Reproduktionsformen und über das Ende der alten "Arbeiterbewegung" stellen allerdings eine verbindliche Grundlage unserer Position dar mit einem einheitlichen Ansatz.
Die "Initiative Marxistische Kritik" (IMK) als Trägerkreis der Zeitschrift und der Seminararbeit gibt dieses Manifest heraus, um sich einen Orientierungsrahmen für die weitere theoretische Arbeit, Qualifizierung und öffentliche Auseinandersetzung zu schaffen. Es handelt sich aber für sie weder um einen theoretischen Katechismus noch um das Surrogat eines politischen Programms. Im einzelnen gibt es auch innerhalb der IMK Vorbehalte und Unklarheiten gegenüber diversen Aussagen der dargelegten Gesamtanschauung, so etwa hinsichtlich der "Zusammenbruchstheorie", der Frauenbewegung, der Bestimmung des bürgerlichen Staates etc. Die IMK betrachtet aber das Ganze der im Manifest entwickelten Position als geeigneten

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und fruchtbaren Ausgangspunkt, um zu einer Erneuerung revolutionärer Theorie auf der Höhe der Zeit zu gelangen.
Insofern ist das Manifest nicht nur als die notwendig schroffe Abgrenzung von der bisherigen Linken, sondern gleichzeitig als Angebot zur Mitarbeit, theoretischen Qualifizierung und Auseinandersetzung zu verstehen. Nicht im Sinne eines linken Pluralismus ohne inhaltliche Verbindlichkeit, sondern als weitertreibendes Abarbeiten an einer bestimmten und unmißverständlich klargelegten Position.

II.
Obwohl es sich um eine Manifestation auf dem Boden der Theorie selbst handelt und noch nicht um eine unmittelbar praktische Kampfansage an die bestehende Gesellschaft, kann sie doch nicht in einer neutralen wissenschaftlichen Form und ohne jeden politischen Bezug vorgetragen werden. Auch die Theorie hat immer an sich selbst schon das Moment des Kampfes, weil sie Teil der gesellschaftlichen Praxis ist. Wir verstehen uns nicht als positivistische Wissenschaftler, die zumindest ihrer Ideologie nach außerhalb dieser totalen Praxis stehen und diese quasi nur unter dem Mikroskop beobachten, sondern vielmehr selbst als aktives und kämpfendes Teilchen der von uns untersuchten Bewegung.
Der Ausgangspunkt für ein Programm zur Erneuerung revolutionärer Theorie ist auch notwendigerweise nicht etwa voraussetzungslos die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Unmittelbarkeit, sondern der Zustand der Theorie und der Linken selbst, gegen die wir polemisieren, weil sie ihren Frieden mit dieser Ordnung gemacht hat oder bloß hilflos gegen deren Erscheinungsformen anrennt. Die Kritik nicht bloß äußerlich, sondern auch immanent als ERKLÄRUNG des kritisierten Zustands selbst zu leisten, erfordert gleichzeitig eine im wesentlichen GESCHICHTLICHE Darstellung, in der nicht (wie es einem rein wissenschaftlichen Vorgehen angemessener wäre) das Historische im Logischen impliziert ist, sondern vielmehr das Logische anhand der historischen Entwicklung herausgearbeitet wird.

III.
In der Abfolge der Kapitel handelt es sich zunächst einmal um die Geschichte unserer eigenen kritischen Theoriebildung selbst, sozusagen um die "Jahresringe" unserer Entwicklung, die sich dabei gleichzeitig als ein logisches, systematisches Ganzes herausstellt. Ausgehend von der Kritik des gängigen linken Theorieverständnisses spannt sich der Bogen über eine Kritik der Wertform und der Befangenheit der Linken in dieser Form negativer, abstrakter Gesellschaftlichkeit bis hin zu einer aufhebenden Kritik dieses Zustands durch eine Bedingungsanalyse der alten Arbeiterbewegung und der auf diese bezogenen marxistischen Strömungen hindurch (als deren Endprodukt wir die heutige Linke sehen), um schließlich zu klassentheoretischen Schlußfolgerungen und zum sozialen Vermittlungsproblem der Theorie selber zu kommen.

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Im Kapitel über Arbeiterbewegung und Demokratie, das deshalb auch den größten Raum einnehmen muß, werden die vorher für sich behandelten Momente des Theorieverständnisses und der Warenproduktion in einen größeren historischen Erklärungszusammenhang gestellt; die Geschichte des Kapitalverhältnisses wird so gleichzeitig als Geschichte der Arbeiterbewegung und der theoretisch-politischen Linken selbst skizziert, wobei die allgemeine ENTWICKLUNGSLOGIK des Warenfetischs und seiner Sekundärformen ebenso wie die spezifische Kritik bestimmter linker Gruppen und Strömungen in Form kurzer Exkurse in diesem Rahmen dargestellt werden.
Wir erwarten weder ungeteilte Zustimmung noch ein bloß betretenes Schweigen. Wenn dieses Manifest zum Ärgernis für die Linke wird, dann hat es seinen Zweck erfüllt.

Nürnberg, April 1988

Robert Kurz. Manifest, April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]

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1. Die bisherige Linke ist am Ende

Die neue Linke ist alt geworden und hat sich verbraucht; die Linke überhaupt in allen ihren Spielarten erscheint nur noch als schwacher Schatten einer vergangenen Epoche. Die subjektive Revolte von 1968 ist umgeschlagen in einen kläglich immanenten Machbarkeits-Reformismus zwischen der grünen und der altsozialdemokratischen Staatsbürgerpartei, während als angeschimmelter Bodensatz der früheren Bewegung noch ein paar Sekten weitervegetieren. Die alten Kontroversen über den richtigen Weg zur sozialistischen Revolution erscheinen schal und nichtssagend; sie interessieren niemanden mehr. Die Revolutionen der 3. Welt sind erschlafft und geben keine Identifikationsmuster mehr ab, ebensowenig der sowjetische Realsozialismus, dessen politisch-ökonomische Substanz und Ideologie bröckelt wie das Mauerwerk antiker Gebäude. Das einst scheinbar weltbewegende Schisma des chinesischen und des sowjetischen Marxismus-Leninismus ist gegenstandslos geworden und erscheint im nachhinein als ziemlich unbedeutende ideologische Episode. Und trotz Massenarbeitslosigkeit und neuer Armut hat sich die Arbeiterbewegung nicht zu neuer Radikalität erhoben, sondern führt korporatistische Rückzugsgefechte auf dem wankenden Boden der Lohnarbeit. Der schlafende Riese ist nicht erwacht, um mit der berühmten eisernen Faust die Ausbeuterordnung zu zerschlagen, sondern um sich als hilfloser Greis von wohlmeinenden Bischöfen zum Gebet und zur letzten Ölung geleiten zu lassen.
Die historische Ironie ist perfekt: die manifeste Krise des Kapitalismus wurde gleichzeitig zur Krise des Marxismus selbst. Während sich die Widersprüche des kapitalistischen Weltmarkts bis zum Zerreißen spannen, klopfen die sogenannten sozialistischen Länder bescheiden an seiner Tür an und bitten um Aufnahme. Mitten in der Krise des internationalen Kreditsystems und am Vorabend eines möglichen Bankenkrachs ist die deutsche Linke mit der Gründung einer Bank beschäftigt. Gerade in dem Augenblick, in dem die allgemeine Krisenprognose von Marx sich zu aktualisieren scheint, gilt der Marxismus bei immer größeren Teilen dieser Linken als obsolet oder zumindest weitgehend ergänzungsbedürftig.
Aber die scheinbare Verrücktheit hat gute Gründe. Gerade die neue Krise des kapitalistischen Weltsystems hat die traditionell gewordenen theoretischen und programmatischen Leitsätze des bisherigen Marxismus fast noch mehr dementiert als vorher die ungeheure Prosperität der Nachkriegsperiode. Kein einziger dieser Leitsätze konnte in der neuen Krise gesellschaftliches Gewicht gewinnen, keine einzige Prognose und Erwartung der Linken über Inhalt, Verlaufsformen und Konsequenzen der Krise ist eingetroffen. Die alten sozialistischen Ziele erstrahlten in dieser Krise und vor dem Hintergrund ihrer realen Erscheinungsformen nicht etwa heller, sondern nahmen sich immer unwirklicher, abgerissener und hilfloser aus. In Wahrheit hat die gesellschaftliche Krise ans Licht gebracht, daß die marxistische Linke mit leeren Händen dasteht. Es ist kein Trost, daß sich die angestrengte Wiederbelebung nicht- und vormarxistischer linker Theorien fast noch gespenstischer ausnimmt und die

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archäologischen Ausgrabungen anarchistischer oder genossenschaftssozialistischer Provenienz aus dem 19. Jahrhundert den Marxismus ebensowenig ergänzen können wie die geradezu närrische Rückkehr zum demokratischen Ideenhimmel des 18. Jahrhunderts und der französischen Revolution. Am Ende des 20. Jahrhunderts wird der liberale Demokratismus auch als Ergänzungsideologie zahnlos gewordener Marxisten nicht appetitlicher. Solche Verrenkungen führen weder theoretisch noch praktisch weiter, sondern dienen bestenfalls der mehr oder weniger gnädigen Bemäntelung des zu beobachtenden Zurückkriechens eines Großteils der Linken in den Schoß jenes immer noch stinkenden Leichnams, von dem Rosa Luxemburg schon 1914 gesprochen hat. Der grüne Wechselbalg dieses unverwüstlichen Leichnams kann nicht beanspruchen, das verlorene sozialistische Ziel auch nur im mindesten zu ersetzen.
Die Aufgabe einer Linken, die noch nicht jede Selbstachtung verloren hat und nicht im Strudel des großen Hauptstroms eines reformistischen Pragmatismus in der gesellschaftlichen Opposition untergehen will, kann nicht in irgendeiner Form des Mitmachens bei den grünsozialdemokratischen Staatsbürgerparteien bestehen, ebensowenig im Weiterbetreiben der Mühlen des politischen Sektenwesens, das blind den politischen Konjunkturen hinterhertappt und sich stets von neuem und stets vergeblich frischen Wind für die eigene Bruchbude erhofft.
Erst recht nicht kann es freilich Aufgabe einer solchen Linken sein, der realen gesellschaftlichen Oppositionsbewegung zum Trotz an einer Spielart des traditionellen Marxismus festzuhalten, sich in irgendeine revolutionäre Tradition (speziell des russischen Bolschewismus) mit der ungebrochenen Gemütsruhe des Ignoranten zu stellen und die Schlachten der Vergangenheit auf dem geduldigen Papier noch einmal schlagen zu wollen. Die bisherige Linke ist in allen ihren Formen am Ende; der historische Entwicklungsprozeß kapitalistischer Vergesellschaftung ist über alle ihre Traditionen hinweggegangen.
Diese tief einschneidende Zäsur kann nicht übersehen werden. Nötig ist nicht alter Wein in neuen Schläuchen, sondern eine marxistische Kritik des gesamten bisherigen Marxismus selbst. Eine Erneuerung der revolutionären Theorie auf der Höhe der heute erreichten kapitalistischen Vergesellschaftungsstufe muß durch eine kritische Aufarbeitung der Geschichte des Marxismus hindurch, sowohl der größeren Geschichte der alten Arbeiterbewegung als auch unserer eigenen Geschichte seit 1968. Dies unterscheidet uns von denjenigen Linken ebenso, die von der Marxschen Theorie heute nichts mehr wissen wollen oder sie mit allerlei Flickwerk ideologisch zu ergänzen trachten, wie von den unverbesserlichen Gralshütern einer vermeintlich gesicherten, nur von allerlei Abweichlern beschmutzten reinen Lehre. Wir wenden uns daher weder an die politikasternden Mitmacher noch an die letzten Gläubigen, sondern an den Teil der Linken, dem das ewig vor sich hinkampagnende Weiterwursteln mit dem Ohr am Puls der Massen ebenso obsolet geworden ist wie die mittlerweile etwas verschämt gewordene Anbetung marxistischer Glaubenswahrheiten und die Verehrung revolutionärer Ikonen einer unwiederbringlichen Vergangenheit.

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2. Die Theorie muß ihr Recht bekommen

Die Kritik würde bei weitem zu kurz greifen, wollte sie nichts weiter einklagen als die Notwendigkeit sozialistischer Theoriebildung überhaupt. Dem Buchstaben nach hat die Theorie immer ihr Recht bekommen. Keine Partei, Gruppe oder Strömung, die nicht salbungsvoll den Anspruch mehr oder weniger endgültiger Klärung aller mehr oder weniger unzeitgemäßen theoretischen Fragen erhoben hätte. Kein undogmatisches pseudokritisches Geklingel, das nicht mit irgendeinem Schmöker vom Dachboden der ausgemusterten Emanzipationstheorien hausieren gegangen wäre. Und kein Linker, der sich nicht wenigstens einmal im Leben unter Gähnkrämpfen durch eine Kapitalschulung gequält hätte. An kleinen und großen Theorien, theoretischen "Organen" für den Hausgebrauch der kommunistischen Sekten oder als linkssozialistische Begleitmusik zur Verstaatsbürgerlichung der neuen Linken, an ziemlich massenhafter Theorieproduktion überhaupt hat nie ein Mangel geherrscht. Jedes Verdauungsgeräusch des Zeitgeistes wurde von der Linken theoretisch intoniert und heruntergeklimpert.
Aber auf dem Papier dieser Fluten theoretischer Produktion wurde den zur Kenntlichkeit entwickelten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung niemals ihre eigene Melodie vorgespielt, um sie zum Tanzen zu bringen. Die Theorie bekam in Wirklichkeit ihr Recht nicht, weil sie nie als eigengewichtiges Moment sozialer Emanzipationsbewegung anerkannt worden war. Die Linke spielte den Verhältnissen nur die verschiedenen Melodien ihrer eigenen Wunschträume, Willenserklärungen und politischen Fingerübungen vor auf der zum bloßen INSTRUMENT degradierten Theorie. Die revolutionäre Wissenschaft hat heute ihren Stolz und ihren Biß verloren, weil sie von der Linken in ihrer Gesamtheit systematisch heruntergebracht wurde zum Aschenputtel un- und vorwissenschaftlicher politischer Prämissen und sozialer Lebensformen, denen sie als Legitimationsmagd zu dienen hat. Als bloßes Mittel politisch-sozialer Zwecke, die selber außerhalb des Zugriffs kritischer Reflexion bleiben, muß die revolutionäre Theorie aber verkommen. Das Theorieverständnis der Linken ist so letztlich trotz aller sozialistisch-kommunistischen Willenserklärungen ein bürgerliches, positivistisches geblieben. Die eigenen subjektiven politischen Zwecke waren der Theorie immer schon vorausgesetzt, statt aus ihr abgeleitet zu werden. Diese methodische Zahnlosigkeit des Theorieverständnisses und die falsche Unmittelbarkeit des politischen Willens trugen so das Signum bürgerlicher Immanenz bereits, als die Linke sich noch nicht zu ihrer jüngsten schwarzrotgoldenen Staatsbürgerlichkeit entpuppt hatte.
Gerade in dieser entscheidenden Hinsicht ist an der neuen Linken nichts Neues gewesen. Schon die alte Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg hatte, zuerst noch gegen den ebenso energischen wie vergeblichen Protest von Engels, die sozialistische Wissenschaft an die Kandare ihrer politisch-parlamentarischen und gewerkschaftlichen Willensbildung auf dem nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellten Boden der Lohnarbeit genommen. Die Theorie

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wurde zensiert und kastriert, wo sie auch nur im mindesten an den eisernen Vorhang rührte, der für den Marxismus von der Lebenswelt und den Willensprozessen einer Arbeiterbewegung errichtet worden war, die eigentlich nichts weiter wollte als ihr Auskommen in der Lohnarbeit und ihre staatsbürgerliche Anerkennung.
Auch der revolutionäre Frühling bolschewistischer Theoriebildung nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs konnte auf den Grundlagen einer hauptsächlich noch vorkapitalistischen Ökonomie nicht länger als einen historischen Atemzug lang anhalten und die arbeiterbewegte Verkürzung der Marxschen Theorie nicht überwinden. Der von Stalin kanonisierte "Leninismus" mußte sich vielmehr in die Ideologie einer nachholenden Industrialisierung verwandeln und den gesamten Begriffsapparat des wissenschaftlichen Sozialismus unter dieser unreflektierten Prämisse verbiegen bis zur Unkenntlichkeit. Der legitimatorische Zweck verwandelte die Theorie noch weit mehr in ein positivistisch verkürztes Mittel als im Westen, weil als ihr Zuchtmeister nicht mehr bloß der Parteiapparat auftrat, sondern der Staatswille, der sie bis zum heutigen Tag unter unverhüllte Polizei-Kuratel gestellt hat. Die Verkommenheit der wissenschaftlichen Begriffsbildung in diesem Theorie-Knast ist an der theoretischen Ausschußproduktion des akademischen Lebens in den Ländern des sowjetischen Machtbereichs abzulesen. Reformerische "Demokratisierung" kann diesem Leichnam der Theorie kein neues Leben einhauchen, sondern ihm bloß endgültig das bürgerliche Grab schaufeln. Daß dann vielleicht der Verwesungsgeruch des historischen Marxismus aus den dickleibigen DDR-Lehrbüchern nicht mehr ganz so penetrant herüberweht, dürfte kaum als Fortschritt der Theorie selber einzuschätzen sein.
Ein Teil der westlichen Theoriebildung, so vor allem die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, versuchte sich von den positivistischen Fesseln des Arbeiterbewegungs-Marxismus zu lösen, ohne jedoch über den Schatten dieser historischen Epoche springen zu können, der sie selber noch angehörte. Die Kritische Theorie benannte zwar immerhin den verkürzten Horizont des positivistischen Theorieverständnisses, jedoch nur auf der Ebene abstrakter Methodenkritik und gefärbt von ihrer bürgerlich-lebensphilosophischen Abkunft. Auch sie konnte so nicht den Verhältnissen die Melodie von deren eigenem Widerspruch vorspielen, sondern mußte zu einer abstrakten, der Kritik des Kapitalverhältnisses äußerlichen Subjekttheorie gelangen, die teils in Resignation, teils in Reformismus und teils in subjektivistisch-revolutionären Aktivismus mündete.
Die neue Linke in ihrer Gesamtheit stellte nie eine Überwindung des tradierten marxistischen Theorieverständnisses bis zur Weltkriegs-Epoche dar, sondern vielmehr bloß dessen Endmoräne. Sie hatte ihre ideologischen Wurzeln im linksakademischen Flügel des Sozialdemokratismus ebenso wie in einer Rezeption der Frankfurter Subjekttheorie in ihrer aktivistischen Variante. In allen Fraktionen der neuen Linken setzte sich letztlich gleichermaßen das verkürzt-instrumentalistische Verständnis der Theorie durch und damit deren Degradation.
Die K-Gruppen überführten den scheinbar voraussetzungslosen, bloß sich selbst nach dem

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positivistischen trial-and-error-Prinzip reflektierenden Aktivismus fast bruchlos in die Farce eines Kostümfests als Revival der untergegangenen 3. Internationale. Die Theorie wurde zum beliebigen Legitimationsmittel für die subjektiven politischen Phantasien der diversen Mini-Parteien und deren Führungscliquen, die sich in napoleonischen Posen gefielen.
Die universitäre linkssozialistische Theoriebildung (Sozialistische Studiengruppen/SOST, Prokla, Sozialistisches Büro, Argument etc.), von ihrem Umfang her beträchtlich, hat sich davon immer nur der äußeren Form nach unterschieden. Die linksakademischen Theorieproduzenten konnten sich nie als eigenständigen gesellschaftlichen Pol revolutionärer Theoriebildung begreifen. Auf dem Boden der akademischen Lebenswelt und deren Alimentierung durch Staat und kapitalistische Stiftungen, deren Fesseln und stumme Zwänge umso enger und drückender werden mußten, je mehr sich das Dasein der Linkssozialisten von der versiegenden 68-er Bewegung und damit von den einmal erkämpften "Freiräumen" entkoppelte, konnte keine Selbständigkeit revolutionärer Wissenschaft gedeihen. Die linke akademische Theoriebildung, wiewohl nicht unmittelbar an einen äußerlichen, vorausgesetzten politischen Willen organisatorisch gebunden, unterwarf sich so freiwillig den empirisch vorgefundenen gesellschaftlichen Oppositions-Subjekten, soweit sie erfolgversprechend schienen, und brachte sich als "wissenschaftliche Hilfskraft" in die jeweiligen politischen Konjunkturen und Bewegungen ein, denen sie hauptsächlich legitimatorische Unterstützung gab, statt sich mit ihnen aus kritischer Distanz auseinanderzusetzen. Die Frage nach dem revolutionären Inhalt der Theorie wurde nicht selber theoretisch bestimmt, sondern von der äußerlichen Existenz oder NichtExistenz eines gesellschaftlichen revolutionären Klassen- oder Bewegungs-Subjekts abhängig gemacht und damit die Wissenschaft verraten. Die Reste marxistischer Nomenklatur bei den Linkssozialisten können nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihre Theoriebildung heute zum ordinären Erfüllungsgehilfen des staatsbürgerlichen, grünsozialdemokratischen parlamentarischen Kretinismus herabgesunken ist.
Der von einer inzwischen selber traditionell gewordenen neuen Linken ganz abgekoppelte Radikalismus der Jugendbewegung in den 80-er Jahren stellt keinerlei Alternative dar; er bleibt weitgehend sprach- und theorielos, ja teilweise direkt theoriefeindlich und straft sich so selber Lügen. Die Autonomen sind bloß die halbe Portion Nachschlag des subjektiven Radikalismus der 68-er auf dem Höhepunkt ihrer Bewegung. Soweit sie theoretische Versatzstücke transportieren, handelt es sich wie gehabt um das gespenstische Revival längst versunkener Originale (Anarchismus, Syndikalismus, Operaismus), die von Leuten abermals ausgebuddelt werden (z.B. Karlsruher Stadtzeitung/"Wildcat"), denen noch nicht einmal bewußt zu sein scheint, daß ein paar Jahre zuvor an diesen Knochen schon einmal mit durchschlagendem Mißerfolg genagt wurde. Auch diese kümmerlichen theoretischen Gehversuche bleiben empiristisch an den subjektiven, unmittelbaren Erfahrungshorizont und damit an dasselbe alte, instrumentalistische Verständnis gebunden. Die neue Militanz ist, ebenso wie der größte Teil des Feminismus heute, kein strategischer, theoretisch vermittelter Ansatz gesamtgesell-

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schaftlicher Umwälzung, sondern viel eher Ausdruck einer selbstgenügsamen sozialen Lebensform auf dem Boden der herrschenden Verhältnisse, in deren Zusammenhängen sich Reflexion bestenfalls nur legitimatorisch darstellen kann.
In allen Strömungen der Linken wird zwar von Zeit zu Zeit eine Klage über "mangelnde Theorie" angestimmt, ohne daß sich aber das verkürzte Theorieverständnis als solches jemals grundsätzlich geändert hätte. Es nützt überhaupt nichts, die pure Quantität theoretischer Beschäftigung eine Zeitlang zu erhöhen, solange nicht die falsche Unmittelbarkeit des kurzgeschlossenen Praxisbezugs in ihren diversen Varianten aufgehoben wird. Wenn wir der Theorie im Gegensatz zur Gesamtheit der heutigen Linken wieder zu ihrem Recht verhelfen wollen, dann müssen wir sie radikal abkoppeln vom Gefuchtel der sogenannten Praxis des linken Politikastertums aller Schattierungen. Revolutionäre Wissenschaft darf nicht abhängig sein vom politischen Kalkül einer Partei oder Sekte, ebensowenig vom spontanen Entwicklungsprozeß gesellschaftlicher Oppositionsbewegungen oder "Stimmungen" und politischen oder kulturellen Konjunkturen, wie sie sich in immer schnellerer Abfolge die Türklinke in die Hand geben. Die Theorie ist als selbständiger Pol gesellschaftlicher Kritik und Umwälzung zu erarbeiten; sie muß sich mit der gesellschaftlichen Praxis vermitteln - dies ist jedoch erst eine zu leistende Aufgabe von historischer Dimension und keine platte Voraussetzung, die von selber schon immer da wäre.

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3. Eine Erneuerung des sozialistischen Ziels kann nur in einer fundamentalen Kritik der Warenproduktion bestehen

Die Kritik würde aber auch noch zu kurz greifen, bliebe sie bei einer abstrakten Methodenkritik des instrumentalistischen Theorieverständnisses im bisherigen Marxismus stehen. Der INHALT dieser Kritik kann nicht zunächst offen bleiben und dann irgendwann nachgeschoben werden. Denn dies würde bedeuten, den vorne hinausgejagten bürgerlichen Positivismus durch die Hintertür wieder hereinzulassen. Ist es doch gerade ein wesentliches Kennzeichen der positivistischen Denkweise, daß sich für sie Form (Methode) und Inhalt als getrennt und einander äußerlich darstellen. Die Methode ist dann etwas für sich existierendes, das äußerlich an beliebige Inhalte herangetragen wird. Mit Hegel und Marx wollen wir aber im Gegensatz dazu festhalten, daß die Methode nichts ist als der auseinandergelegte Inhalt selbst. Wenn Methode und Inhalt daher nicht getrennt sind, müssen wir nach dem Inhalt fragen, den die verkürzte positivistische Methode auch auf dem Boden des historischen Marxismus an sich selber hat. Dieser Inhalt kann nur die unbegriffene, nicht kritisch überwundene WARENFORM der gesellschaftlichen Reproduktion sein, die sich dem Denken überhaupt und also auch dem theoretischen Bewußtsein als blinde gesellschaftliche Voraussetzung spontan aufdrängt, und zwar umso mehr, je allgemeiner und totaler diese Warenform historisch herausgebildet ist und alle gesellschaftlichen Lebensprozesse durchtränkt.
Zwar hatte die alte Arbeiterbewegung, soweit sie von der Marxschen Theorie berührt worden war, zunächst noch durchaus die Aufhebung der Warenproduktion gefordert (so noch im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1891). Aber diese programmatische Losung blieb abstrakt und unvermittelt mit dem tatsächlichen, realen Gehalt von Programmatik und Politik der Arbeiterbewegung. Was die Ware als historische Reproduktionsform von anderen Formationen unterscheidet, ist ihr Dasein als WERT, dem ABSTRAKTE ARBEIT als gesellschaftliche zugrundeliegt und der sich im GELD als allgemeine und sich totalisierende Verkehrsform des abstrakten gesellschaftlichen Menschen ausdrückt. Eine konkrete Kritik und Aufhebung der Warenproduktion ist unmöglich ohne eine ebensolche Kritik und Aufhebung von abstrakter Arbeit, Wert und Geld. Von dieser Einsicht aber waren die alte Arbeiterbewegung und ihre politischen Ausdrucksformen weit entfernt. Der einschlägige Programmpunkt blieb so ein folgenloser Fremdkörper und bloße Verbeugung vor dem Buchstaben der Marxschen Theorie, ohne deren revolutionären Inhalt gesellschaftlich zuspitzen zu können.
Die alte Arbeiterbewegung wollte letztlich gar nicht die Warenform der Produktion aufheben, sondern bloß das den Arbeitern im Nacken sitzende Geldkapital äußerlich loswerden. Sie begriff Lohnarbeit und Mehrwert nicht als das entfaltete Dasein des Werts selber, sondern als eine der an sich "natürlichen" Wertform äußerliche und aufgesetzte Angelegenheit, als bloßen "Diebstahl" des Mehrprodukts durch die Willenshandlungen einer soziologistisch

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verkürzt bestimmten Kapitalistenklasse. Daher auch das zähe, teils offene, teils untergründige Überleben des Lassalleanismus und Proudhonismus in den Arbeiterbewegungen, obwohl diese Theoreme längst wissenschaftlich widerlegt waren. Aus der äußerlichen Kritik der "Mehrwerträuberei" folgte die Idee des GENOSSENSCHAFTSSOZIALISMUS, die illusionäre Vorstellung eines von den Arbeitern selbstverwalteten betriebswirtschaftlichen Kollektivismus, die in allen ihren historischen Praxisversuchen elendiglichen Schiffbruch erlitten hat, bis hin zum Fiasko der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung und zum sang- und klanglosen Niedergang der israelischen Kibbuz-Bewegung.
Aus der ebenso äußerlichen Kritik der kapitalistischen Krisen folgte die Idee des STAATSSOZIALISMUS, die nicht weniger illusionäre Vorstellung einer staatlich regulierten und "geplanten" Warenproduktion auf weiterhin betriebswirtschaftlicher Basis. Der Staat konnte nicht begriffen werden als von der Wertform selber gesetzte abstrakte Allgemeinheit, als Kehrseite des Geldes und anderes Dasein der Lohnarbeit, sondern als bloß äußerliches Instrument, das je nach dem herrschenden politischen Willen so oder so verwendet werden könne.
Die anarchistische und syndikalistische Staatskritik umgekehrt blieb abstrakt und unwahr, weil sie die unbegriffene Form des Staates als isoliertes Grundübel denunzierte und den Staat also ebensowenig als abstrakte Allgemeinheit der Warenproduktion selber ableiten konnte; im Gegenteil rückte sie mit ihrer Ideologie "kleiner" Warenproduktion ohne Staatseinfluß und vermeintlich "selbstbestimmter" Tauschverhältnisse ohne zinstragendes Kapital etc. in vieler Hinsicht in die Nähe ultrareaktionärer und liberalistischer bürgerlicher Anschauungen. Genossenschaftssozialismus und Staatssozialismus als verkürzte Ideologien auf dem Boden der Warenproduktion und als sich ständig gegenseitig durchdringende und miteinander in wechselnden Relationen mischende Gegensätze blieben in der alten Arbeiterbewegung bestimmend bis zu ihrem Ende; sie ist darüber nie hinausgekommen.
Das theoretische Bewußtsein des traditionellen Marxismus konnte gerade aufgrund seiner gelungenen Verschmelzung mit dieser Arbeiterbewegung deren ideologischen Verkürzungen nicht standhalten, sondern mußte ihnen den Tribut zollen und die Marxsche Theorie in ihrem Kern ausblenden, abschwächen und verflachen. Was Marx schon an der klassischen bürgerlichen Ökonomie kritisiert hatte, das Steckenbleiben im bloß quantitativen Verständnis der Wertform, trifft auch auf den historischen Marxismus selber zu, der die Marxsche Werttheorie zu einer bloßen Variante der Ricardianischen zurechtstutzte. Als "Wertgesetz" interessierte diesen Marxismus am gesellschaftlichen Wertverhältnis bloß der quantitative Regulationsmechanismus, das Gelingen oder Nichtgelingen der "Allokation der Ressourcen" auf dem überhaupt nicht mehr in Frage gestellten Boden der Wertform, deren negative historische Qualität völlig außer Betracht blieb. Wie in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre interessierte nicht so sehr das WAS des Werts, sondern vielmehr das WIE. Dieser funktionalistischen Verkürzung, die ihre Konsequenz in der positivistischen Verkürzung des gesamten

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Theorieverständnisses hatte, entsprach eine Zurücknahme der Marxschen Kritik der Warenproduktion überhaupt zu einer bloßen Kritik des "blinden Marktes", während die Warenform als solche völlig unangetastet blieb.
Damit aber mußte auch der Marxsche Begriff des PRIVATEIGENTUMS völlig entstellt werden. Wert, Geld und Warenfetisch erschienen nicht mehr wie bei Marx als das reale DASEIN des Privateigentums, sondern vielmehr als diesem äußerliche, für sich seiende Kategorien. Die Totalität der Marxschen Kategorien einer KRITIK der politischen Ökonomie als Kritik der realen gesellschaftlichen Totalität des Wertverhältnisses zerfiel zu einem theoretischen Trümmerhaufen einander äußerlicher Einzelkategorien, aus dem sich der positivistisch gewordene bürgerliche Menschenverstand des Marxismus die verschiedensten Kombinationen zusammenbastelte. Aus dem Marxschen Totalitätsbegriff eines GESAMTGESELLSCHAFTLICHEN VERHÄLTNISSES verwandelte sich für die Marxisten das Privateigentum unter der Hand in die bürgerliche Lesart einer äußeren Willensbeziehung natürlicher und juristischer Personen auf DINGE. In dieser entstellenden Auffassung mußte eine Aufhebung des Privateigentums auf dem weiterexistierenden Boden von Wert, Ware und Geld als möglich und logisch erscheinen, im Sinne der authentischen Marxschen Theorie eine Absurdität. Der Staat, statt als ein Moment des gesamtgesellschaftlichen Verhältnisses des Privateigentums, konnte dann wie in der bürgerlichen Vulgärökonomie als dessen äußerer Widerpart betrachtet werden, das Staatseigentum als vermeintliches Gegenteil des Privateigentums.
Da sich für den Marxismus die Qualität der Wertform in eine ewige Selbstverständlichkeit verwandelt hatte wie Naturgrundlage und Atemluft, mußten ihm auch die verschiedenen Momente ihres gesellschaftlichen Daseins wie Ware, Geld, Kapital, Staat als an sich ewige "Dinge" erscheinen, auf die sich lediglich historisch verschiedene gesellschaftliche Willenssubjekte äußerlich-instrumentalistisch beziehen und ihre Interessen auf diesem Boden und in dieser Form durchsetzen. Folgerichtig wurde auch die Marxsche Bestimmung von Klassen und Klassenkampf auf den Kopf gestellt. Während Marx die modernen Klassen aus der historischen Entwicklung der Wertform selber abgeleitet hatte, ihr Dasein und ihre immanenten Interessen als bewußtlose Funktion des Wertverhältnisses und die Emanzipation der Arbeiterklasse demzufolge als dessen Aufhebung, rangierten bei den Marxisten die Klassen und ihr Interessengegensatz logisch VOR der Ableitung des Wertverhältnisses und diesem äußerlich. Der Wert wurde nicht mehr als die bewußtlose Bewegungsform der Gesellschaft selber einschließlich ihrer individuellen und korporativen menschlichen Bestandteile begriffen, als das "automatische Subjekt" (Marx), sondern bloß noch als die starre und quasi-naturhafte Grundlage, auf der die mehr oder weniger voraussetzungslosen Klassensubjekte ihren Interessengegensatz austragen und auf der sie ihr jeweiliges Machtterritorium abstecken. In soziologistischer Verflachung wurde die Geschichte des Kapitals zur bloßen Resultante von "Kräfteverhältnissen" der kämpfenden Klassensubjekte INNERHALB der Wertform und damit die Marxsche Klassentheorie zu einer bloßen Variante der bürgerlichen Willensillusion des abstrakten

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sozialen Subjekts, das seinen eigenen gesellschaftlichen Bedingungsgrund nicht weiß. In dieser entstellten Fassung konnte die Klassentheorie auch für Teile des bürgerlichen theoretischen Bewußtseins akzeptabel werden und drang in Gestalt soziologischer und sozialhistorischer Theoreme in den bürgerlichen positivistischen Wissenschaftsbetrieb ein.
Da der Wert so aus einem gesellschaftlichen Verhältnis zu einem vulgären äußerlichen Ding begrifflich verhunzt war und die Klassentheorie zu einem ebenso vulgären Soziologismus, richtete sich das theoretische Interesse der Marxisten mehr und mehr auf die bloß äußere Organisationsform der blind vorausgesetzten Wertökonomie. Teils sollten die nationale und internationale Zentralisation des Kapitals und der wachsende staatliche Sektor per se schon Kapitalismus und "Wertgesetz" aufheben (Reformisten), teils sollte die äußerliche Machteroberung der proletarischen Partei noch als notwendiger Faktor hinzutreten (Revolutionäre). Der Unterschied von Reformismus und Revolution wurde beiderseits nur in der politischen Sphäre gesehen, aufgehängt an der politisch-militärischen Machtfrage und am juristisch verkürzten bürgerlichen Eigentumsbegriff. Unverstanden blieb, daß die beiden feindlichen Brüder ihren Konflikt auf dem gemeinsam nicht grundsätzlich in Frage gestellten Boden der negativen, abstrakten Wertform als Vergesellschaftungsstruktur austrugen.
Die russische Oktoberrevolution konnte weder praktisch über das Bewußtsein der alten Arbeiterbewegung noch theoretisch über das Verständnis des damit verbundenen Marxismus hinauskommen. Zwar versuchte sie in ihrer "heroischen" kriegskommunistischen Phase in einem kühnen und gleichzeitig von der Not diktierten Anlauf das Geld abzuschaffen, doch blieb dieser Versuch auf die Konsumtionssphäre in wenigen Zentren (Petersburg) beschränkt und dem real noch großenteils vorkapitalistischen gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß völlig äußerlich. Die bloße Kritik des Geldes konnte auf den unentwickelten gesellschaftlichen Grundlagen, die eine Herausbildung des Wertverhältnisses im großen Maßstab noch vor sich hatten, nicht zu einer Kritik der Wertform selber fortentwickelt werden, weder praktisch noch theoretisch. Der revolutionäre Wille der Bolschewiki konnte nicht über die Schwelle des Werts hinauskommen.
Die gesellschaftliche Praxis der nachholenden Industrialisierung brachte stattdessen die Ideologie und den theoretischen Unbegriff einer "sozialistischen Warenproduktion" oder einer "geplanten Warenwirtschaft" hervor, im Sinne der Marxschen Theorie eine contradictio in adjecto. Auch ein "geplanter Markt" ist ein Markt, auch ein "sozialistisch" genannter Wert ist indirekte, abstrakte, negative Vergesellschaftung, genauso wie ein schwarzer und ein weißer Stein beides Steine sind. Der Begriff der gesellschaftlichen Planung führt sich so selber ad absurdum. Indem die vermeintlich revolutionäre 3. Internationale, bedingungslos ausgerichtet an den gesellschaftlichen Notwendigkeiten der Sowjetunion, mit dem Unbegriff der "sozialistischen Warenproduktion" endgültig programmatisch die Kritik der Warenproduktion überhaupt auslöschte, fiel sie zumindest formell sogar noch hinter das Erfurter Programm der Sozialdemokratie zurück. In der Linken beider Flügel der alten Arbeiterbewegung

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waren so die Lichter der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie schon ausgegangen, bevor diese Bewegung noch ihren historischen Offenbarungseid zu leisten hatte. Der russische Marxismus hatte trotz seiner relativen Verdienste und Anstrengungen am Ende dem alten Arbeiterbewegungs-Marxismus nur die Krone der Entstellung aufsetzen können. Er hat das Steckenbleiben der alten Arbeiterbewegung im Wertverhältnis auch theoretisch nicht überwunden, sondern vielmehr gerade endgültig besiegelt und mit dem falschen Schein revolutionärer Orthodoxie der Marxschen Theorie umgeben.
Auf eigentümliche Weise kam die historische Verkürzung und Entstellung der Marxschen Theorie auch im "westlichen Marxismus" zum Ausdruck. Auch dieser war keineswegs imstande, die Kritik des Wertverhältnisses selber radikal zu thematisieren. Sein Spezifikum gegenüber den Hauptströmen des Marxismus der 2. und 3. Internationale war die noch stärkere und abstraktere Betonung der sozialen, politischen und individuellen Subjektivität, ohne daß ein systematischer Ansatz zur Vermittlung der Subjekttheorie mit der Werttheorie und Kritik der Warenproduktion gelang. Es zeigt sich darin nicht nur die Beschränkung dieses "westlichen Marxismus" auf den theoretischen Horizont der Epoche, sondern auch seine Abkunft von der bürgerlichen Krisenphilosophie des abstrakten Warensubjekts. Das bürgerliche Subjekt, das sich in der Zirkulationssphäre zu Hause fühlt und dort seinen angestammten Tummelplatz und die Medien seiner Entfaltung findet, mußte den fortschreitenden kapitalistischen Vergesellschaftungsprozeß mit seinen Formen der zunehmenden Kapitalkonzentration, Verbürokratisierung und Verstaatlichung der "Lebensbereiche" als Bedrohung und tendenzielle Subjektvernichtung empfinden, ohne doch auch nur im mindesten über die warenlogischen Kategorien und damit über sich selbst hinausdenken zu können. Das geistige Resultat war eine ganze Kette von verschiedenen und in der Auseinandersetzung aufeinander bezogenen bürgerlichen "Subjektrettungsprojekten" auf der theoretischen, ideologischen und politischen Ebene: von Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche, Antisemitismus, Lebensphilosophie, Kulturpessimismus und Faschismus bis hin zum modernen Existentialismus, der seine rechten wie seine linken Ausgeburten produzierte.
Die Subjekttheorie des "westlichen Marxismus" ist ein Bestandteil dieses ideologischen Kraftfeldes und des darin wuchernden Ideen-Konglomerats. Dieser Marxismus hat nicht etwa gegen die Verkürzungen der 2. und 3. Internationale das Zentrum der Marxschen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft konkretisiert und erneut revolutionär herausgearbeitet, sondern ist nur noch weiter vor der Warenform in die Sphären der politischen und kulturellen Willens-Subjektivität geflüchtet. Trotz gegenteiliger, aber äußerlich bleibender und niemals eingelöster Beteuerungen wollte die Kritische Theorie der Frankfurter Schule letztlich die bürgerliche Aufklärung nicht revolutionär aufheben, sondern bloß positiv vollenden; sie wollte das bürgerliche Zirkulationssubjekt nicht wirklich abschaffen, sondern sein Königreich bloß emanzipatorisch verallgemeinern.
Gleichzeitig teilte sie auch die werttheoretische Bornierung des alten Arbeiterbewegungs-

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Marxismus weitgehend. Von vagen Hinweisen auf die Mysterien der "Tauschgesellschaft" abgesehen blieben ihre Kategorien ebenso unkritisch auf den Rahmen des Wertverhältnisses bezogen: die Begrifflichkeit der "kapitalistischen Planwirtschaft" (Pollock) und des "autoritären Staates" (Horkheimer) markiert die phänomenologisch beschränkte Eingebundenheit dieses Denkens in die Warenlogik. Nicht sehr verschieden von den Marxisten der 2. und 3. Internationale sprachen die kritischen Theoretiker von der "Abschaffung der Zirkulationssphäre" durch den Kapitalismus bzw. den Staat selbst, womit sie wie diese die Beschränkung ihres theoretischen Zugriffs auf den quantitativen Regulationsmechanismus dokumentierten, während die ungebrochene qualitative Weiterexistenz der Warenform selbst (und damit natürlich auch der Zirkulation in ihrem qualitativen Dasein) als zentrale Fragestellung fast völlig ausgeblendet blieb. Im Unterschied zu den traditionellen Arbeiterbewegungs-Marxisten sah die Frankfurter Schule in dieser Phänomenologie der kapitalistischen Metamorphose allerdings nichts Erfreuliches und Fortschrittliches, keinen wie immer gearteten Übergang zum "Sozialismus", sondern vielmehr das unabwendbare Verhängnis und das traurige Ende der Aufklärung. Darin drückt sich nicht nur und nicht so sehr überlegenes Problembewußtsein aus, sondern vielmehr in erster Linie das resignierende Bewußtsein von der Abtakelung des bürgerlichen Zirkulationssubjekts, dem die Kritische Theorie nostalgisch nachtrauerte und außer dem sie kein anderes zu benennen wußte. Hinter der verzweifelt festgehaltenen Un-Bedingtheit des Subjekts verbirgt sich bloß dessen Befangenheit als Marionette der Warenlogik. Die Kritische Theorie konnte und wollte nicht aussprechen, daß der Ausgangspunkt freier, emanzipativer menschlicher Subjektivität nur die Erkenntnis der Bedingtheit aller Subjektivität durch die Warenform und damit die theoretische und praktische Konkretisierung von deren Kritik und Aufhebung sein kann. Indem sie diese konkrete Zuspitzung der Kritik des Wertverhältnisses verweigerte, ebenso wie der übrige "westliche Marxismus", und sich an die äußerliche Unbedingtheit des Subjekts gegenüber dem Wert klammerte, blieb auch die Kritische Theorie im entscheidenden Punkt flach und unwahr, der bürgerlichen kulturpessimistischen Tradition des vergehenden Zirkulationssubjekts verpflichtet.
Die neue Linke war nicht der Überwinder, sondern bloß der doppelte Erbe des Arbeiterbewegungs-Marxismus und der westlichen Subjekttheorie, deren verschiedene Varianten sie in rascher Folge noch einmal durchlief und dabei eklektisch amalgamierte. Ihr scheinbar souveränes Umgehen mit den theoretischen und politischen Hervorbringungen der Vergangenheit, deren einst unversöhnliche Gegensätze sie durch ihren Eklektizismus relativierte, war bloß ihrer Hilflosigkeit und ihrem Dasein als ideologischer Wurmfortsatz einer zu Ende gegangenen Epoche emanzipatorischer Theorie und Praxis geschuldet. Das Hauptkennzeichen der neuen Linken, besonders in der BRD, war die unheilige Allianz eines wert- und politiktheoretischen Sozialdemokratismus mit der Frankfurter Subjekttheorie. Im größeren europäischen und sogar Weltmaßstab reproduzierte sich diese ideologische Verheiratung zweier neu herausgeputzter Leichen als das Zusammenfließen der nördlich-reformistischen und der

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südlich-subjektivistischen Tradition, deren Ferment in vieler Hinsicht die durch ihr historisches Schicksal der Emigration und Zerstreuung weltweit bekannte Kritische Theorie der Frankfurter Schule bildete.
 Der italienische Operaismus etwa, der seinerseits wieder auf die deutsche Linke maßgeblich zurückwirkte, verband im "Planstaat"-Begriff Negris u.a. das alte Hilferdingsche sozialdemokratische Theorem von der angeblichen Aufhebung des "Wertgesetzes" durch äußerliche quantitative Regulationsmechanismen mit der abstrakten Unbedingtheit des falschen, warenlogisch verblendeten Subjektbegriffs, um zu einer vermeintlich "wilden" subjektiven Revolte auf dem unbegriffenen Terrain des qualitativ unangetasteten Wertverhältnisses und gestützt auf Randgruppen der alten Arbeiterbewegung zu gelangen.
Die revolutionären Wallungen der neuen Linken, die um jenes ominöse Jahr 1968 herum das vage Gespür eines Teils der Jugend für das Ende der Nachkriegsepoche und den Beginn eines neuen Krisenzeitalters des Weltkapitals widerspiegelten und zum Ausdruck brachten, können nicht über die inhaltliche Leere dieses vorübergehend aufflackernden revolutionären Willens hinwegtäuschen. Diese Leere wurde mit den zusammengemixten Antworten, Zielsetzungen, Programmen und Erklärungen der Vergangenheit nur scheinbar gefüllt. Das rasche und nachdrückliche Scheitern der diversen Ansätze eines dem Wertverhältnis gegenüber haltlosen revolutionären Willens, von den Operaisten bis zu den K-Gruppen, bereitete selber den darin schon angelegten reformistischen Umschlag vor. Die weltweite gesellschaftliche Wende nach rechts, vom sozialliberalen Keynesianismus zum neokonservativen Monetarismus, wurde begleitet von einer ebensolchen Rechtswendung der neuen Linken, die ihre hohlen revolutionären Hoffnungen begrub und größtenteils zu einem flachen Neo-Reformismus überging.
Besonders unrühmlich tun sich hier die französische und die deutsche Linke hervor. Während erstere neue Geborgenheit im Westentaschen-Nationalismus und in einem mit dem Krokodils-Charme des Konvertitentums erneuerten kalten Krieg gegen die unbegriffene und unaufgearbeitete östliche Resultante der alten Arbeiterbewegung sucht, inclusive Anbetung der Atombombe, hat sich die deutsche Linke in ihrer unstillbaren Gier nach unmittelbarer politischer Machbarkeit zwar ebenfalls der bürgerlichen Republik an den Hals geworfen, ideologisch ihren warenfetischistischen Finanzierbarkeits-Reformismus aber eher mit irrationalistischen und naturmystischen Momenten angereichert. Der deutsche Wald ist der Atombombe in den Farben Frankreichs als Kultobjekt einer Ex-Linken durchaus würdig. Der Irrationalismus war schon immer nicht das Gegenteil der Aufklärung, sondern ihre eigene Nachtseite, der finstere Schatten, der von dem unaufgelösten und blind vorausgesetzten gesellschaftlichen Wertverhältnis geworfen wurde. Wenn die französische und die deutsche Linke ihrer bürgerlichen Tradition gemäß wieder in rationalistische und irrationalistische Ideologieträger auseinanderfallen, dann halten sie sich nur unwissentlich gegenseitig den Spiegel ihrer Unfähigkeit vor, aus dem bürgerlichen Gefängnis der warenlogischen Kategorien auszubrechen.
Der akademisch alteingesessene Teil der deutschen neuen Linken ist schon immer auch

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ihr am meisten sozialdemokratisch kontaminierter gewesen. Dieses Erbübel mußte gerade in der Krise mit voller Gewalt durchschlagen. Die gelernten Linkskeynesianer mit einem Schuß Traditions-Marxismus, die theoretisch vom inzwischen endgültig auf Staatstreue eingeschworenen Frankfurter Subjektrettungs-Projekt ergänzt werden, tummeln sich heute mit bodenloser politökonomischer Geschwätzigkeit im Dunstkreis der grün-sozialdemokratischen parlamentarischen Politik-Spiele, bestenfalls noch pseudo-orthodox durch den ebenso hohlen wie öden Verweis auf die abstraktjuristische Eigentumsfrage, die in dieser Form selber ein bürgerlicher Gedanke ist, von den Kategorien des Keynesianismus äußerlich distanziert.
Die falsche Unmittelbarkeit des Ökologismus, in der die abstrakte Naturbeziehung (Produktivkraftkritik) für die zerstörerischen Konsequenzen der betriebswirtschaftlichen Warenlogik in Ost und West verantwortlich gemacht wird, bildet die ideale ideologische Flankendeckung für die staatstreuen ökonomischen Reformprogramme, deren Haltlosigkeit sich schon in ihrem jämmerlichen, der fast-food-Reklame nachempfundenen optimistischen Sprach-Gestus beweist. Die Konzeptionen des "radikalen Reformismus" (Hirsch) oder der vermeintlichen "Wege ins Paradies" (Gorz) tragen allesamt das Kainsmal des Warenfetischismus und der immer vorausgesetzten Lohnarbeit an sich.
Die theoretisch stumpfe und politisch geschwätzige Hilflosigkeit der alten wie der neuen Linken angesichts der neuen Krise des Weltkapitals erweist sich gerade darin, daß sie nicht einmal der Fragestellung nach dieses neue Krisenzeitalter als Schranke des Wertverhältnisses selber zu entziffern vermag. Aber die ökologische wie die ökonomische Krise drücken heute, über die früheren Krisenmechanismen des Kapitals weit hinausgehend, die Destruktionspotenz des Wertverhältnisses selber direkt aus. Erst jetzt hat sich die "zivilisatorische Mission des Kapitals" (Marx) völlig erschöpft, erst jetzt tritt die reine, negative Zerstörungspotenz des Werts gegenüber Mensch und Natur absolut hervor.
Wir sehen daher keinen Sinn darin, einen pseudo-taktischen Bezug zu den politischen Formen der bisherigen Linken zu entwickeln, die allesamt bewußtlos auf dem Boden des Wertverhältnisses und damit der Warenproduktion in einer ihrer möglichen Varianten angesiedelt sind und agieren. Eine Erneuerung des verlorenen sozialistischen Ziels kann nur in einer fundamentalen Kritik der Warenproduktion bestehen, die bewußt den Bannkreis des Fetischismus zunächst auf der theoretischen, dann aber auch auf der programmatischen und strategischen Ebene durchbricht.
Unsere Absicht ist es, in der Landschaft der sozialen Ideen eine neue Front aufzurichten mit der zentralen Positionsbestimmung, daß die konkrete theoretische und praktische Aufhebung des Wertverhältnisses selber heute historisch auf der Tagesordnung steht und von der Linken bei Strafe des Untergangs nicht mehr begriffslos auf eine imaginäre ferne Zukunft verschoben werden kann.

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4. Die alte Arbeiterbewegung konnte nur Entwicklungshelfer kapitalistischer Vergesellschaftung sein

Der verkürzte, instrumentalistische Theoriebegriff und sein Inhalt, das Steckenbleiben der alten Arbeiterbewegung bzw. des mit ihr verschmolzenen Marxismus im Wertverhältnis und damit in der Warenlogik kann erst ganz begriffen werden, wenn die historische gesellschaftliche Grundlage dieses verkürzten Denkens im Gewande der Marxschen Theorie aufgedeckt ist. Nicht subjektives Unvermögen war die Ursache, sondern die noch mangelnde Entfaltung der Wertform selber. Wir halten in schroffem Gegensatz zur grün-alternativen Produktivkraftkritik daran fest, daß der Kapitalismus trotz aller Greuel seiner Entwicklungsgeschichte einen ungeheuren Fortschritt aller vorindustriellen Gesellschaft und deren heute unvorstellbar rohen Formen und Lebensstandards gegenüber bedeutet hat. Das "automatische Subjekt" des Werts war einmal bitter nötig, um die Produktivkräfte und die Vergesellschaftung über die Zustände des Grundeigentums und der Blutsverwandtschaft hinauszuführen, unter denen die große Masse der Menschen nicht viel besser lebte als Haustiere.
Wenn heute die rein formelle, an die Logik des Werts gekettete Emanzipation an ihre Grenzen stößt und aufgehoben werden muß, um der freien Subjektivität des seine Gesellschaftlichkeit bewußt kontrollierenden "total vergesellschafteten Individuums" (Marx) Platz zu machen, so dürfen wir doch nie vergessen, daß ohne die Herausbildung und schließliche Verallgemeinerung der Wertform der Gedanke menschlicher Subjektivität und Individualität gar nicht existierte. Und solange der Kapitalismus diese Verallgemeinerung des Werts noch nicht völlig geleistet hatte, solange er noch nicht real als umfassendes Welt-Produktionsverhältnis hergestellt war, solange konnte auch nicht konkret über ihn hinausgedacht, geschweige denn praktisch über ihn hinausgeschritten werden. In einer Gesellschaft des erst noch werdenden, sozusagen jugendlichen Wertverhältnisses als eigener Gesellschaftsformation blieb die Marxsche Theorie eine zwar mögliche, aber doch einzigartige wissenschaftliche Leistung, die von den Zeitgenossen nicht in ihrer vollen Tragweite begriffen werden konnte. Und auch Marx selbst war noch nicht imstande, auf diesen unreifen gesellschaftlichen Grundlagen seine Theorie zu Ende zu führen; so ist es kein Zufall, daß er nur vage Hinweise für ein konkretes Programm der Aufhebung des Wertverhältnisses und damit der Warenproduktion als solcher geben konnte. Dies war keineswegs eine seinem theoretischen Ansatz methodisch immanente Tugend, wie es sich als Ausrede der in dieser Hinsicht erst recht hilflosen Marxisten seither eingebürgert hat, sondern vielmehr die Not der praktischen Unmöglichkeit in einer Epoche, in der sich das Wertverhältnis als Entwicklungsmotor noch nicht historisch ausgeschöpft hatte.
Der Beginn einer Entwicklung des Kapital- oder Wertverhältnisses auf seinen eigenen Grundlagen und damit die Industrialisierung in großem Maßstab reichen kaum hundertfünfzig Jahre zurück. Den größten Teil dieser Zeit, bis etwa zum Ende des Zweiten Weltkriegs, benö-

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tigte das Kapitalverhältnis, um eine nichtkapitalistische Umgebung zu zersetzen und aufzusaugen. Von einem reinen Wirken der Gesetzmäßigkeiten des Kapitals im Allgemeinen kann daher erst in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen werden. Je weiter wir zurückgehen in die Geschichte der ersten Hälfte des 20. und die des 19. Jahrhunderts, desto mehr wird die dem Kapitalverhältnis immanente Logik (einschließlich seiner Krisenlogik) gefiltert und gebrochen durch die Existenz großer vorkapitalistischer Sektoren der gesellschaftlichen Reproduktion sowie traditionelle Verkehrs- und Lebensverhältnisse. Die Zeit der Weltkriege war weder das letzte noch das höchste Stadium des Kapitalismus, sondern vielmehr erst dessen blutige Geburtshelfer-Epoche, in der alle vorkapitalistischen Sektoren und Lebensformen endgültig zerstört wurden und verdampften, die feudalen ökonomischen und politischen Restbestände ebenso wie die alte Familienstruktur oder das Kolonialsystem.
Der wirklich als gesellschaftliche Totalität mit sich identische Kapitalismus ist erst der heutige. Und erst heute wird deswegen auch die wahre Krisenpotenz des Wertverhältnisses an ihm selber sichtbar, erst von dem historischen Stadium an, in dem es wirklich umfassend und vollgültig geworden ist. Die historische Möglichkeit der Revolution, d.h. der Revolution über den Wert hinaus als reale Abschaffung der Warenproduktion, ist nicht einer Dialektik der Erinnerung einer Lohnarbeiterklasse an noch greifbare Traditionen handwerklicher Selbständigkeit geschuldet und damit unwiederbringlich in der Vergangenheit gescheitert, wie es im Gefolge der versagenden Frankfurter Subjekttheorie behauptet worden ist (Pohrt, Breuer), sondern im Gegenteil erst objektiv greifbar herangerückt in einer Epoche, in der die Wertform der kapitalistischen Vollvergesellschaftung herausgebildet und an sich selber zur Krise geworden ist, gerade weil sie jene Erinnerungen endgültig ausgelöscht und ihnen jegliche materielle Grundlage entzogen hat.
Die alte Arbeiterbewegung hat ganz und gar nicht versagt, sondern vielmehr ihre historisch mögliche Aufgabe geradezu vorbildlich erfüllt. Freilich konnte diese Aufgabe gar nicht in der Abschaffung des Wertverhältnisses bestehen, sondern umgekehrt erst in dessen vollständiger Durchsetzung, die teilweise unter der Maske des "Sozialismus" aufzutreten genötigt war. Um dies zu begreifen, ist es nötig, die Kategorie des Werts von einem flachen, eng ökonomisch-definitorischen Verständnis abzulösen und als gesellschaftliche Totalitätskategorie gerade in ihrer historischen Dimension wiederherzustellen.
Der Wert ist kein äußerliches Ding und keine reale Eigenschaft der Dinge an sich, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem die ABSTRAKTION der VERGANGENEN GESELLSCHAFTLICHEN ARBEIT den Produzenten NOTWENDIG als ein solches Ding und eine solche Eigenschaft ERSCHEINT. Als GESELLSCHAFTLICHE Dinge sind die Produkte FÜR DIE PRODUZENTEN, IN IHREM BEWUSSTSEIN, nicht das, was sie an sich selber sind, nämlich "ordinär sinnliche Gegenstände" (Marx), sondern "abstrakte Arbeitsgallerten" (Marx), unsinnliche gesellschaftliche Gegenstände, deren menschlich-nützliche Konkretheit gerade in

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dieser ihrer gesellschaftlichen Hinsicht AUSGELÖSCHT ist. Nur insofern sind sie "Waren", als das Dasein abstrakter Gesellschaftlichkeit nämlich, die sich für die Produzenten, in ihrem Bewußtsein, nicht als ihre eigene Gesellschaftlichkeit darstellt, sondern als "Werteigenschaft" der DINGE. In der ausgesonderten Ware des allgemeinen Äquivalents (Geld) inkarniert sich diese Abstraktion als sinnlicher Gegenstand, obwohl der Gegenstand (Gold etc.) an sich selber genausowenig "gesellschaftlich" ist wie ein Gesteinsbrocken von der Rückseite des Mondes. Für die Mitglieder einer warenproduzierenden Gesellschaft aber kann sich die Gesellschaftlichkeit ihres eigenen Stoffwechselprozesses mit der Natur nicht anders darstellen als in diesem "verrückten" äußerlichen Medium, dem bewußtlos-historischen Produkt ihrer eigenen Abstraktion, das dem Individuum immer schon als zweite Quasi-Natur vorausgesetzt ist.
Aber indem der Warenproduzent als homo öconomicus nur ein indirekt und deshalb bloß abstrakt gesellschaftlicher Mensch sein kann, für den sich diese seine Gesellschaftlichkeit nur durch ein äußerliches DING vermitteln kann, muß er trotzdem in eine Beziehung zu den anderen Gesellschaftsmitgliedern treten, da die Waren sich nicht selber zu Markte tragen, nicht miteinander verhandeln, die äußeren Bedingungen der Warenproduktion und des Warentausches herstellen können usw. Die Form, in der die Menschen auf Basis der Warenproduktion miteinander selber in Beziehung treten, kann jedoch nicht unmittelbar in der gemeinsamen Planung und Ausführung der sinnlichkonkreten Funktionen ihrer Reproduktion bestehen, sondern muß selber eine abstrakte, indirekte Gestalt annehmen, nämlich die des VERTRAGS. Der Vertrag aber konstituiert als sein allgemeines gesellschaftliches Medium das RECHT und den warenproduzierenden Menschen als gesellschaftliches RECHTSSUBJEKT. Die gesellschaftliche Allgemeinheit dieser Rechtssubjekte ist der STAAT als RECHTSSTAAT. Wie sich die indirekte, abstrakte Gesellschaftlichkeit des Stoffwechselprozesses mit der Natur im verrückten, äußeren Dasein der Arbeit als "Wert" und Geld darstellt, als "Ökonomie", so der gesellschaftliche Verkehr der in diesem Dasein befangenen Menschen als Recht und Staat, als "Politik" in diesem Medium der abstrakten Rechts-Subjektivität und Staatsbürgerlichkeit. Wie das Geld die "ökonomische" abstrakte Allgemeinheit darstellt, so der Staat die "politische" abstrakte Allgemeinheit der Rechtssubjekte. Der Staat oder Rechtsstaat ist nur die andere Seite des Geldes, beides sind Momente einer einzigen Totalität, der des Wertverhältnisses.
Diese Momente abstrakter, indirekter Vergesellschaftung aber bilden einen ungeheuren Fortschritt gegenüber aller vorherigen Gesellschaftlichkeit, die über Grundeigentum und Blutsverwandtschaft als Produktionsverhältnis noch unmittelbar naturverhaftet war und in der die physische GEWALT noch als unmittelbare Verkehrsform der sozialen Beziehungen auftrat. Mit der Warenproduktion wurde die bloß äußere, gewaltsame Aneignung des Mehrprodukts in seiner unmittelbar sinnlichen Gebrauchswertgestalt abgelöst von der Aneignung des abstrakten Reichtums in der Geldform durch abstrakt "freie", GLEICHE Vertragspartner und Rechtssubjekte. Soweit der Herr oder König usw. als Käufer oder Verkäufer auftrat,

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soweit mußte er auch mit dem Gegenüber dieser Beziehung ungeachtet dessen Stand und Person in ein VERHÄLTNIS VON GLEICH ZU GLEICH treten, ob es sich nun um einen anderen Herrn und König oder bloß um einen Kaufmann, Bauern usw. handelte. Solange jedoch die Wertform in der gesellschaftlichen Reproduktion nur ganz marginal und äußerlich war, auf "Nischen und Poren" (Marx) beschränkt, solange mußte auch diese abstrakte gesellschaftliche Beziehung "gleicher" Rechtssubjekte marginal und äußerlich bleiben; solange blieb auch die unmittelbare Gewalt die hauptsächliche gesellschaftliche Verkehrsform.
Erst der Kapitalismus hat mit der Verwandlung der menschlichen Arbeitskraft selber in eine Ware die Warenproduktion verallgemeinert und damit aber auch die abstrakte Rechtsform ("Verrechtlichung") aller gesellschaftlichen Beziehungen. Die unmittelbaren, persönlichen Gewaltverhältnisse des Feudalismus wurden abgelöst durch die unpersönliche Rechtsform der abstrakten Allgemeinheit; die krause und kuriose Vielfalt der lokalen und regionalen "Rechte", die in Wirklichkeit unmittelbar mit jeweils bestimmten Berufen oder persönlichen und lokalspezifischen Strukturen verwachsen waren ("das Recht" der Zirkelschmiede, der Stadt Nürnberg, der Familie von Schreckenstein usw., dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen) und des Charakters der abstrakten Allgemeinheit entbehrten, mußten vor dieser Logik der Ware verblassen. Vom Standpunkt der verallgemeinerten Warenproduktion des Kapitalverhältnisses aus ist das feudale Recht noch kein wirkliches Recht, ebensowenig wie die vorkapitalistischen Institutionen ein "Staat" im eigentlichen Sinne sind und schon gar nicht ein "Rechtsstaat".
Den quasi-"natürlichen" Rahmen, den sich diese Warenproduktion als Kapitalverhältnis, Recht und Staat zunächst nur setzen konnte, bildete die NATION als bestimmte territoriale bzw. geographische und/oder sprachlich-kulturelle Einheit. Auch Nationen im modernen Sinne sind ein Produkt erst der kapitalistischen Entwicklung. Nationen, an sich diffuse und keineswegs eindeutige Zusammenhänge verschiedener Art, meist aus dem Zusammenwachsen stammesmäßiger (und also letztlich blutsverwandtschaftlicher) Einheiten zu größeren Sprach- und Kultur-Räumen etc. entstanden, hatten in vorkapitalistischen Formationen keine wesentliche Bedeutung; vor allem nicht für die Formen des Interessenkampfes. Noch im 16. Jahrhundert hat Nürnberg gegen Ansbach Krieg geführt. Die Nation war ein ziemlich vages und kaum "identitätsstiftendes" sozialhistorisches Gebilde. Dies änderte sich grundlegend mit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Waren- und Rechtsform benötigte für ihre Entwicklung den Rahmen einer größeren territorialen, soziokulturellen und politischen Einheit. Das an sich nur lose und in vieler Hinsicht vage Gebilde des nationalen Zusammenhangs wurde zur ideologischen und politischen "Identität" des dynamisierten Werts, die "Nationalisierung der Massen" zur revolutionären Potenz gegen die Hemmnisse der feudalen Produktionsweise. Gerade weil der bis dahin lose nationale Zusammenhang ein bereits vorgefundener war und seine Wurzeln bis auf die Stammesgesellschaft hinab hatte, konnte er zur vermeintlichen "Naturgrundlage" der sich über die Warenform organisierenden Gesellschaften stilisiert werden.

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Die heraufkommende abstrakte Allgemeinheit nistete sich im Bärenfell des Nationalismus ein.
Mit der Tendenz des Kapitalismus zur Verallgemeinerung und Totalisierung der Warenproduktion ging gleichzeitig notwendig einher die Tendenz zur Verwandlung aller Menschen dieser Gesellschaft in tagtägliche Käufer und Verkäufer und damit in abstrakt freie und gleiche Rechtssubjekte. Sobald aber dieses gesellschaftliche Dasein aus der Marginalität heraustrat, mußte es sich auch in eine allgemeine Ideologie von ungeheurer historischer Durchschlagskraft verwandeln; die vollständige Herstellung der abstrakten Freiheit und Gleichheit der Rechtssubjekte fand in der Idee und praktischen Herstellung der DEMOKRATIE ihren gültigen Ausdruck. Die Nationalisierung der Massen wurde ergänzt und erweitert durch ihre DEMOKRATISIERUNG, zunächst dem ideologisch-politischen ANSPRUCH nach, wie ja auch die Nation zunächst erst das Geltendmachen eines neuen, revolutionären Anspruchs dem Feudalismus gegenüber war. Die Forderung und Losung der Demokratie mußte zum wichtigsten Bannerträger der bürgerlichen Epoche werden, weil sie der immanenten Logik der Warenproduktion als Kapitalverhältnis selber entspringt und von dieser Logik letztlich erzwungen wird. Diese Logik fordert sukzessive die reale Herausbildung des totalen, reinen Rechtssubjekts und damit den vollen Rechtsstaat oder die reine Demokratie, die nichts weiter sein kann als die voll ihrem Begriff entsprechende abstrakte Allgemeinheit der nahezu total monadisierten abstrakten Geld- und RechtsIndividuen, die vollständig der Wertform unterworfen sind. Die reine Demokratie ist daher die letztlich einzig dem mit sich identisch gewordenen Kapitalverhältnis als Sphäre oder Medium der voll ausgebildeten abstrakten Staatsbürgerlichkeit entsprechende Staatsform; Wertform, Geld, Lohnarbeit, Rechts-Subjektivität und Verrechtlichung bzw. Rechtsstaat und Demokratie bilden so eine einzige Totalität des Wertverhältnisses oder Privateigentums, das nur der juristische Name dieses gesamtgesellschaftlichen Verhältnisses ist. Der Wert ist nicht etwa ein "wirtschaftliches Ding", dem Recht, Staat, Nation und Demokratie oder "Politik" äußerlich wären, sondern im Gegenteil die Totalität dieser "gesellschaftlichen Sphären", die sich als solche überhaupt erst mit der Totalisierung des Werts herausgebildet haben.
Diese Totalisierung aber ist selber ein historischer Prozeß und konnte nicht auf einen Schlag ins Leben treten. Wie sich das Kapitalverhältnis bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt durch vorkapitalistische Sektoren, Reste und Schlacken hindurchfressen mußte, so auch gerade hinsichtlich der Rechtsform der abstrakten Privatheit wie Allgemeinheit und der Demokratie. Die Herausbildung der abstrakt gleichen Rechtssubjekte und der demokratischen Staatsbürgerlichkeit hinkte sogar um etliches hinter der Ausbreitung von Lohnarbeit und Warenproduktion her. Auch die Nationen als Rahmen der kapitalistisch werdenden Staaten gingen der Herstellung voller Demokratie um mehr als ein Jahrhundert voraus. Damit wurde ein spezifisches historisches Spannungsfeld erzeugt, in dem wir die alte Arbeiterbewegung und den ihr entsprechenden traditionellen Marxismus ansiedeln müssen. Der sich entwickelnde

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Kapitalismus war zunächst noch ganz von feudalen Lebens- und Verkehrsformen durchsetzt; seine sozialen Charaktere traten, im Gegensatz zur Logik der abstrakten Individualität oder Privatheit und Allgemeinheit, erst selber noch in einer STÄNDISCHEN Form auf. Die neuen Klassen erschienen als "dritter" bzw. "vierter Stand" (neben Adel und Geistlichkeit).
Die embryonalen abstrakten Rechtssubjekte und Staatsbürger waren noch eingebettet in das Gefüge vorkapitalistischer Zusammenhänge und mußten teilweise selber noch in feudaler Verkleidung agieren. Der Kapitalist, der objektiv und oft auch subjektiv im Gegensatz zu den feudalen Zwängen und Gewohnheiten stand, trat seinem Lohnarbeiter gegenüber selber in feudal-patriarchalischer Weise auf und dieser umgekehrt trug noch in vieler Hinsicht die Züge des leibeigenen Bauern. Er mußte vor dem "Herrn" die "Mütze ziehen" und war oft willkürlichen Geld- oder sogar Prügelstrafen ausgesetzt. Auch hieran läßt sich ermessen, welch ungeheurer Fortschritt zunächst die Herausbildung der abstrakten Rechtssubjekte und formal gleichen Staatsbürger war, weil sie unerbittlich solchen Verhältnissen die Grundlage entzog. Aber deren Überwindung hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert hineingezogen; vor allem die volle staatsbürgerlich-demokratische Gleichstellung der Lohnarbeiter ließ auf sich warten. Zunächst war die demokratische Gleichheit nur für die "besitzenden Stände" gedacht, auch ihrer eigenen Ideologie nach. Nur der linkeste Flügel selbst der französischen Revolution trat für die volle demokratische Gleichheit ohne jede Ausnahme ein. Bekanntlich galt in Preußen bis 1918 das Dreiklassenwahlrecht und das Wahlrecht für Frauen wurde in vielen Staaten erst im 20. Jahrhundert allmählich eingeführt, in der superdemokratischen Schweiz bis heute nicht.
Der Grund dafür ist leicht zu erraten. Die empirische Bourgeoisie des 19. und noch des beginnenden 20. Jahrhunderts dachte nicht daran, bruchlos und bedingungslos der Logik ihrer eigenen Produktionsweise zu folgen. Die schmerbäuchigen Honoratioren-Bourgeois, wie sie zur Karikatur reizen und noch heute in manchen Provinzstädten in ihrer ganzen Widerlichkeit frei herumlaufen (Balzac hat ihnen unsterbliche Denkmale gesetzt), waren selber noch viel zu sehr in den feudalen Lebensformen befangen, als daß sie nicht die volle Demokratisierung gefürchtet hätten. Befangen in bestimmten Lebensverhältnissen, in denen sich die abstrakte Allgemeinheit erst allmählich ausbilden konnte, und selbstverständlich ohne jeden Begriff von dem, was sie selber objektiv waren, mußten diese damaligen Repräsentanten des Kapitals der Illusion erliegen, mit der vollen Demokratie werde quasi automatisch ein Zustand herbeigeführt, in dem die Lohnarbeiter auf dem Wege "demokratischer Mehrheiten" zur Enteignung der Kapitalisten schreiten würden. Dahinter steht selbstverständlich die vulgärpositivistische, juristisch verkürzte bürgerliche Auffassung vom Privateigentum, das nicht als gesamtgesellschaftliches Verhältnis begriffen werden kann. Gerade als solches aber wird es, weit davon entfernt, in Gefahr zu geraten, durch die volle Demokratisierung erst vollgültig und in reiner Form herausgearbeitet; erst in dieser reinen Form der abstrakten Staatsbürgerlichkeit hält es auch den Lohnarbeiter als freien Privateigentümer seiner Ware Arbeitskraft fest und

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produziert ihn in reiner Form als Produzenten des Kapitals selber, der außer dem "Arbeitsplatz" keine anderen Götter mehr hat.
Der hier skizzierte historische Tatbestand erscheint dann kaum als verwunderlich, wenn das Wertverhältnis als einmal in Gang gesetzte, den empirischen Individuen sich aufherrschende Entwicklungslogik (und insofern als "automatisches Subjekt") begriffen ist. Dann muß nämlich keineswegs "der Kapitalist" oder "die Kapitalistenklasse" als SUBJEKTIVER SOZIALER WILLENSTRÄGER der kapitalistischen Entwicklung von vornherein vorausgesetzt werden, wie es der soziologistischen Willensillusion entspricht. Wie zu einem gegebenen Zeitpunkt der einzelne Kapitalist in Gegensatz zur gesamtkapitalistischen Entwicklung geraten mag und auf dem Wege des Bankrotts oder des staatlichen Eingriffs zur Räson kapitalistischer Logik gebracht werden muß, so kann auch die empirische Bourgeoisie einer bestimmten Übergangsepoche in ihrer Gesamtheit zum Hemmnis oder Bremsfaktor einer höheren Entfaltung kapitalistischer Entwicklungslogik werden. Es mußte keineswegs die verfettete, besonders in Deutschland am Rockzipfel des Junkertums hängende HonoratiorenBourgeoisie selber als soziales und politisches Subjekt sein, das dem eigentlichen, mit sich identischen Kapitalismus des späteren 20. Jahrhunderts den Weg freischaufelte.
Die Rede vom "Verrat des Bürgertums an der Demokratie" enthüllt sofort das ganze Geheimnis der alten Arbeiterbewegung. Dadurch, daß das empirische Bürgertum und Spießbürgertum einer bestimmten Epoche vor der weiteren Entfaltung des Wertverhältnisses zur Totalität haltmachte und seine schäbigen, noch ständisch befangenen Vorurteile dagegen geltend machte, konnte es so erscheinen, als wären das "kapitalistische Interesse" und die volle Demokratie bzw. Rechtsstaatlichkeit keineswegs identisch. Für ein unmittelbarkeitsfixiertes, schon warenfetischistisch konstituiertes Bewußtsein, das die empirisch vorgefundenen sozialen Interessenlagen und Ideologien umstandslos mit dem Produktionsverhältnis und dessen Entwicklungslogik in eins setzt, mußte es sogar so erscheinen. Die Arbeiterbewegung und der mit ihr verschmolzene Marxismus übertrugen nur die Willensillusion des bürgerlichen Individuums auf die sozialen Klassensubjekte und nahmen daher den mangelnden Willen der unmittelbar vorgefundenen Bourgeoisie zur Demokratie als Indiz dafür, daß volle oder "reine" Demokratie mit dem Kapitalismus unvereinbar sei. Sie wiederholten die Illusion der Bourgeoisie selbst, nur mit umgekehrten Konsequenzen. Dies war natürlich nur möglich, weil die alte Arbeiterbewegung den Wert selber noch begriffslos voraussetzte und ihr Interesse nur in dieser Form und auf diesem Boden äußerte. Etwas anderes konnte sie auch gar nicht tun, weil das Wertverhältnis noch nicht genügend entfaltet war und alle Interessen, auch die fortgeschrittensten, noch nicht über die Grenzen dieser Form hinausreichen konnten. Indem die Arbeiterbewegung ihr wirkliches Interesse auf dem Boden der Wertform geltend machte, konstituierte sie sich als BÜRGERLICHES Subjekt gegen die empirische Honoratioren-Bourgeoisie. Nicht besser konnte dies ausgedrückt werden als in ihrem offiziellen Namen: SOZIALDEMOKRATIE. Arbeiterbewegung und Marxismus wurden so ironischerweise zu

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Motoren der kapitalistischen Entwicklung selbst; wie der kapitalimmanent bleibende soziale Interessenkampf der Gewerkschaften, insbesondere die Begrenzung des Arbeitstages, zur Schubkraft der Produktion des relativen Mehrwerts und der weiteren kapitalistischen Produktivkraftentwicklung wurde, so der politische Kampf der Arbeiterparteien zum Motor der Demokratisierung, d.h. der totalen Herstellung abstrakt freier und gleicher Rechtssubjekte als Voraussetzung einer Totalisierung der Lohnarbeit. Selbst die Koalitionsfreiheit, unerläßliches Regulationsmoment eines hochentfalteten gesamtgesellschaftlichen Kapitalverhältnisses, mußte gegen das empirische Interesse mächtiger Einzelkapitale durchgekämpft werden.
Die alte Arbeiterbewegung hat die ihr mögliche Aufgabe erfüllt, im positiven wie im negativen Sinne. Sie mußte zum emphatischen Streiter für Recht, Staatsbürgerlichkeit und volle Demokratie werden: "Die das Recht uns verfochten, und Unrecht drum litten! Hoch ewig das Recht - und die Freiheit durchs Recht! - Die Freiheit durchs Recht!" (Freiligrath). Sie konnte in ihrer historischen Bedingtheit nicht begreifen, daß abstrakte Freiheit, Gleichheit, Recht, Staatsbürgerlichkeit und Demokratie allesamt nur Emanationen der Lohnsklaverei sind und Voraussetzung ihrer Totalisierung, die dann erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bringen sollte. Das sinnlose und lang nachwirkende Begriffspaar "Sozialismus und Demokratie" (oder umgekehrt) bürgerte sich ein als Verknüpfung, die es bis zur Gebetsmühlenhaftigkeit gebracht hat.
In der Verbindung der Wertform mit "nationaler Identität" zeigte sich gleichzeitig schon der Pferdefuß dieser Ideologie. Wie für die alte Arbeiterbewegung die Kritik der Warenproduktion nur pseudomarxistisches Lippenbekenntnis blieb, so der Internationalismus im wesentlichen abstraktes und äußerliches Ideal, während die reale Immanenz in Lohnarbeit und damit Wertform auch real "nationale Identität" stiftete. Die Begrenztheit dieser Arbeiterbewegung und dieses Marxismus zeigte sich schauerlich im freiwillig dargebrachten Blutopfer des Ersten Weltkriegs, als in vorderster Front die sozialdemokratischen Gewerkschaften und Parteien zu nationalen Hyänen wurden; sie zeigte sich ebenso in den Revolutionen am Ende dieses Krieges, als sich die Arbeiter mit der vollen Demokratisierung auf Basis der Lohnarbeit zufrieden gaben.
Auch die Radikalität des Bolschewismus mußte sich auf den vorgefundenen nationalen und demokratischen Rahmen der Epoche beschränken. Ungeachtet seiner viel weitergehenden, aber inhaltlich unbestimmten sozialistischen Zielsetzungen konnte er letztlich auf den gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen nichts weiter tun, als in einer im modernen Sinne besonders rückständigen Gesellschaft mit besonders radikalen Mitteln BÜRGERLICHE, der HERAUSBILDUNG (und nicht etwa der Abschaffung) des Wertverhältnisses günstige Bedingungen zu schaffen. Nachholende Industrialisierung oder nachholende ursprüngliche Akkumulation konnte mit Sozialismus nichts zu schaffen haben, andererseits jedoch aufgrund der extremen Schwäche der empirischen Bourgeoisie nur von Sozialisten mit einer sozialistischen Ideologie und gestützt auf eine Arbeiter- und Bauernbewegung durchgesetzt werden.

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Dies ist keineswegs, wie in verschiedenen Varianten behauptet worden ist, ein russisches Spezifikum. Vielmehr drückte sich in der Oktoberrevolution und der sowjetischen Entwicklung nur besonders kraß und besonders paradox das tiefe Dilemma der gesamten alten Arbeiterbewegung aus, als Bewegung von Lohnarbeitern mit dem vagen, hilflos unbestimmten Ideal der Abschaffung von Lohnarbeit oder wenigstens ihrer Übel doch real historisch nichts weiter leisten zu können, als dem Wertverhältnis und damit der Lohnarbeit selber den Weg zur totalen Entfaltung zu bahnen.
Nachholende Industrialisierung hieß sozial gleichzeitig nachholende und beschleunigte Verwandlung der unmittelbaren bäuerlichen Produzenten in unmittelbare Produzenten des Kapitals, also des abstrakten Reichtums und damit in Lohnarbeiter. Nachholende Industrialisierung hieß im selben Atemzug Totalisierung der Warenproduktion, Nationalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft im Sinne ihrer "Verrechtlichung", d.h. der Modelung aller Menschen zu abstrakt vergesellschafteten Rechts-Subjekten und abstrakt freien und gleichen Staatsbürgern. All dies kostete ungeheure Opfer, brachte jedoch auch für die russische Gesellschaft einen gewaltigen Fortschritt, AUCH für die großen Massen der Bevölkerung. Sie bekamen RECHTE (Arbeitsrecht usw.), moderne Wohnungen mit Bädern, regelmäßiges Einkommen, Alphabetisierung, Bibliotheken, Telefon, Eisenbahnverbindungen, Schulen und Weiterbildungsmöglichkeiten usw. Gerade aufgrund der extremen Rückständigkeit der russischen Gesellschaft konnten alle diese Errungenschaften einer BÜRGERLICHEN Entwicklung mit "Sozialismus" verwechselt werden und wurden auch als solcher geltend gemacht. Ein Schlaglicht auf die Verhältnisse wird z.B. geworfen, wenn Tschernyschewski noch während der Zarenzeit in seinem berühmten Roman "Was tun?" als sozialistische Utopie etwas beschreibt, das einem heutigen Kantinenessen bei Siemens oder in der Mensa einer Universität verzweifelt ähnlich sieht.
Wie auch sonst auf der Welt hat die Herausbildung der Lohnsklaverei noch viel üblere Formen der Ausbeutung und Unterdrückung aus vorkapitalistischer Zeit abgelöst, die unmittelbaren Produzenten gerade durch die Unterwerfung unter die Wertform abstrakt zu "Herren" gemacht im Sinne gleicher Rechtssubjekte, die nicht mehr in der tagtäglichen Praxis mit Stockprügeln bedacht werden, sondern Arbeitsverträge abschließen etc., während gleichzeitig ihre BEDÜRFNISSE mit der in der Wertform vorangetriebenen Produktivität ständig erweitert werden. Das IST "zivilisatorische Mission des Kapitals", und deswegen gehört es zum permanenten Ablassen eines moralischen Fusels von demokratischen Schwachköpfen, wenn der sogenannte Stalinismus ständig als ein einziges großes Verbrechen denunziert wird. Andererseits ist es genauso unsinnig, diese Gesellschaftsformation als "sozialistisch" zu bezeichnen und damit auf ihre nur historisch zu begreifende Ideologie hereinzufallen.
Es kann sich bei der sowjetischen Produktionsweise letztlich nur um ein kapitalistisches PRODUKTIONS-Verhältnis handeln. Trotzdem ist der Ausdruck "Staatskapitalismus" schief und irreführend, nicht nur deswegen, weil er überhaupt von der Sache gegenüber begriffslo-

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sen und selber warenfetischistischen Ideologen anarchistischer und maoistischer (Bettelheim) Provenienz besetzt ist. Denn die vom Westen abweichenden Formen gesellschaftlicher Reproduktion, wie sie sich im sowjetischen Kapitalverhältnis historisch herausgebildet haben, sind keineswegs ein bloßer "Schleier", hinter dem sich doch platt "dieselbe" kapitalistische Reproduktion wie im Westen verbergen würde. Und schon gar nicht ist simpel die gesamtstaatliche Regulation das wesentlichste Kennzeichen dieser Formation oder ihr letzter Grund, wie es ein rechter oder linker Staatsfetischismus (je nachdem positiv oder negativ wertend) behauptet, der die bürgerliche Willensillusion dem Wertverhältnis gegenüber auf den Staat projiziert.
Das gesellschaftliche Quasi-Subjekt, d.h. die "hinter dem Rücken" der Akteure sich vollstreckende Resultante, ist weder der Staat noch die Partei oder irgendeine Klasse, sondern Partei, Staat und Klassen sind vielmehr selber Resultate und blinde Akteure der historischen Bewegungsform des Werts, des "automatischen Subjekts", das nichts weiter ist als eine von der Gesellschaft selber unbeherrschte Logik ihrer eigenen Entwicklung. Insofern sind auf dieser allgemeinsten Ebene die kapitalistischen PRODUKTIONS-Verhältnisse in West und Ost identisch, denn der gesamtstaatliche quantitative Regulationsmechanismus ändert nichts an der QUALITÄT der grundlegenden produktiven Gesellschaftsbeziehung. Das bürgerliche Denken der Linken beweist sich auch darin, daß sie einen qualitativen Unterschied zwischen "Realsozialismus" und Kapitalismus hauptsächlich an den Erscheinungen der Zirkulationssphäre festmachen will, die eben nur quantitativer Natur sein können (Allokation von Kapital und Arbeitskraft durch die Konkurrenz unmittelbar oder durch staatliche Regulierung, jedoch in derselben historischen Form). Das Unbeherrschte, Blinde aber bleibt gerade das gesamtgesellschaftliche qualitative Produktionsverhältnis der Menschen selbst, das nicht dadurch aufgehoben wird, daß der Staat quantitative DINGLICHE Planvorgaben macht, die sich immer gleichzeitig verräterisch in der Wertform darstellen müssen.
Im quantitativen Regulationsmechanismus des Werts jedoch muß die sowjetische Produktionsweise sehr stark vom westlichen Kapitalismus abweichen, und nicht nur scheinbar. Zwar hat auch im Westen der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts eine gewisse Rolle bei der Konstituierung des Kapitalverhältnisses gespielt; diese Rolle mußte sich jedoch in der Formation einer NACHHOLENDEN ursprünglichen Akkumulation um ein vielfaches verstärken. Der moderne Staatsapparat ist hier nicht so sehr RESULTAT als vielmehr VORAUSSETZUNG einer kapitalistischen Entwicklung, jedoch nicht im geringsten etwa als SUBJEKT, sondern vielmehr als bloße FUNKTION der herauszubildenden Wert-Vergesellschaftung. Sein Vorbild findet er daher auch nicht im asiatischen Despotismus (Dutschke u.a.), sondern gerade umgekehrt im staatlichen und großkapitalistischen Management des Wertverhältnisses im Westen, das in diesem Sinne bereits funktionalistisch objektiviert ist; nicht von ungefähr gab gerade die deutsche Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs ein Muster ab. Dieser funktionale Staatsapparat, von der bolschewistischen Partei aus dem Boden gestampft, mußte erstens

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die Sowjetunion vom bereits relativ hochentfalteten kapitalistischen Weltmarkt abschotten, um eine eigenständige nationale Kapitalbasis zu sichern und nicht weltmarktvermittelt von den höher entwickelten Nationen des Wertverhältnisses ökonomisch aufgesaugt zu werden; er mußte zweitens im Interesse einer historisch ungeheuer beschleunigten Akkumulation den Allokationsmechanismus des "Wertgesetzes" insoweit (und nur insoweit!) modifizieren, als die Investitionsentscheidungen beim Staat zu zentralisieren waren, um den Fluß der Mehrwertmasse in die strategisch wesentlichen Sektoren einer nationalen Kapitalentwicklung zu lenken ohne Rücksicht auf die jeweilige betriebswirtschaftliche Rentabilität.
Schließlich aber mußte der Gesamtprozeß dieser nachholenden Industrialisierung, der gleichzeitig gefährliche Friktionen mit der eigenen sozialistischen Ideologie implizierte, mit DIKTATORISCHEN Methoden durchgepeitscht werden. Die Sowjetunion hatte auf dem Boden des traditionellen Arbeiterbewegungs-Marxismus keine großen Schwierigkeiten gehabt, die nachholende Industrialisierung in eine Ideologie "nationaler Identität" einzubinden ("sozialistisches Vaterland", "großer vaterländischer Krieg", Abschaffung der "Internationale" als Nationalhymne, was allerdings nur die Abschaffung eines unfreiwillig komischen Widerspruchs in sich war). Sie hatte jedoch große Schwierigkeiten, die diktatorischen Maßnahmen der demokratistischen Ideologie gegenüber zu legitimieren, wie sie sich vor allem in der westlichen Arbeiterbewegung eingebürgert hatte. Diese Ideologie freilich war (und ist bis heute) mehr auf den süßlich verkitschten Ideenhimmel der Demokratie bezogen als auf ihre banale Realität. Vor allem die reale Existenz der Gewalt im System von Recht, Rechtsstaat und Demokratie paßt nicht zum demokratischen Gartenlaube-Kitsch der Linken.
Die Demokratie kann in ihrem Kern gar nichts anderes sein als ein GEWALTVERHÄLTNIS zur Garantie des Werts, d.h. der Lohnarbeit. Das Recht hat die Gewalt nicht etwa AUFGEHOBEN, sondern bloß aus einem Dasein der rohen Unmittelbarkeit in ein Dasein der vergesellschafteten, durch ein anderes Medium gefilterten Vermitteltheit gehoben. Die abstrakten Geldsubjekte der verallgemeinerten Warenwelt tragen den unvermeidlichen Interessenkonflikt, soweit er innerhalb dieser abstrakten Warenlogik bleibt, nicht mehr direkt gewaltsam aus, sondern als Rechts-Subjekte, die sich an die Instanzen des Rechtsstaats als Träger der abstrakten Allgemeinheit wenden. Dieses vermittelte Dasein der Gewalt im Recht erzeugt die demokratische Illusion, die Gewalt stelle in der Demokratie überhaupt ein verschwindendes Moment dar oder sei sogar mit demokratischen Gepflogenheiten unvereinbar.
Diese Illusion wird zum einen genährt durch die sublimierte Form der Gewalt, wie sie sich unmittelbar aus dem Produktionsverhältnis selbst ergibt. Diese Gewalt ist tatsächlich keine unmittelbare Gewalt einer herrschenden Klasse mehr, sondern die sublime Gewalt des blinden Vergesellschaftungsprinzips der Wertform selber. Die Gewalt des Geldes ist der "stumme Zwang der Verhältnisse" (Marx), der die Massen ganz ohne Knüppel und Bajonett zur Lohnarbeit knutet. Indem jeder weiß, daß zwischen das kleinste Lebensbedürfnis und dessen Befriedigung das Geld getreten ist, muß er sich tagtäglich dem Lohnarbeitsverhältnis

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ausliefern, dessen Inhalt seinen Lebensbedürfnissen völlig fremd ist. In einem System totalisierter Lohnarbeit MUSS er diese Lohnarbeit sogar SELBER WOLLEN, ja sich an den "Arbeitsplatz" als einzige Lebensgrundlage in der totalen GeldGesellschaft klammern und sogar verzweifelt darum kämpfen. Dieses WOLLEN-MÜSSEN ist der fürchterlichste Zwang.
Der Lohnarbeiter wird durch das unmittelbar vom kapitalistischen Produktionsverhältnis gesetzte Wollen-Müssen seiner eigenen Knechtschaft unter dem unpersönlichen Diktat des Geldes zu einem widersprüchlichen, in sich zerrissenen und mit sich zerfallenen Wesen. Er klammert sich an die Lohnarbeit, außer der er keine andere Form gesellschaftlicher Arbeit denken kann; er empfindet sogar, besonders als qualifizierter oder "verantwortlicher" Facharbeiter etc. im ideologischen Salto mortale STOLZ auf diese seine entfremdete Arbeit, die "alle Werte schafft". GLEICHZEITIG aber hat der tiefe Haß des Lohnarbeiters gegen die Arbeit keine einzige Minute in der Geschichte des Kapitals aufgehört zu brennen; ein Haß freilich, der sich keinen Begriff und keine Richtung von sich aus zu geben weiß, weil die Unpersönlichkeit des zugrundeliegenden Verhältnisses nicht identifiziert werden kann. Der Arbeiter ist freies, gleiches und formales Rechtssubjekt, das nicht mehr von den Schergen des Fabrikherrn geschlagen werden darf; aber die stumme, unpersönliche Gewalt des auf die Spitze der Entfremdung getriebenen Arbeitsprozesses selbst ist umso persönlichkeits-zerrüttender an ihre Stelle getreten.
Indem die "herrschenden Klassen" sich aus der gesellschaftlichen Selbst-Herrlichkeit naturverhafteter vorkapitalistischer Formationen in bloße FUNKTIONÄRE der entfesselten Wertform verwandelt haben, werden sie selber zunehmend in die menschliche Zerrüttung und Deformation direkt einbezogen. Der peitschende und nicht minder stumme Zwang zum abstrakten, funktionellen, in seinem Inhalt total gleichgültigen "ERFOLG", der tagtäglich gefährdet ist und immer neu mit immer rasenderer Anstrengung errungen werden muß, hat auch die "Herrschenden" aus der Muße eines gesicherten feudalen Renten-Verzehrs herausgerissen und ihnen den Stempel der funktionalistischen Persönlichkeits-Reduzierung aufgedrückt. Die Manager, Politiker, Stars usw., für den gewöhnlichen Lohnarbeiter Gegenstand von Träumen zur Flucht aus der entfremdeten Arbeits-Verdammnis, stehen in Wahrheit unter demselben Zwang in anderer Form, freilich auch in luxuriöseren Alltagsverhältnissen. Die funktionalistische Zerstörung der Genußfähigkeit aber ist eine gesellschaftlich-allgemeine, die alle Menschen ausnahmslos unter den Bann der Entfremdung stellt.
Im Untergrund der persönlichen Beziehungen der freien und gleichen Rechtssubjekte in ihrer Gesamtheit tobt die sublimierte Gewalt des Wertverhältnisses weiter und führt permanent und sukzessive zu wilden irrationalen Ausbrüchen, zu psychischen gegenseitigen Verletzungen und Erniedrigungen, zur Flucht in Krankheit, Neurosen und Psychosen, aber auch zu scheinbar sinnlosen und "unbegreiflichen" Eruptionen mörderischer Gewalt des hilflos in die Enge getriebenen abstrakten Privatmenschen; auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung setzt die kapitalistische Zivilisation geradezu eine neue kulturelle Blüte des Amoklaufs frei,

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speziell in Ländern mit kapitalistischer Pionier-Tradition und allgemeinem Waffenbesitz wie USA oder Australien.
Das Recht regelt so als vermittelte Gewalt nicht bloß den funktionalen Verkehr der Rechtssubjekte im Gefüge der totalen Warenproduktion, es ist zugleich selber Ausdruck des tiefen Irrationalismus dieser Produktionsweise, der mit ihrer Entfaltung hervortritt, und muß die Ausbrüche dieses Irrationalismus, das hervorbrechende Nicht-Funktionieren im kleinen wie im großen Maßstab bannen und mit Sanktionen belegen. Hinter dem Recht steht daher notwendig immer noch die offene und bewaffnete Gewalt, eine Gewalt jedoch, die auch ihrerseits wieder UNPERSÖNLICH geworden ist. Diese offene, bewaffnete Staatsgewalt tritt nicht mehr als partikulares Interessensubjekt auf, sondern als Hüterin der abstrakten Allgemeinheit selber. Sie ist also auch in dieser manifesten Form nicht mehr unmittelbar an sich selber direkte soziale Klassengewalt wie noch im Feudalismus, nämlich offene bewaffnete Selbstorganisation einer herrschenden Klasse, sondern vielmehr indirekte, vermittelte Klassengewalt, deren Subjekt nicht mehr ein dingfest zu machender sozialer Träger ist. Der einzelne Polizist, Soldat, Richter und Henker ist selber bloß ein funktionales Rädchen, selber lohnabhängig und "tut nur seinen Job", wie er gleichzeitig keinerlei persönlichem Herrn mehr verpflichtet ist, sondern der abstrakten Unpersönlichkeit des Systems in Gestalt des positiven Rechts.
Diese organisierte Gewalt, im Unterschied zum bloß "stummen Zwang der Verhältnisse", steht nicht nur hinter jedem Recht, sie tritt auch hervor, und zwar ganz alltäglich in jeder demokratischen Gesellschaft. Die phantastischen Friktionen des Wertverhältnisses werden an seinen Opfern tagtäglich mit offener Gewalt vollstreckt, und zwar ganz demokratisch und "im Recht". Dafür sorgt ein keineswegs verschwindendes, sondern im Gegenteil sich immer weiter verzweigendes Aggregat von Gewalt- und Repressions-Institutionen, die sich als ein System von Polizeiapparaten, Elendsverwaltung, Kontrollorganen usw. wie eiserne Reifen um die Gesellschaft legen, um durch alle Aus- und Zusammenbrüche hindurch die Wert- und Rechtsform über die Individuen hinweg zu vollstrecken im wahrsten und fürchterlichsten Sinne des Wortes. Jeder hat das Recht, den Demütigungen der Arbeitsverwaltung und des Sozialhilfeapparats ausgesetzt, bespitzelt und kontrolliert, von der Polizei verprügelt, in Maßen gefoltert sowie von der demokratischen Justiz bei etwelchem Nichtfunktionieren eingekerkert, entmündigt und psychiatrisiert und, wenn das positive Recht es gerade erlaubt, auch gehenkt oder erschossen zu werden. Das sind alles Grundrechte und Menschenrechte geradesogut wie das Recht auf Versammlungsfreiheit oder, noch besser, das "Recht auf Arbeit" (Arbeit macht frei). Wer nur die einen Rechte erwähnt und die anderen vergißt, oder sogar die einen gegen die anderen ins Feld führt, ist entweder ein Heuchler oder ein Dummkopf. Das Recht auf Menschenwürde etc. mag dem Recht auf Verprügeltwerden in besonderen Situationen widersprechen, aber mit diesem Widerspruch kann die reine Demokratie leben. Das Nähere regeln die Gesetze und Ausführungsbestimmungen.

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Der Fortschritt des kapitalistischen Rechtsstaats gegenüber den vorkapitalistischen Verkehrsformen unmittelbarer PERSÖNLICHER Gewalt (des Feudalherrn oder Sklavenhalters und seiner Bewaffneten) ist also ein sehr bedingter, relativer; auch wenn die Gewalt unpersönlich geworden ist, erscheint sie trotzdem umso drückender in Gestalt des "stummen Zwangs", und sie tritt gleichzeitig in ihrer Unpersönlichkeit auch als offene Gewalt immer dann hervor, wenn sich die unlösbaren Widersprüche des Wertverhältnisses zum Zerreißen spannen, im Alltag wie in gesellschaftlichhistorisch zugespitzten Krisensituationen. Der Knüppel ist hinter die abstrakte Rechtsform zurückgetreten, aber er ist noch da und schlägt umso härter in der Hand des unpersönlich agierenden, dem Recht der abstrakten Allgemeinheit verpflichteten Beamten. Die Schere im Kopf bedarf stets der wirklichen, real schneidenden Schere, sei es als latente Drohung oder als offene Manifestation. Die Institutionen der Gewalt gerade in ihrer Unpersönlichkeit "verschwinden" so wenig, daß sie sich sogar im Gegenteil mit der Entfesselung der Krisenpotenz des Wertverhältnisses immer weiter ausdehnen. Kein Häuptling und selbst kein absoluter Fürst hätte sich in seinen kühnsten Träumen einen derart umfassenden Gewalt-, Repressions- und Kontrollapparat erhoffen können, wie ihn die Demokratie hervorgebracht hat. Und auch innerhalb der kapitalistischen Geschichte ist die Stufenfolge dieser Aufrüstung der Gewalt in der Rechtsform zu beobachten. Der wilhelminische Gewalt- und Kontrollapparat mußte vor dem Schergen-System der plebiszitären faschistischen Massendemokratie verblassen; das parlamentarisch-demokratische System der individualisierten, jeder Massenmobilisierung abholden moderneren und funktionalistischeren Massendemokratie der BRD seinerseits hat in seinem umfassenden Kontroll- und Repressions-System, das mit allen Mitteln moderner Organisationstechnik, Erfassungs- und Sozialtechnologie arbeitet, den Apparat des faschistischen Staates in seiner Effizienz bereits übergipfelt. Mit der Totalisierung des "stummen Zwangs" wird der manifeste Zwang kein verschwindendes Moment, sondern er totalisiert sich vielmehr gleichfalls, und zwar umso durchschlagender, je mehr auch ihm die Kälte und quasi funktionalistische Unschuld der Unpersönlichkeit anhaftet.
In seinem ebenso unpersönlichen wie überwältigend umfassenden Dasein muß der Gewaltapparat aber die Massen nicht mehr äußerlich in die abstrakte Rechtsform hineinprügeln, in der sie schon sind, und kann daher POLITISCH auch durch seine Latenz wirken. Während die Gewalt aus der äußerlichen politischen Manifestation in die bloße Latenz des (stets möglichen) Ausnahmezustands zurückgenommen ist, während oppositionelle Manifestationen bis zu einem gewissen Grade "erlaubt" sind, schlägt sie aber umso härter und gesellschaftlich geräuschloser zu in der Mikroorganisation des Alltags, der massenhaftes Nicht-Funktionieren und "Herausfallen" produziert.
Das demokratische Bewußtsein überhaupt und speziell das Bewußtsein der demokratischen Linken muß gerade als theoretisches die Logik und den Charakter der reinen Demokratie völlig verbiegen und entstellen, um mit sich im reinen bleiben zu können. Die Gewalt des

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"stummen Zwangs" des Geldes wird teils weggelogen, teils bemäntelt, dem hilflosen Individuum als SEIN Problem zugeschoben (etwa in Gestalt moderner Therapie- und "Erfolgs"-Kurse für "positives Denken", die sich schon wieder zu einer eigenen Bewußtseins-Industrie gemausert haben) oder einer schwächlichen "Reformierbarkeit" für zugänglich gehalten in den Grenzen der Lohnarbeit und des Wertverhältnisses ("Humanisierung der Arbeitswelt", "kommunale Kultur", Lebensreform- und "Alternativ"-Bewegung usw.). Die manifeste Staatsgewalt andererseits wird teils angebetet als Garantie der "Ordnung" und des "zivilisierten Zusammenlebens" ("Staat tut not", weiß inzwischen der zurückbekehrte Exterrorist Mahler), teils absurderweise angeprangert als "willkürlich" und "undemokratisch", wo sie sich als Vollstreckungsgewalt gegen diese Linke selbst richtet. So sinnlos und hoffnungslos das ständige Anprangern der manifest werdenden demokratischen Staatsgewalt der abstrakten Allgemeinheit als angeblich "undemokratisch" auch ist, die Linke zelebriert dieses begriffslose Ritual ihres eigenen ideologischen, fetischistischen Demokratismus stets aufs neue.
Wie für das kapitalistische Alltagsbewußtsein ist auch für diese demokratische Linke die unpersönliche Gewalt in ihren offenen wie in ihren latenten, sublimen und "stummen" Formen nicht mehr dingfest zu machen, ebensowenig für den damit verbundenen soziologistisch verhunzten Marxismus, der sich aufreibt in dem armseligen Versuch, als Drahtzieher etwa der modernsten Staatsgewalt irgendein bösartiges Kapitalistenkomplott als unmittelbares Subjekt ausfindig zu machen, statt in der Existenz von Wert, Staat und Demokratie selbst schon das Gewaltverhältnis zu erkennen.
Auch bei der Rechten wuchern diesem unbegriffenen Verhältnis gegenüber die Verschwörungs- und Elitetheorien, gleichzeitig reale Verschwörungen, die jedoch nie wirklich Subjekt des Prozesses werden können, dessen Marionetten sie trotz aller geltend gemachten Subjektivität doch ebenso bleiben. Vor der Unpersönlichkeit solcher Instanzen des Wertverhältnisses wie der "Nation", der Demokratie usw. kann sich die darauf bezogene und davon ausgehende Gewalt stets im Recht fühlen, auch die eines beliebigen Putschgenerals in einer südamerikanischen Bananenrepublik. Diktatorische Maßnahmen sind nichts der reinen Demokratie Fremdes, sondern geradezu ihr Bestandteil, sei es als latente Drohung (Notstandsgesetze) oder akut. Das kommt nur auf die jeweilige Situation an. Für die reale Existenz der reinen Demokratie genügt es, daß die Wertform verallgemeinert ist und sich demzufolge alle Menschen in abstrakte Rechtssubjekte verwandelt haben, daß alle Maßnahmen und Entscheidungen überhaupt in dieser RECHTSFORM vor sich gehen müssen, auch die Gewalt, daß sie UNPERSÖNLICH sein müssen, also sich auf abstrakt freie und gleiche Staatsbürger zu beziehen haben, deren Freiheit immer gleichzeitig durch die Rechtsform begrenzt und geregelt wird, die nichts anderes zum Inhalt hat als die Lohnsklaverei des stolzen Besitzers der Ware Arbeitskraft. Alles weitere sind Modalitäten und graduelle Unterschiede, die in der empirischen Situation jeweils taktisch bedeutsam sein mögen, jedoch keinen qualitativen Unterschied ausmachen. Wer das nicht begreift, hat die Demokratie nicht begriffen.

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Die diktatorische Gewalt in der sowjetischen Gesellschaft war also nichts ihrer Demokratisierung Äußerliches oder Fremdes, sondern nur der permanenten Ausnahmesituation einer bewußt vollzogenen, historisch beschleunigten ursprünglichen Akkumulation geschuldet. In allen seinen Momenten war das gesellschaftliche Wertverhältnis aus dem Boden zu stampfen; die dabei notwendig auftretenden Deformationen machen in ökonomischer wie politischer Hinsicht den ganzen Unterschied der Sowjetunion zum Westen aus. Es ist eine "Übergangsgesellschaft", aber nicht zum Sozialismus, sondern zum Kapitalismus. Gegenwärtig ist sie dabei, krisengeschüttelt und völlig ohne Bewußtsein von sich selbst in ihre historische Zielzone einzutreten. Herzlich willkommen in der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, Herr Gorbatschow!
Die ideologischen Legitimationsschwierigkeiten der sowjetischen Gesellschaft hinsichtlich ihrer Demokratisierung blieben allerdings immer ein Problem, und zwar unfreiwillig ironisch auf eine höchst doppelbödige Weise. Denn zum einen mußte sie ihrem SOZIALISTISCHEN Anspruch gegenüber die Herausbildung des demokratischen Gewaltverhältnisses und der abstrakten Verstaatsbürgerlichung rechtfertigen; sie tat dies erstens durch naive "Umbenennungen" vermittels des unschuldigen Adjektivs "sozialistisch": "sozialistische" Staatsgewalt, Justiz, Demokratie, Polizei usw. bis hin zu den "sozialistischen" Zuchthäusern, Konzentrationslagern und Folterknechten; die Existenz solcher grandiosen "sozialistischen" Wesenheiten kann dort nicht überraschen, wo es einen "sozialistischen" Wert und eine "sozialistische" Warenproduktion samt Betriebswirtschaft und allen Schikanen gibt. Zweitens aber wurden gerade die diktatorischen Momente der sowjetischen Industrialisierung und Demokratisierung als besondere SOZIALISTISCHE Maßnahmen gegen die "Bourgeoisie" im nationalen wie internationalen Maßstab hingestellt; Väterchen Stalin sah den Staat bei Annäherung an den Sozialismus immer mehr anwachsen - Marx mußte sich "getäuscht" haben. Daran sieht man, wie undogmatisch der Genosse Stalin sein konnte und welche Freude der Erz-Sozialdemokrat Lassalle theoretisch an ihm gehabt hätte.
Zum andern aber mußte die Sowjetunion ihrem aus der alten Arbeiterbewegung ererbten DEMOKRATISCHEN Anspruch gegenüber eben jene im Interesse der ursprünglichen Akkumulation, die fatalerweise auf den falschen Namen "Sozialismus" getauft war, nötigen diktatorischen Maßnahmen und Eingriffe rechtfertigen. Sie tat dies in Form einer Flucht nach vorn, indem sie jede größere oder kleinere Abweichung in der Verstaatsbürgerlichung der Menschen, so etwa die Sowjets selber, als "tausendmal demokratischer" (Lenin) im Vergleich zur westlichen Demokratie herausstellte. Es konnte nun ein höchst eigenartiges historisches Versteck- und Verwirrspiel der demokratischen Ideologie ausgefochten werden. Beide Gesellschaftsformationen sind sowohl ihrem Selbstverständnis als auch ihrer wertförmigen Grundlage nach, die Lohnarbeit zum Inhalt hat und deren Konsequenz die abstrakte Rechtsform ist, durchaus demokratisch. Beide stellen im Kern ein unpersönlich gewordenes Gewaltverhältnis dar. Die historisch erklärbaren Unterschiede in den Modalitäten aber werden beiderseits für die Pflege

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von Feindbildern der Machtblocks ausgemalt. Klagt der amerikanische Präsident das Menschenrecht auf Freizügigkeit und Pressefreiheit etc. in der Sowjetunion ein, so kontert der russische Parteichef unfehlbar mit dem Recht auf Arbeit und Menschenwürde der Obdachlosen in New York und der Masse der Arbeitslosen in der westlichen Welt, mit dem Verbot der KPD oder der Diktatur in Chile. In der Tat: beide Varianten der Demokratie sind einander wert.
Freilich hatte und hat die Sowjetunion als historischer Nachzügler im Prozeß kapitalistischer Vergesellschaftung und im Welt-Machtkampf auf der Basis des kapitalistischen Welt-Wertverhältnisses die schlechteren Karten, und zwar sowohl ökonomisch als auch politisch. Die staatliche Planvorgabe und Zirkulations-Regulierung, notwendig für die strategische nationale Basis-Akkumulation, mußte historisch erodieren und zu kontraproduktiven Formen der betriebswirtschaftlichen Konkurrenz führen; und übrigens zum glatten Gegenteil von "Gebrauchswertproduktion", denn die sowjetischen Tauschwerte sind oft fast keine Gebrauchswerte von der Qualität her oder nur mit Einschränkung. Diese Pseudo-Planung auf der Basis der gesellschaftlichen abstrakten Wertform ist unfähig, von der extensiven zur intensiven Industrialisierung überzugehen und fällt daher im Prozeß der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Reproduktion historisch wieder zurück; sie ist also nicht in der Lage, von der Produktion des absoluten zu der des relativen Mehrwerts als Hauptmotor weiterer kapitalistischer Entwicklung überzugehen - und nur deshalb kennt sie keine oder nur geringe Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig werden die rohen, einem permanenten Ausnahmezustand entsprechenden Formen der Verrechtlichung und Verstaatsbürgerlichung dysfunktional und müssen ebenso wie die bürokratische ökonomische Regulation des Mehrwerts durch modernere Formen abgelöst werden.
Erst recht gilt dies für die Länder der westlichen Peripherie des sowjetischen Machtbereichs, für die das sowjetische "Modell" aufgrund ihrer größtenteils schon höheren kapitalistischen Vergesellschaftungsstufe von vornherein eher ein historischer RÜCKSCHRITT war, ein gewaltsam und äußerlich aufgepfropftes System, das daher auch nur um den Preis stets neuer Aufstandsbewegungen (DDR, Ungarn, Polen, CSSR) zu halten war. Der "freie" westliche Kapitalismus befand sich hier meist in einer vorteilhaften ideologischen Legitimations-Position, weil er die sowjetische Gesellschaft nicht als eine historisch nachziehende, noch rückständige Abart seiner selbst zu identifizieren brauchte, sondern die unvermeidlichen Formen dieser Rückständigkeit als ihm äußerliches Feindbild für seine eigene Legitimation ausschlachten konnte.
Da es in diesen Konflikten des demokratischen, d.h. warenfetischistischen Bewußtseins immer nur um relative, graduelle Unterschiede ein- und derselben Qualität, nämlich des Wertverhältnisses, in jeweils verschiedenen historischen oder akuten politisch-ökonomischen Zuständen und Verlaufsformen geht, kann die gegenwärtige Reformpolitik Gorbatschows von diesem fetischistischen Bewußtsein angegafft werden wie ein Weltwunder. Der absolut

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theorielose Generalsekretär, dessen erbarmungswürdig moralisch-demokratische Ergüsse von hohlen Phrasen der übelsten Art nur so strotzen, drückt nur völlig bewußtlos den seit langem anstehenden notwendigen Übergang des sowjetischen Wertverhältnisses zu moderneren Formen des Kapitals aus. Die Sowjetunion wird dadurch nicht "demokratischer", weil ein solcher Komparativ ein reiner Unsinn ist (genausowenig kann eine Birne "birniger" oder ein Wasser "wässriger" werden), sondern sie paßt nur Rechtsstaat und Demokratie als Momente des Wertverhältnisses dem erreichten Entwicklungsstand an, gerade weil dieser auch ÖKONOMISCH ein stärkeres "Loslassen des Marktes" erzwingt.
Daraus ergeben sich natürlich neue Legitimationsprobleme dem "sozialistischen" Selbstverständnis gegenüber. Für die marxistische Variante des fetischistischen Bewußtseins war mit der "Planwirtschaft" in der Wertform der "ökonomische" Sozialismus erreicht; soweit sich dieser Fetischismus kritisch gab, mußte er natürlich ausgerechnet die vermeintlich noch fehlende oder unzureichende "Demokratie" einklagen, ohne von den wirklichen Zusammenhängen auch nur das geringste zu verstehen. Eine "sozialistische Demokratie" ist genausogut eine contradictio in adjecto wie eine "sozialistische Warenproduktion". Besäße dieser fetischistische Vulgärmarxismus auch nur einige Konsistenz, müßte er es sich zum Problem machen, daß nunmehr die "Demokratisierung" nicht etwa zur famosen "Planwirtschaft" als das hinzutritt, was zum sozialistischen Glück noch gefehlt hat, sondern gerade umgekehrt mit der vermeintlichen Zunahme der Demokratie im selben Maße die vermeintliche Planwirtschaft ABNIMMT: zunächst marginale "Privatisierungen" (meist ausgehend vom Dienstleistungssektor), "Eigenfinanzierung der Betriebe", ganzer oder teilweiser Zusammenbruch des Außenhandelsmonopols, Diskussionen über das "Zulassen" solcher Segnungen der Menschheit wie Bankrott und Arbeitslosigkeit usw. zeigen überdeutlich, in welche Richtung die Reise geht. Dieser Prozeß (in Ungarn und China weit fortgeschrittener als in der Sowjetunion selbst) ist unaufhaltsam, weil von der Logik des Werts und seinem Dasein als Weltverhältnis erzwungen; die Eigendynamik partikularer Interessen des bürokratischen Apparats kann ihn bestenfalls bremsen, vielleicht (etwa durch einen Sturz Gorbatschows) zeitweise rückläufig machen, aber zu einem immer höheren Preis bis hin zu schweren inneren Erschütterungen. Die warenförmige Planwirtschaft ist historisch am Ende, und nicht im Traum denkt irgendeines dieser "sozialistischen" Länder daran, auch nur einen Millimeter in eine Richtung zu gehen, deren Ziel etwa MEHR Planung wäre (auch ein unsinniger Komparativ, der auf die wertförmige Grundlage hinweist).
Nur hoffnungslos vertrottelte Altsozialisten bzw. Altkommunisten können sich über die Natur dieses Prozesses etwas vormachen, etwa durch Beschönigung und "Umdeutung" oder bewährte "Umbenennung" der harten Tatsachen. Für den Großteil der gegenwärtigen Linken allerdings ist das mit dem Wandel der Sowjetunion auftauchende Legitimationsproblem bereits ausgestanden, weil sie ohnehin mit der "Planwirtschaft" nichts mehr am Hut und sich theoretisch endgültig dem Politizismus und Soziologismus hingegeben hat, wie sie praktisch
 

Robert Kurz. Manifest, April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]

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zum Liebhaber "dieser Republik" geworden ist. Freilich geht der linke Fetischismus des demokratischen Bewußtseins weit über die offen staatstreu gewordenen Neo-Reformisten hinaus. Weil die verschiedenen Daseins-FORMEN des Wertverhältnisses: Warenproduktion, Lohnarbeit, Recht, Staat, Nation und Demokratie nicht als notwendige Momente ein und desselben Verhältnisses begriffen werden, gibt ihre Existenz den Anlaß für ebensoviele Mißverständnisse reformerischer oder scheinradikaler Praxis, die ein Moment des Werts gegen das andere ins Feld führen, ohne etwas von ihrer gesellschaftlichen Identität zu ahnen.
Schon der Faschismus konnte mit dem begrifflichen Instrumentarium dieses fetischistischen Marxismus nicht mehr verstanden werden. Die hilflosesten Antifaschisten sind die warenfetischistisch verblendeten Marxologen vom Schlage eines W.F. Haug etc. selber. Die demokratische Ideologie der alten wie der neuen Linken kann niemals zugeben, daß der Faschismus international eine Übergangserscheinung oder ein Entwicklungsstadium der Demokratie selber war, eine Etappe auf dem Weg zur modernen funktionalistischen Massendemokratie, wie sie sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll herausgebildet hat. Führerkult, populistische Massenbewegungen mit scheinrevolutionärem Anstrich und irrationale Gewaltausbrüche sind weltweit trotz unterschiedlichster Ideologeme, sozialer Träger, politischer Formen usw. überall Erscheinungen des Übergangs zur reinen Demokratie gewesen oder sind es sogar noch heute (übrigens einschließlich der "sozialistischen" Länder).
Das Spezifische des deutschen Faschismus, der Holocaust, war vor allem der Gewaltausbruch des historisch am meisten in Deutschland zusammengeballten bürgerlichen Irrationalismus, der Nachtseite der Aufklärung selber, d.h. der für das warenfetischistische Bewußtsein einzig mögliche Weg einer verzerrten Kritik seiner selbst als VERNICHTUNGSWUNSCH gegen das in den Juden personifizierte unpersönliche Wertverhältnis. Schon seit dem späteren Mittelalter drückt der Antisemitismus den begriffslosen Haß gegen die abstrakte Logik des Geldes aus, ohne doch diese ebenso unpersönliche wie unerbittliche Macht wirklich aufheben zu können oder auch nur zu wollen. Mit den wenigen Ansätzen einer solchen Erklärung des Holocaust (M. Postone) konnte die demokratische Linke nichts anfangen, weil sie selber durch und durch fetischistisch denkt und eben deshalb auch demokratisch. Der hauptsächlich ökonomistisch verstandene Kapitalismus wurde als fortwirkende Identität des "dritten Reiches" und der BRD identifiziert ("Kapitalismus führt zum Faschismus"), nicht aber die Demokratie selbst, weil "Warenproduktion überhaupt", Demokratie und Kapital als einander äußerlich gesehen werden statt als Identität. Die Erkenntnis der Kritischen Theorie, daß die Aufklärung selber zum Holocaust führt, blieb zugespitztes Paradox ohne Folgen für Theorie und Praxis der Linken, weil diese Erkenntnis nicht mit der radikalen Kritik des Werts und damit der Demokratie selber vermittelt war, es sich im Gegenteil die Väter dieser Theorie als Ehrenbürger im "demokratischen Deutschland" bequem machten.
Dieselbe Befangenheit im Demokratismus zeigte sich bei den Parteien der 3. Internationale, als die ursprünglich TAKTISCH gemeinte "antifaschistischdemokratische" Wende sich unter

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der Hand zur STRATEGIE der unsäglichen "antimonopolistischen Demokratie" wandelte. Das demokratische Bewußtsein der Linken knallt an das Kapitalverhältnis wie eine Fliege an eine Glaswand, immer und immer wieder, ohne jemals zu begreifen, daß eine "antifaschistisch-demokratische" Ideologie genauso ein Widerspruch in sich ist wie eine "sozialistische Warenproduktion". Wie in der fetischistischen Ideologie überhaupt werden auch in den Praxis-Begriffen der Linken alle Bestimmungen verkehrt herum vorgenommen, die Theorie aus dem Programm, das Programm aus der Strategie und die Strategie aus der Taktik abgeleitet. Natürlich macht es in taktischer Hinsicht einen Unterschied, ob man mehr oder weniger unbehelligt demonstrieren kann oder ob ein permanenter Ausnahmezustand herrscht, ob linke Organisationen legal oder illegal arbeiten müssen usw. Diese Fragen sind jedoch einzig und allein auf der taktischen Ebene angesiedelt. Im praktischen Tageskampf kann auch eine ihrer Zielsetzung nach gegen das Wertverhältnis selbst gerichtete revolutionäre Bewegung die Forderung erheben, daß dieses Gesetz abgeschafft oder jenes erlassen wird, genausogut wie sie eine Lohnforderung usw. erheben kann. Aber sie bräuchte dazu keinerlei DEMOKRATISCHE IDEOLOGIE, nachdem sie einmal die Demokratie als Erscheinungsform des Werts selber durchschaut hat.
Der linke Demokratismus verweist sich mit öder Regelmäßigkeit selber immer wieder zurück an die Logik des Werts, der er nicht entfliehen kann. Stupide werden "Rechte" eingeklagt, ohne daß die Rechtsform selber jemals in Frage gestellt würde, und der Kampf so immer nur um graduelle Unterschiede im Gehäuse von Wertform, Rechtsform und Demokratie geführt. Wie die Linke niemals kapiert, daß der Appell an die "unmittelbaren Interessen" immer nur GELD-Interessen und also KAPITALISTISCH KONSTITUIERTE Interessen meinen kann, genau wie der idiotische "Betroffenheits"-Fetischismus, ebensowenig ist ihr klar, daß die ewige "Demokratisierungs"-Gebetsmühle schon längst ein einziger sinnloser Leerlauf geworden ist. Die vermeintliche Identität von ("wahrem") Sozialismus und Demokratie ist ein Irrtum, den man Rosa Luxemburg zu ihrer Zeit natürlich verzeihen muß, der aber heute unverzeihlich wird. An dieser Losung ist heute nichts Revolutionäres, Vorwärtstreibendes mehr. Die Kritik des Sowjetmarxismus als Legitimationsideologie, da nicht vermittelt mit einer Kritik von Wertform und Demokratie, hat sich so heute selber zur Legitimationsideologie "westlicher Freiheit" gemausert, sodaß ihr nichts Dümmeres mehr einfällt, als dem "Realsozialismus" gegenüber zusammen mit dem Papst und dem US-Präsidenten die "Menschenrechte" einzuklagen (O. Negt u.Co.). Weil die Wertform als abzuschaffende historisch beschränkte Qualität nicht einmal mehr bewußt wahrgenommen wird, erscheinen alle gesellschaftlichen Probleme und Krisenphänomene in West und Ost durch die soziologistisch-politizistische Brille auch des "marxistischen" Fetischismus als einer Lösung durch den FORMALEN VOLKSWILLEN zugänglich, wobei höchstens noch um die Chancen und Gefahren plebiszitärer oder parlamentarischer Formen gestritten wird.
Die bloß äußere Form von Abstimmungen, Minderheiten und Mehrheiten etc. ist jedoch
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für das Demokratieproblem völlig unerheblich. Ein solch äußerlicher Formalismus verkennt das Wesen der Demokratie vollständig. Natürlich würde auch in einem Sozialismus, der die Wertform wirklich überwunden hat, über dies oder jenes abgestimmt, es würde in vieler Hinsicht Mehrheiten und Minderheiten, einen Streit um gesellschaftliche Fragen etc. geben. Die Frage ist jedoch, WER eigentlich WORÜBER Mehrheitsentscheidungen in "freier" Willensbildung trifft. In der Demokratie stimmen NIEMALS die Menschen als unmittelbar gesellschaftliche Subjekte ab, sondern immer als abstrakte, formale Rechts-Subjekte. Demzufolge wird auch NIEMALS über die wirkliche gesellschaftliche Reproduktion entschieden. Es gibt KEINERLEI freien und offenen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß darüber, WAS eigentlich produziert wird und ob dies nützlich ist oder nicht, ob und welche Maßnahmen von vornherein hinsichtlich der natürlichen und gesellschaftlichen Folgen dieser Produktion zu treffen sind, wieviel der zur Verfügung stehenden Arbeitskraft die Gesellschaft überhaupt und wofür verwenden soll usw. Alle diese Fragen der wirklichen, sinnlichen, stofflichen Reproduktion bleiben völlig außerhalb des Zugriffs einer demokratischen Prozedur, weil diese von vornherein der blinden Eigengesetzlichkeit des Wertverhältnisses als "Sachzwang" folgt und dies für "natürlich" gehalten wird. Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse finden als demokratische immer nur statt darüber, in welcher Verlaufsform diesen Sachzwängen jeweils Rechnung zu tragen ist, wobei bereits alle "Sachfragen" sich in VERWANDELTER FORM darstellen, nämlich nicht mehr unmittelbar als sie selber, sondern in den Formen des RECHTS und der POLITIK auf der Basis von blind vorausgesetzten, durch das Wertverhältnis konstituierten (und insofern eben niemals "unmittelbaren") GELDINTERESSEN. Diese (notwendig gegensätzlich werdenden) Interessen am abstrakten, seines wirklichen sinnlichen Inhalts entleerten Reichtum sind keine an sich menschlich-gesellschaftlichen BEDÜRFNISINTERESSEN aus sich heraus, sondern werden von der blinden Logik des Wertverhältnisses diktiert. Diese in die Rechtsform gekleideten Geldinteressen, deren allgemeinste Verlaufsform die "Politik" ist, kleiden sich auf dieser Ebene in historisch weiterwuchernde IDEOLOGIEN ein, in denen sich die abstrakte, indirekte Gesellschaftlichkeit ein IRRATIONALES BEZUGSSYSTEM auf die sachlichen Inhalte der gesellschaftlichen Reproduktion schafft und die abstrakten, partikularen Geldinteressen sich um einen falschen Verallgemeinerungs-Anspruch auf dem Boden der Demokratie bemühen; Ausdruck dieser historisch herausgebildeten vermittelten Formen des Wertverhältnisses sind die PARTEIEN: Sozial-Demokraten, National-Demokraten, Liberal-Demokraten, Christ-Demokraten usw., die allesamt ein und derselben qualitativen Denkform angehören und in dieser ihre "relativen" Gegensätze äußern. Es wird so erst begreifbar, wie der historische Marxismus zu einem integralen Bestandteil des BÜRGERLICHEN Denkens wurde.
Wenn die Linke von "Demokratie und Sozialismus" faselt, dann hat sie also nicht bloß einen falschen Namen, sie meint auch die falsche Sache; sie meint immer eine wertförmige gesellschaftliche Reproduktion und deren Modalitäten, weil ihr fetischistisches Bewußtsein

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darüber nicht hinauskommt. Solange der Wert seinen historischen Spielraum noch nicht ausgeschöpft hatte, besaßen die ideologischen, politischen und fraktionellen Kämpfe der verschiedenen historisch bekannten Strömungen der Linken auf diesem Boden noch ihren Sinn. Nachdem dieser Sinn heute aber verlorengeht oder schon verschwunden ist, werden diese alten Gegensätze weitgehend gegenstandslos und die Gesamtlinke entpuppt sich als im Kern sozial-demokratisch, blind auf die Wert- und Rechtsform bezogen, auch wenn sie sich "Kommunistischer Bund" (KB) oder DKP oder "Anarchistische Föderation" usw. nennt. Die linken Fetischisten wetteifern mit den bürgerlichen um die Palme im edlen Wettstreit, wer am "demokratischsten" ist. Indem so die Linke letztlich in denselben bürgerlichen Denk- und Bewußtseinsformen befangen ist wie ihr äußerlicher Gegner, bleibt sie diesem gegenüber hilflos und scheint sich bloß moralisch-willensillusionär gegen die "Sachzwänge" zu stemmen, über die sie doch selber nicht hinausdenken kann.
Die mörderische Begriffslosigkeit der heutigen RAF, die logisch konsequent bei der Genickschußpolitik gelandet ist und dem völlig unverstandenen gesellschaftlichunpersönlichen Wertverhältnis durch die "Hinrichtung" einzelner Personen zuleibe rücken will, stellt so gesehen nur den Amoklauf des durchgeknallten Sozialdemokratismus dar; nicht nur und nicht so sehr von der dennoch aufschlußreichen politischen Sozialisation ihrer Protagonisten her, als vielmehr von der Logik ihrer Ideologie her. Die Terroristen sind allesamt nichts als enttäuschte, verbitterte, moralisch durchgedrehte Sozial- und Radikaldemokraten, die ihre Hilflosigkeit den Verhältnissen gegenüber wenigstens in blinden Haß transformiert haben statt in milde säuselnde Staatsbürgerei wie die Ex-Kollegen im Geiste. Der gleichzeitig selbstmörderische Existentialismus der Terroristen, ihr zuerst heroisches, dann bloß noch mörderisches Aufbäumen, wäre dann nicht umsonst gewesen, wenn dieser Sachverhalt offengelegt würde. Aber das heuchlerische und denunziatorische Unverständnis des übrigen gesamtlinken Sozialdemokratismus läßt den Blick in diesen Spiegel bei Strafe der Selbsterkenntnis nicht zu; so muß den Terroristen noch die letzte Selbstachtung geraubt und ihr Tun als bloß "sinnlos" und "schädlich" hingestellt werden, damit die rückgratlosen und begriffs-pazifistischen Neo-Reformisten aus dieser Hundsgemeinheit ihre eigene Selbstachtung saugen und ihre herablassende Ent-Legitimisierung des politischen Bewußtseins der Gefangenen auch noch als humanistische Wohltätigkeit verkaufen können.
Wie schon die alten Sozialdemokraten und ihre feindlichen Brüder, die Komintern-Parteien, gleichzeitig in verschiedenen historischen Zusammenhängen auch national-demokratisch waren und die "Nation" für sich zu reklamieren suchten, so sind auch heute wieder einige (Ex-)Linke verwirrt genug, aus der "Krise des Marxismus" ausgerechnet in "nationale Identität" abzustürzen. Der vermeintliche Bruch mit einem linken Tabu klammert sich aber nur an eine besonders obsolet gewordene Form der vom Wertverhältnis historisch herausgebildeten Fetischgestalten und führt seine Protagonisten unvermeidlich in die Nähe biologistischer Umdeutungen der kapitalistischen Interessenskategorien, wie sie schon Bestandteil der Nazi-

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Ideologie und des Denkens einer "konservativen Revolution" (Jünger, Mohler) gewesen waren. Andererseits bleibt der dagegen geltend gemachte linke Internationalismus ein hilfloser, solange er im "antifaschistisch-demokratischen" Gewande bloß eine Gestalt in der Stufenfolge des Warenfetischs gegen die andere ausspielt.
Aber auch eine Kritik der Demokratie, wie sie etwa von der "Marxistischen Gruppe" (MG) als Kritik an den "Kosten der Freiheit" betrieben wird, bleibt unvermittelt und oberflächlich dem Wertverhältnis gegenüber, also letztlich selber auf dem Boden der kapitalistisch gesetzten Interessenskategorien und damit innerhalb des Begriffshorizonts der Lohnarbeit. Weil der Wert in typischer "Schulungs"-Manier bloß unhistorisch-definitorisch abgehandelter Vorspann bleibt, spielt sich der Hauptfilm der MG-Argumentation selber in warenfetischistischen Formen ab. Die Demokratie, statt als objektive Realkategorie in der historischen Stufenfolge der vom Wertverhältnis herausgesetzten gesellschaftlichen Fetisch-Gestalten begriffen zu werden, erscheint als bloße ideologische Verkleidung und Verschleierung von Profit- und Macht-Interessen der "Kapitalisten" bzw. des kapitalistischen Staates (dem ebenso wie bei der übrigen Linken und vielleicht noch mehr eine souveräne Handlungskompetenz der objektiven Eigenlogik und Eigendynamik des Werts gegenüber untergeschoben und angedichtet wird), gegen die von der Lohnarbeiterklasse die eigenen Geldinteressen erhoben werden sollen in möglichst kompromißloser Form. In quasi syndikalistischer Manier soll die bloß äußerliche "Radikalität" und Militanz des eigenen Lebensinteresses in der FORM des Lohn- und Geldinteresses als der vorausgesetzten und einzig denkbaren sich äußern, wobei Rechtsformen und Ideologie, Politik usw. bloß als überflüssiger Ballast oder als bloße Verschleierung erscheinen. Weil die MG keine konkrete Kritik und demzufolge kein Programm für die Aufhebung des Wertverhältnisses ausarbeiten kann (dazu fehlen ihr die theoretischen Voraussetzungen), kann sie auch nicht erklären, daß und warum die wirklichen Lebensinteressen im GEGENSATZ ZUR GELDFORM ÜBERHAUPT stehen, insofern diese nur Ausdruck der Wertform ist. Voraussetzung wie Folge des falschen theoretischen Bewußtseins und Konstrukts der MG-Ideologie ist das bewußtlos aus der 68-er Bewegung ererbte positivistisch-instrumentalistische Theorieverständnis, das dem theoretischen Kampf keinen eigenen Stellenwert zugestehen kann; immer an der Stelle, an der die eigentliche theoretische Aufgabenstellung erst herausgearbeitet werden müßte, stürzt so die Theorie unvermittelt in seichte AGITATION ab und "macht sich ein Problem", nämlich das ewig störrische Alltagsbewußtsein des abstrakten Geldmenschen mit der Forderung nach einem "konsequenten Interessensstandpunkt" zu traktieren, die sich doch immer an der objektiven Logik der Form selber brechen muß, in der sie erhoben wird. Wie das Wertverhältnis so nicht als historischer Entwicklungsprozeß mit einer objektiven, absoluten Schranke begriffen werden kann, sondern bloß als "Wiederkehr des Gleichen" in wechselnden Verkleidungen, so auch nicht die Vermitteltheit des abstrakt freien Willens, an den die MG mit der Ausdauer eines Sisyphos appelliert, ohne ihm doch je den transzendentalen Willen zur Aufhebung des Verhältnisses selbst begreiflich machen zu

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können, das die Form seines Interesses erst konstituiert. Gut bürgerlich löst sich die Logik des "automatischen Subjekts" auf in ein bloßes Kräfteparallelogramm der individuellen und sozialen Willenshandlungen; wenn irgendjemand die positivistische Willensillusion des abstrakten bürgerlichen Subjekts perfekt auf scheinorthodox-marxistisch nachäfft, dann ist es die MG.
Die bodenlose Geschäftigkeit der gesamtlinken Willensillusionisten, die ein der Wertform äußerliches Subjekt zusammenbasteln wollen, ohne doch diese Wertform selber direkt anzugreifen und also den Pelz immer waschen wollen, ohne ihn naß zu machen, bricht sich aber an der heute sichtbar werdenden objektiven, absoluten Schranke dieses Wertverhältnisses selber. Indem der Wert sein historisches Potential ausgeschöpft hat, beginnt er selber krisenhaft obsolet zu werden bis hin zum totalen Zusammenbruch der gesellschaftlichen Reproduktion. Diese Einsicht darf nicht verwechselt werden mit einer kruden Zusammenbruchstheorie in der Art, daß ein simpler Automatismus des gesellschaftlichen Übergangs zum Sozialismus darin eingeschlossen wäre; ein Vorwurf, der allerdings schon die (notwendig verkürzten) historischen Zusammenbruchstheorien (Luxemburg, Grossmann) nicht treffen kann, sondern als Popanz ihrer bürgerlich-subjektivistischen "marxistischen" Gegner identifiziert werden muß. Was zusammenbricht, und zwar in der Tat als immanente Determiniertheit, ist die weitere stofflich-sinnliche gesellschaftliche Reproduktion in der Wertform. Was aber NICHT zusammenbricht und auch niemals "automatisch" zusammenbrechen kann, ist die allgemeine menschliche VERKEHRSFORM, wie sie vom Wertverhältnis historisch herausgesetzt wurde; diese Verkehrsform konstituiert sich tagtäglich durch die praktischen Handlungen und das diese anleitende gesellschaftlich vermittelte Denken (inclusive den Willen) der Individuen hindurch. Wenn der Zusammenbruch der Reproduktion des Lebens aller menschlichen Gesellschaft nicht zur bewußten (und also natürlich auch von einem gesellschaftlichen Willen getragenen) Aufhebung der wertförmigen Verkehrsformen (Geld, Recht, Staat etc.) führt, dann kann das Resultat nur Selbstvernichtung der Menschheit oder eine Barbarei sein, deren Elemente sich schon heute unter unseren Augen herausbilden. Kritik der Willensillusion heißt ja nicht etwa Negation des Willens oder der Subjektivität überhaupt, sondern Einsicht in die Determiniertheit alles bloß empirisch vorgefundenen Willens durch die untergehende Wertform, die gesprengt werden muß, und Kritik eines Bewußtseins, das von Subjektivität faselt, ohne diesen Stier bei den Hörnern zu packen. Wenn die Menschen die Krise des Werts mit den Mitteln des Werts, die Krise des Geldes mit den Mitteln des Geldes und die Krise der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie beheben wollen, wenn sie wie Lemminge in der Verkehrsform sich gewaltsam festhalten wollen, deren objektive Grundlage doch unaufhaltsam zerbricht, werden sie nur im totalen Krieg aller gegen alle enden und in einem keineswegs atomaren, sondern innergesellschaftlichen irrationalen Holocaust, der den des Faschismus noch übergipfeln muß.
Das Obsoletwerden des Werts als Zusammenbruch der gesellschaftlichen Reproduktion

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des menschlichen Lebens ist bereits jetzt in mehrfacher Hinsicht mit Händen zu greifen. Die betriebswirtschaftliche Entwicklungslogik des Wertverhältnisses zerstört ihre eigene Grundlage, die Naturgrundlage überhaupt wie auch die ökonomische Reproduktion der Lohnarbeit. Ökologische und ökonomische Krise, von der gesamt-sozialdemokratischen Linken nur durch die Brille der Vergangenheit wahrgenommen, markieren in Wirklichkeit eine bisher nicht erreichte WeltkrisenQualität, deren zerstörerische Wucht aus eben jener Dynamik kapitalistischer Welt-Vergesellschaftung herrührt, deren vermeintlich goldenes Zeitalter für einen bloßen historischen Augenblick in Gestalt des Nachkriegsbooms fordistischer Akkumulation existierte.
Der herzige Einfall, daß einmal saubere Atemluft in Dosen verkauft werden könnte, von den unsäglichen "Markt-Ökologen" womöglich begrüßt als Herstellung eines "sparsamen Umgangs" mit der "knappen Ressource" Atemluft, von der MG vielleicht als Beispiel einer unbegrenzten Reproduktionsfähigkeit des Kapitals aus sich heraus genommen, ist in Wahrheit schon ein Indiz für den Zusammenbruch selber. Wo das unmittelbare Verrecken durch Luft und Wasser angesagt ist, kann letztlich keine Produktion mehr vollzogen werden, weder eine kapitalistische noch eine andere.
Gleichzeitig werden ökonomisch die Konturen der zweiten Weltwirtschaftskrise sichtbar, die durch den gigantischen defizitären Sog der "Reaganomics" und deren Rüstungsboom um einige Jahre verzögert, gerade dadurch aber explosiv kumuliert wurde. Daß die fordistische Überakkumulationskrise in das imaginäre "Akkumulationsmodell" einer neuen langen Welle münden werde, ist nichts als der allzu fromme Wunsch einiger gesettleter akademischer Linkssozialisten und anderer notorischer Reformschwätzer, die sich politisch wie die Gewerkschaftsbonzen schon gut altreformistisch in die Hosen scheißen, bevor ihnen noch die brutale Reaktion der Krise selbst wirklich das Genick gebrochen hat. Die neue Stufe der Verwissenschaftlichung und Technologie in Gestalt vor allem der Mikroelektronik ist weit davon entfernt, eine neue stoffliche Basis für die massenhafte Reproduktion der Lohnsklaverei zu liefern, deren qualitative Weiterexistenz den Hirsch, Altvater u. Co. so am Herzen zu liegen scheint, sondern zerstört vielmehr über die Konkurrenzvermittlung flächendeckend quer durch alle Reproduktionszweige hindurch jede weitere langfristige Existenzmöglichkeit des Wertverhältnisses.
Wie diese Tendenzen schon überhaupt seit Jahren ihren Schatten vorauswerfen, so kann auch die geheiligte Demokratie davon nicht unberührt bleiben. Die mafiose Seifenoper mediokrer und karrieristischer Figuren minderer Intelligenz, als die sich Demokratie heute weltweit darstellt (wiederum den "Realsozialismus" eingeschlossen), ist kein Fehler und keine Abweichung von ihrem vermeintlichen "wahren Wesen", sondern vielmehr eben dessen notwendige Entpuppung, das logische Endstadium der Demokratie an ihr selbst. Das Gegenteil von Demokratie, die historische Alternative, wäre nicht irgendeine Form von Diktatur, die vielmehr in ihrer modernen Gestalt im Begriff der Demokratie selbst eingeschlossen ist, son-

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dern die Aufhebung des bloß abstrakt gesellschaftlichen Menschen überhaupt, die Konstituierung des unmittelbar gesellschaftlichen Individuums.
Wir müssen der gesamten Linken vorwerfen, daß sie in soziologistischen und politischen Kategorien der Vergangenheit denkt, die einmal ihre relative Berechtigung hatten, heute aber vollkommen erschöpft sind. Die alte Arbeiterbewegung in ALLEN ihren Erscheinungsformen hatte ihren Kulminationspunkt bereits am Ende des Ersten Weltkriegs; heute haben wir es nur noch mit ihren schwächlichen Nachwehen zu tun, die den Bannkreis des Fetischismus erst recht nicht von sich aus durchbrechen können. Ein Herumirren auf diesem bröckelnden ideologischen Boden muß die Linke ganz zugrunderichten, soweit dies nicht ohnehin schon geschehen ist. Wir betrachten dagegen die alte Arbeiterbewegung im wesentlichen als Geschichte; gerade deshalb sehen wir einen neuen Zugang zum verschütteten Kern der Marxschen Theorie: der fundamentalen Kritik des Wertverhältnisses selber, weil diese Kritik erst heute mit der realen gesellschaftlichen Entwicklung und der Entfesselung der Krisenpotenz des Werts im Einklang steht. Ohne wenn und aber: Zusammen mit dem Basis-Fetisch des Werts selber müssen alle Fetisch-Gestalten wertförmiger, kapitalistischer Vergesellschaftung überhaupt aufgehoben werden, und zwar als historisch aktuelle, nicht mehr zu umgehende und zu verschiebende Forderung; das Geld ebenso wie das Recht, der Staat, die "Nation" und die Demokratie. Diese Aufgabe müssen wir zur aktuellen erklären, wenn die Menschheit überleben und die blinden Mächte ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit unter Kontrolle bekommen soll. Alle Konzepte unterhalb dieses Anspruchs sind nur noch ideologischer Abfall einer nie wiederkehrenden Vergangenheit.

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5. Die wahren Totengräber des Kapitalismus werden erst heute geboren

In der soziologistischen Lesart des traditionellen Marxismus stellt sich die "Klassenfrage" derart krud dar, daß sie als dem Wertverhältnis gegenüber unabhängig und voraussetzungslos als der "letzte Grund" gesellschaftlicher Verhältnisse wie als direkter Ausgangspunkt aller Theorie erscheint. Die Marxsche Theorie ist daher großen Teilen der Linken vor allem deshalb obsolet geworden, weil sie empirisch an ihrem eigenen Mythos der "Arbeiterklasse" irre geworden ist. "Die Arbeiterklasse", jenes unbekannte Wesen, bewegt sich nicht oder jedenfalls nicht in die erwünschte oder erwartete Richtung; "also" wird das gleichermaßen subjekttheoretisch und positivistisch verkürzte Bewußtsein unsicher und beginnt, sich nach anderen empirischen Subjekten sozialer Emanzipation umzuschauen, als könne man sich solche "sozialen Träger" aussuchen und billig erstehen wie beim Winterschlußverkauf. Bei ihrem hastigen Wühlen auf den Ramschtischen der Bewegungs- und Ideen-Konjunkturen ist die Linke dann auch fündig geworden; "neue soziale Bewegungen" heißt der neue Mythos und das neue unbekannte Wesen, denn was die eilfertige Begriffsbildung eigentlich bedeuten soll, bleibt reichlich im Dunkeln. Hauptsache, das Hinterteil, das man anbetet, bewegt sich.
So hat die Linke außer einem hilflosen Gestammel oder sogar halbseidener Übereinstimmung nicht mehr viel zu sagen, wenn bürgerliche Theoretiker die törichte Frage stellen, "ob es noch ein Proletariat gibt". Die Fragestellung allein ist eine logische Kuriosität, wie sie typisch ist für den Soziologismus, weil in Wirklichkeit die Arbeiterklasse selber das Kapital IST, nämlich sein lebendiges reproduktives Dasein, die Arbeiterklasse also nicht ohne das Kapital selber "verschwinden" könnte. In solch absurden Fragestellungen, die modifiziert auch bei der Linken herumspuken, zeigt sich mit aller Deutlichkeit die soziologistische Verplattung, die Kapital und Arbeiterklasse nicht als vermittelte Identität, als soziales Dasein eines gesamtgesellschaftlichen Verhältnisses begreift, sondern als das einander äußerliche Dasein zweier sozialer Subjekte und Kategorien, die durchaus auch jeweils für sich existieren könnten.
Dieselbe Begriffslosigkeit wie in dem Gerede vom "Verschwinden" der Arbeiterklasse finden wir umgekehrt im Selbstverständnis des "Realsozialismus", wo nach der "Enteignung" und dem vermeintlichen "Absterben" der Bourgeoisie dieselbe famose Arbeiterklasse allein übriggeblieben sein soll, garniert höchstens noch durch ebenso famose "Bündnispartner" wie "Bauern" und "Intelligenz". Dieser unglaublich plumpe Soziologismus hat mit der Marxschen Theorie ungefähr soviel zu tun wie das "Kapital" mit "Winnetou I". Beiderseits schreit die Aufblähung eines partikularen gesellschaftlichen Moments zur falschen Totalität geradezu zum Himmel. Wie bei einem "Verschwinden" der Arbeiterklasse sich im selben Maße "das Kapital" verdünnisieren müßte, so hätte selbstverständlich bei einem "Verschwinden" der Bourgeoisie auch das Proletariat Anstalten zu treffen, als solches von der sozialen Bühne abzutreten.

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Freilich ist auf dieser Ebene des Begriffs das Proletariat zunächst nichts als eine logische Kategorie, die jedoch eine Realkategorie kapitalistischer Vergesellschaftung darstellt und ohne die überhaupt nichts begriffen werden kann. Diese logische Kategorie muß indes näher bestimmt werden, durchaus auch empirisch. Diese Forderung führt sofort zu einem anderen geläufigen Kurzschluß des linken theoretischen Denkens. Wenn die Arbeiterklasse das lebendige Dasein des Kapitals selber ist, dann kann sie auch keine feststehende, ein für allemal definierbare Größe sein, sondern muß sich mit dem historischen Totalisierungsprozeß des Wertverhältnisses selber verwandeln und mit ihrem eigenen empirischen Dasein aus einer vergehenden Epoche dieses Prozesses in Widerspruch geraten, wie schon die empirische Bourgeoisie des alten, unentwickelten Kapitalismus mit der höheren Stufe kapitalistischer Vergesellschaftung in Widerspruch geraten war. Der linke Mythos der Arbeiterklasse ist, da nicht von ihrem logischen Begriff her bestimmt und daher auch nicht offen der Empirie gegenüber, an eine bestimmte historische Erscheinungsform der sozialen Empirie des variablen Kapitals gebunden; nicht zufällig ist es die bloß historische Erscheinungsform, die gleichzeitig Träger jener alten Arbeiterbewegung mit noch notwendig kapitalimmanenten demokratischen Zielen war, die für eine selber aus dieser Geschichte heraus demokratistisch beschränkte Linke mit dem Begriff der Arbeiterklasse überhaupt unmittelbar zusammenfällt. Der ererbte Sozial-Demokratismus der Gesamtlinken krallt sich entweder an der vergehenden historischen Erscheinungsform fest, in der er den adäquaten sozialen Träger seiner fetischistischen Ideologie fühlt, oder er sucht diesen Träger irgendwie zu substituieren, um bei seinen demokratischen Leisten bleiben zu können.
Es wäre also, um zu den Voraussetzungen einer empirischen Neubestimmung der Arbeiterklasse zu gelangen, nach den realen Erscheinungen des sozialen Umwälzungsprozesses zu fragen, die den soziologistischen Wahrnehmungsapparat derart in Verwirrung gestürzt haben. Die traditionelle Arbeiterklasse im Sinne des bisherigen Marxismus und seines sozialen Bezugssystems hat tatsächlich zu "verschwinden" begonnen, und zwar in mehrfacher, widersprüchlicher Hinsicht.
Erstens "verschwindet" die Arbeiterklasse paradoxerweise gerade dadurch, daß sie sich VERALLGEMEINERT im Sinne einer Totalisierung der Lohnarbeit, die einhergeht mit der gesellschaftlichen Totalisierung des Wertverhältnisses. Die alte Arbeiterklasse bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war leicht auszumachen und abzugrenzen, da sie sich von den sozialen Kategorien der Nicht-Lohnarbeit augenfällig abhob. Insofern neben dem Kapitalverhältnis zahlreiche Schattierungen vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse weiterexistierten und das Kapital selber eben deswegen noch nicht zu seiner vollen Identität herangereift war, ergaben sich scheinbar fixe und klare "Klassenverhältnisse", die doch nur Ausdruck einer bestimmten Entwicklungsstufe des Wertverhältnisses waren. Der Lohnarbeiter war größtenteils identisch mit dem Fabrik-Handarbeiter; der Kapitalist stand ihm gegenüber als der persönliche Eigentümer und Aneigner. Gleichzeitig existierte außerhalb dieses Verhältnisses

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das grundbesitzende Junkertum als Rest der feudalen Klassen weiter; ebenso hatte sich das Kleinbürgertum einer vorkapitalistischen Stufe des Wertverhältnisses in zahlreichen Sektoren erhalten, so die Bauern (noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in vielen kapitalistischen Ländern die MEHRHEIT der Bevölkerung!), Handwerker und Kleinhändler etc. Auch die Staatsbeamten des ebenfalls noch in vieler Hinsicht feudal gefärbten Staatsapparats konnten als eigene Klasse gerechnet werden.
In diesem Klassengefüge mußte sich notwendig eine bestimmte latente politische Konstellation herausbilden: der noch äußerlich zu verstehende soziale Gegensatz von Arbeitern und Kapitalisten war schon zum gesellschaftlichen Hauptkonflikt avanciert, aber beiderseits mit Selbsttäuschungen über den historischen Inhalt dieses Konflikts. Die Bourgeoisie neigte dazu, "die Demokratie zu verraten" und zu "Bündnissen" mit dem Junkertum und den feudalen Komponenten im Staatsapparat, am deutlichsten zu beobachten natürlich in Deutschland, dem kapitalistischen Nachzügler des 19. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite konnte sich die Arbeiterklasse, indem sie das von der Bourgeoisie fallengelassene Banner der "vollen Demokratie", "Demokratisierung" etc. aufnahm, mit den kleinbürgerlichen Klassen zu "verbünden" suchen im Sinne der Erfüllung eben dieser demokratischen Aufgaben, während diesem Bündnis gleichzeitig die aus seinen vorkapitalistischen Reproduktionsformen aufsteigende reaktionäre Ideologie des Kleinbürgertums entgegenstand. Dieses "schwankte" also zwischen den demokratischen Interessen, die sich in einzelnen Fragen aus seinem eigenen Gegensatz zum Kapital ableiten ließen, und andererseits der Furcht vor dem Ganzen der "vollen Demokratie", hinter der es nicht zu Unrecht gleichzeitig auch seinen eigenen Untergang witterte.
In diesem politischen Kraftfeld bewegte sich das Denken des traditionellen Marxismus. Der interne fraktionelle Streit ging nur darum, mit welchen mehr oder weniger radikalen MITTELN die "Demokratisierung" erreicht werden sollte und bis zu welchem Grade man begierig war, diese Radikalität der MITTEL in der Herstellung voller BÜRGERLICHER Verhältnisse mit "Sozialismus" zu verwechseln. Je nach Land und Reifegrad des Kapitalverhältnisses wurde diese Frage verschieden beantwortet; im Sinne der demokratischen Aufgaben war in Rußland der Bolschewismus "realistischer", im Westen die reformistische Sozialdemokratie. Der historisch weitgehend identische Charakter des wirklichen INHALTS wurde verdeckt durch die zu politisch-ideologischen Systemen ausgebauten Gegensätze der politischen FORM.
In dem Maße aber, wie die Demokratie (in ihrem nicht emphatischen, sondern logischen Sinne) zusammen mit der Totalisierung des Wertverhältnisses wirklich durchgesetzt wurde, löste sich notwendig auch die Sozialstruktur des Übergangs und mit ihr auch das entsprechende politische Kraftfeld und Bezugssystem auf. Das Junkertum verschwand als soziale Klasse bis auf bizarre Reste bzw. wurde vom Kapitalverhältnis assimiliert; jedoch auch die Bourgeoisie begann zu "verschwinden" in ihrem alten Dasein als persönliche Eigentümer und Aneigner, sie spaltete sich (von Marx bereits begrifflich abgeleitet) real in eine kleine Kaste von ökonomisch und politisch einflußlosen Rentnern und in ein weitverzweigtes, der Form nach selber

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"lohnabhängiges" Management. Die Linke hatte den unpersönlichen Charakter des Wertverhältnisses so wenig begriffen, daß sie teilweise diese Erscheinungen als ein "Verschwinden des Kapitals" im Sinne einer sozialen Klasse zu interpretieren genötigt war. Ebenso "verschwand" das alte Kleinbürgertum sukzessive, d.h. es schrumpfte bis zur Bedeutungslosigkeit: in den voll durchkapitalisierten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg liegt der Anteil der Lohnabhängigkeit annähernd zwischen 70 und 90 Prozent.
Damit aber war auch die exklusive Verbindung von Fabrikproletariat und Lohnabhängigkeit aufgehoben; der kapitalistische Prozeß der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Produktion in der Wertform setzte auf immer höherer Stufenleiter immer neue Kategorien von Lohnarbeit aus sich heraus. Die alte Arbeiterklasse "verschwand" also in demselben Sinne, wie der als abgegrenztes Gebiet bestimmte "Wald" verschwindet, wenn die ganze Welt mit Bäumen bedeckt ist. Wie die Linke aber begriffslos und konservativ an den alten "demokratischen" Aufgaben festhält und insofern reaktionär einer bereits vergangenen historischen Konstellation hinterherdenkt, so hält sie auch an der alten empirischen Form des proletarischen Klassenbegriffs fest, entweder positiv als dogmatische Verbiestertheit oder negativ als bürgerliche Negation der Arbeiterklasse überhaupt.
Zweitens aber "verschwindet" die Arbeiterklasse in dem Sinne, daß innerhalb der totalisierten Lohnarbeit der "produktive Arbeiter", d.h. der kapitalproduktive unmittelbare Produzent, der unmittelbar das Kapital selber und also den Mehrwert produziert, im Verhältnis zur Masse der verschiedenen Kategorien von Lohnarbeitern relativ abnimmt und schließlich ABSOLUT zu schrumpfen beginnt. Bis in den fordistischen Nachkriegsboom hinein wuchs die kapitalproduktive Arbeiterklasse noch absolut an, während ihr Anteil schon relativ zurückging; der Kulminationspunkt dieses Anwachsens ist aber inzwischen schon überschritten und der auch absolute Schrumpfungsprozeß hat eingesetzt, der sich mit der Computerisierung und Automatisierung der Produktion noch verstärken wird.
Die das Wertverhältnis blind voraussetzende Linke starrte in ihrer Untersuchung der sozialen Kategorien der Lohnarbeit immer nur soziologistisch auf das mögliche oder vermeintliche soziale Subjekt, das es politisch wachzuküssen gelte; der Streit um "produktive und unproduktive Arbeit" ging hauptsächlich darum, wo denn nun genau der "wahre" soziale Träger gesellschaftlicher Veränderung und Umwälzung zu suchen sei. Soweit er streng an der "produktiven Arbeit" im Sinne der gesellschaftlichen Mehrwertproduktion festgemacht worden war, schienen mit seiner relativen und schließlich absoluten Abnahme auch die revolutionären Felle davonzuschwimmen. Die verschiedenen daraus gezogenen Schlußfolgerungen blieben allesamt innerhalb des soziologistisch beschränkten Horizonts. Bürgerliche und reformistische Theoretiker sahen mit dem "Verschwinden" der "eigentlichen" Arbeiterklasse auch jede revolutionäre Option dahinsinken; andererseits wurde die formal revolutionäre Position dadurch schwächlich verteidigt, daß auch die Masse der nicht-kapitalproduktiven Lohnarbeit zum "revolutionären Subjekt" im platt soziologistischen Sinne erklärt wurde.

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Eine konsequente Theorie, die den relativen und absoluten Schrumpfungsprozeß der kapitalproduktiven Lohnarbeit auf die objektive, hinter dem Rücken der sozialen Akteure sich vollziehende Reproduktion des Wertverhältnisses hin untersucht hätte, existierte nicht. Auch der traditionelle und akademische Marxismus war längst in seiner theoretischen Produktion, hierin dem positivistischen bürgerlichen Theorieverständnis folgend, in "Ökonomen" und "Soziologen" auseinandergefallen; eine Aufspaltung, die nichts weiter ausdrückt, als daß die Totalität des Wertverhältnisses überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Während die "Ökonomen" (Altvater ist Professor FÜR, nicht GEGEN "politische Ökonomie") auf der Basis des Werts überhaupt als unreflektierter Voraussetzung bestenfalls den Regulationsmechanismus des Mehrwerts formal untersuchen, ganz genauso wie übrigens die DDR- und Sowjet-Ökonomen (die ja sowieso nicht über die monströse "sozialistische Warenproduktion" hinausdenken "dürfen"), befassen sich die "Soziologen" mit den empirischen Daseinsformen der sozialen Kategorien auf allen Ebenen, ohne daß die "Gesetztheit" dieser Kategorien durch das Wertverhältnis und dessen objektive Bewegung überhaupt ins Blickfeld gerät. Diese "Wissenschaft" betrachtet die Gesellschaft ungefähr so, wie ein Hund den Kauf einer Wurst empirisch wahrnimmt, ohne daß das Problem der Markthandlung selbst auch nur in einer einzigen Zelle seines Gehirns aufscheinen würde.
Der einzige Strang theoretischer Diskussion, der wenigstens indirekt auf die Beziehung von kapitalproduktiver Arbeiterklasse und Wertverhältnis einging, bezog sich auf die Kategorie des (kapital-) "produktiven Gesamtarbeiters", jedoch ebenfalls unter soziologistisch verkürztem Blickwinkel. Mit politisch wiederum entgegengesetzten Schlußfolgerungen (Habermas, Krahl) wurde behauptet, daß die wissenschaftliche Arbeit und ihre Apparate (einschließlich der universitären und subuniversitären Ausbildungs-Institutionen) im Unterschied zu der Situation, wie sie noch Marx vor Augen gehabt habe, heute direkt in die Mehrwertproduktion einbezogen seien. Diese Argumentation beruht auf einem Mißverständnis über die Natur des Werts, die als solche weder von der alten noch von der neuen Linken kritisch diskutiert worden war, sondern immer bloß vorgeschaltete abstrakte Definition blieb; dieses geringe Interesse für die begriffliche Durchdringung des Werts selber erklärt sich aus dem instrumentalistischen Charakter des Theoriebildungsprozesses, der direkt und unvermittelt auf das Subjekt, den "Überbau" und die politische Sphäre zielte.
Als "Wert" kann sich jedoch nur diejenige Arbeit "darstellen" in der gesellschaftlichen Praxis, die auch am Produkt "wiedererscheint". Damit dieses "Wiedererscheinen" aber wirksam wird, muß sich die entsprechende Arbeit tagtäglich in der Produktion selber und direkt oder indirekt "am Produkt" reproduzieren. Dies tut die wissenschaftliche und qualifikatorische (bzw. die infrastrukturelle Arbeit überhaupt) jedoch nicht, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist die allgemein-qualifikatorische und infrastrukturelle ebenso wie ein Großteil der wissenschaftlichen Arbeit WEDER direkt NOCH indirekt produkt- und also wertspezifisch, sondern UNMITTELBAR GESAMTGESELLSCHAFTLICH. Sie geht unspezifisch in alle

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Produkte gleichermaßen und daher eben gerade NICHT in die TAUSCHVERHÄLTNISSE ein; die unmittelbar gesamtgesellschaftliche Arbeit kann sich nicht als "Wert" eines spezifischen Produkts anderen solchen Produkten gegenüber "darstellen" und insofern auch nicht als "Tauschwert" erscheinen. Die Ausdehnung der allgemein-qualifikatorischen, allgemein-wissenschaftlichen und allgemein-infrastrukturellen gesellschaftlichen Arbeit und ihre zunehmende Bedeutung für die STOFFLICHE PRODUKTIVITÄT fällt also aus dem Wertverhältnis überhaupt heraus. Zum andern aber ist auch die direkt oder indirekt produkt-spezifische wissenschaftliche Arbeit keine, die sich fortpflanzend im Produktionsprozeß weiter re-produziert. Mit der Entdeckung und Konstruktion eines neuen Verfahrens etc. ERLISCHT diese Arbeit; ihre Steigerung der jeweils spezifischen stofflichen Produktivität eines bestimmten Arbeitsprozesses steht in keinem Verhältnis zu ihrem "Wiedererscheinen" als gesellschaftliche Wert-Abstraktion an den Millionen und Milliarden von Produkten, das praktisch gleich Null ist.
Der "produktive Gesamtarbeiter" innerhalb der Sphäre der tagtäglich sich reproduzierenden Arbeit, die sich als Wert und Mehrwert "darstellen" kann, wäre also zu unterscheiden vom "gesellschaftlichen Gesamtarbeiter" der hinter und über der eigentlichen Produktion herausgebildeten riesigen Logistik des Verwissenschaftlichungsprozesses, die als solche nicht kapital-produktiv ist. Darin allerdings drückt sich der tiefe innere Widerspruch des Wertverhältnisses und seine eigene historische Schranke aus. Der soziologistisch-politizistischen Diskussion der Linken über die Frage der "produktiven Arbeit" und das "Verschwinden" der alten Arbeiterklasse ist nahezu völlig die KRISENTHEORETISCHE Dimension dieses Problems entgangen. Das Heraussetzen immer neuer Kategorien von nicht-kapitalproduktiver Lohnarbeit durch den kapitalistischen Verwissenschaftlichungsprozeß selber heißt nichts anderes, als daß die stofflich-sinnliche Reproduktion der Gesellschaft über die Grenzen des Wertverhältnisses hinauszuwachsen beginnt und diese Hülle durchbrechen muß. Die immer fortgetriebene Verwissenschaftlichung, weit entfernt davon, das Kapitalverhältnis letztlich zu einem in sich geschlossenen, verewigten Regelkreis zu machen, treibt es vielmehr mit beschleunigter Dynamik auf seine absolute Schranke zu. In demselben Maße, wie die kapitalproduktive Arbeiterklasse "verschwindet", d.h. relativ und schließlich absolut zu schrumpfen beginnt, muß die kapitalistische Produktionsweise in eine nicht mehr aufhebbare Krise eintreten, in deren Prozeß wir uns gegenwärtig bereits befinden. Das "Verschwinden" der kapitalproduktiven Lohnarbeits-Kategorien ist logischerweise identisch mit dem "Verschwinden" der "WERTSUBSTANZ" und muß eine immer stärkere Spannung zur wertförmigen gesellschaftlichen Verkehrsform erzeugen, bis hin zur Zerreißprobe. Gerade WEIL immer weniger (direkte und indirekte) Produktionsarbeit immer größere Menschenmassen im stofflichen Sinne ernähren und reproduzieren kann, ist diese Reproduktion nicht mehr als wertförmige möglich. Die Schranke dieser Form zeigt sich an der Oberfläche auch in der immer höher angehäuften Staatsschuld, deren Krise die Überakkumulationskrise in bisher nicht bekanntem Maße verschärfen muß. War die Staatsschuld in der Vergangenheit auf einen spezifischen Staatskonsum außerhalb der gesell-

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schaftlichen Reproduktion oder über diese hinaus bezogen (absolutistische Hofhaltung, Kriegführung vor allem), so würde ohne den auf ständig gesteigerter Schuld beruhenden Staatskonsum heute die gesellschaftliche Reproduktion selber zusammenbrechen. Keynesianismus und Monetarismus verkennen gleichermaßen die Natur der nicht mehr zurückführbaren Staatsschuld, die nur monetär die historische Tauschwert-Dämmerung selber ausdrückt.
Die Krise ist unter diesen Bedingungen keine vorübergehende mehr im Zusammenhang eines bloß zyklischen Ausdehnungsprozesses des Kapitals, dessen historische Schranke jetzt erst erreicht wird. Gerade deswegen aber ist die Krise auch kein bloßer Einschnitt, Einbruch oder relativ kurzzeitiger "Donnerschlag" mehr, sondern selber historischer Prozeß geworden mit empirisch nicht zu errechnender Ausdehnung. Der Zyklus besteht weiter, aber jetzt INNERHALB des übergreifenden Krisen-Prozesses selbst. Im Verlauf dieses Prozesses kehren nicht nur offenkundig und heute bereits sichtbar Momente der ABSOLUTEN VERELENDUNG in die kapitalistischen Kernländer selbst zurück; eine Verelendung freilich, die jetzt nicht mehr in erster Linie dem unmittelbaren Arbeitsprozeß selbst entstammt wie noch im 19. Jahrhundert, sondern vielmehr Ausdruck der Schranke wertförmiger Reproduktion als solcher ist.
Die sozialen Kategorien der Lohnarbeit werden gleichzeitig insgesamt völlig umgewälzt. Die Arbeiterklasse im alten Sinne "verschwindet" noch auf eine dritte, neuartige Weise. Die Lohnarbeit totalisiert sich nicht nur und sie entwickelt sich auch nicht nur in Richtung eines Schrumpfungsprozesses ihrer kapitalproduktiven Sektoren, sie ENTKOPPELT gleichzeitig die SOZIALEN KATEGORIEN der Tendenz nach von den empirischen INDIVIDUEN. Die erreichte Höhe des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses zeigt sich auch darin, daß die bisher scheinbar fest und organisch mit bestimmten Personengruppen verwachsenen sozialen Kategorien sich von diesen zu lösen beginnen und sich zunehmend als bloße gesellschaftliche FUNKTIONS-KATEGORIEN herausstellen, zwischen denen die empirischen Individuen frei flottieren.
In negativer Form scheint ein Moment des Kommunismus auf, die Aufhebung des starren Arbeitsteilungs- und Sozialsystems. Die traditionelle Arbeiterklasse "verschwindet" also auch in dem Sinne, daß eine Person innerhalb des totalisierten Systems der gesellschaftlichen Lohnarbeit immer weniger lebenslang einer bestimmten, fixierten Kategorie zuzurechnen ist. Die Kapitalproduktive Lohnarbeit besteht, wenn auch auf abnehmender Stufenleiter, noch immer weiter, aber es gibt der TENDENZ nach keine Lohnarbeiter mehr, die als Individuen ausschließlich und lebenslang in kapitalproduktiven Funktionen tätig sind. Der Wechsel aus dem "produzierenden Gewerbe" in den "Dienstleistungssektor" und umgekehrt wird mit der Zunahme erzwungener Mobilität immer häufiger. Dasselbe gilt für alle anderen Momente des gesellschaftlichen Arbeitsteilungs- und Sozialsystems. Schon heute kann jemand im Laufe seines Lebens zwischen Sozialkategorien wie Fabrikarbeiter, Akademiker, Sozialhilfeempfänger, Dienstleistungs- bzw. Reproduktionsarbeiter, Künstler usw. wechseln oder sogar gleichzeitig in verschiedenen Kategorien sein empirisches Dasein haben. Studenten und Akademiker

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mit Halb- oder Viertelstellen arbeiten gleichzeitig auf Dauer in Büros und Fabriken auf unqualifizierter Ebene, umgekehrt durchlaufen immer mehr Büro- und Fabrikarbeiter sekundäre und unspezifische Qualifikationsprozesse, die keineswegs einen Wechsel der Sozialkategorie im alten Sinne von "Aufstieg" etc. garantieren. Der feste "Beruf" wird zum absterbenden Moment. Über die unmittelbare Reproduktion in der gesellschaftlichen Arbeit greift dieser Wandel auf alle anderen "Lebensbereiche" über, auf Geschlechtsrollen, Sexualität, Familie usw. ebenso wie auf die Alltagskultur und das ideologische "Wertesystem", die psychischen Sozialcharaktere, den Habitus etc.
Aber der Beginn dieses Wandels liegt erst relativ kurze Zeit zurück; die alten fixierten Kategorien und Charaktere bestehen gleichzeitig noch in großem Maßstab auf absehbare Zeit weiter. Die ja auch offiziell geforderte und umstrittene "Mobilität" und "Flexibilisierung", obwohl sie weit hinausgeht über den bloß gewerkschaftlichen Streit um das "Normalarbeitsverhältnis" und die soziale Besitzstandwahrung der traditionellen Kernarbeiterschaft, hat noch nicht nach der POSITIVEN Seite hin zur BEWUSSTEN IDENTITÄTSBILDUNG einer "neuen Arbeiterklasse" geführt, die "neu" ist auch im Sinne eines politisch-identifikatorischen WIDERSPRUCHS zur traditionellen Arbeiterklasse und deren gesellschaftlich institutionalisierten Ausdrucksformen; eine solche "neue Arbeiterklasse" hat allerdings auch nichts gemein mit der bisherigen Besetzung dieses Begriffs, wie er in der soziologistisch verkürzten Theoriebildung bereits eingeführt ist (Mallet u.a.), die selber noch in starren Kategorien denkt und sich daher bloß auf die quantitative Erweiterung des traditionell-berufsständischen Status der Naturwissenschaftler, Ingenieure und Techniker zur "Klasse" bezieht, ohne den sozialökonomischen Umwälzungs- und Krisenprozeß als Ganzes im Auge zu haben. Es wird nicht einfach der "Mittelbau" der gesellschaftlichen Arbeit erweitert und etwa der traditionellen Arbeiterklasse einverleibt, sondern die Individuen werden überhaupt von den starren Kategorien eines in seiner stofflich-inhaltlichen Struktur fixierten Arbeitsteilungs-Systems "entkoppelt" in demselben Maße, wie dieses System sich in eine total "vernetzte" Struktur von prozeßgesteuerter Reproduktion verwandelt und die menschliche Arbeitskraft diesem Gesamtsystem "flexibel" gegenübersteht. Erst in dieser Umwälzung verdampfen die letzten Reste eines immer noch quasi-"ständischen" Bewußtseins, während die Wertform gleichzeitig in ihr letztes und absolutes Krisenstadium eintritt.
Deswegen ist der Schrott-Tanker SPD auch historisch glücklicherweise nicht mehr flott zu machen. Die "neuen sozialen Bewegungen" stellen so gesehen nichts weiter dar als die bloße ÜBERGANGSERSCHEINUNG eines noch unausgegorenen IDENTITÄTSWANDELS der gesellschaftlichen Arbeiterklasse, dessen REVOLUTIONÄRE KONSEQUENZEN noch im Dunkeln liegen. Die Herausbildung der GRÜNEN hat noch auf der alten Seite des Ufers stattgefunden, wie ihre ordinäre Verstaatsbürgerlichung und Parlamentarisierung, die Dominanz der "Realos" und überhaupt ihr Dasein als bloß modifiziertes Abziehbild des alten Sozialdemokratismus zeigen. Der grün-sozialdemokratische Neo-Reformismus wird gegenwärtig von Menschen und

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Bewegungen getragen, deren wirkliche soziale und identifikatorische Zukunft innerhalb des sterbenden Wertverhältnisses in Wahrheit völlig unvereinbar ist mit diesen vulgär bürgerlich-fetischistischen, noch der Vergangenheit angehörenden politischen Ausdrucksformen.
Idealtypisch können die alten und die neuen Sozialkategorien der Lohnarbeit bereits klar gegenübergestellt werden. Die Menschen der alten Arbeiterklasse sind in jeder Hinsicht starr und "fixiert" in ihrem sozialen Dasein; sie sind "berufsorientiert" im Sinne einer engen und lebenslang beibehaltenen Qualifikation, Handfertigkeit oder sonstwie ihnen "zugehörigen" Tätigkeit, die demzufolge auch an der spezifischen unmittelbaren Arbeitspraxis orientiert bleibt (Präzision, Geübtheit, Spezialwissen); sie sind ebenso an starre Geschlechtsrollen und Familienbindungen gefesselt samt Heirat und lebenslanger Zwangspartnerschaft; über alle diese Fixierungen sind sie eingebunden in Formen einer spezifischen Klassen- und Nationalkultur sowie in organisatorische und politische Verpflichtungen, die diesem starren Gefüge entsprechen (klassen- und schichtspezifisch geprägte Vereinskultur, Gewerkschaften, Parteien wie SPD oder KPD mit ebenfalls fester traditioneller Zuordnung und Treuebindung).
Vom Standpunkt der neuen "flexibilisierten" Lohnarbeiterklasse aus handelt es sich bei dieser sozialen Formation um ein antiquiertes proletarisches Spießbürgertum, dessen Dasein und Wertesystem mehr als fragwürdig geworden ist. Die Menschen der neuen Arbeiterklasse sind inhaltlich mobil, berufs-unspezifisch orientiert und einem ständigen wie wechselnden Qualifikations- und (von der "Verkäuflichkeit" her) Dequalifikationsprozeß unterworfen, der auf gesellschaftlich-allgemeinen, vermittelten Wissensinhalten beruht, die nicht mehr oder jedenfalls zunehmend weniger an unmittelbarer Arbeitspraxis orientiert sein können, weil der Verwissenschaftlichungs-Prozeß jedes bloß praktische Wissen, bloße Präzision und "Geschicklichkeit" in immer schnellerem Tempo "entwertet". Mit dieser sozialökonomischen Flexibilisierung einher geht die Auflösung fester, zwanghafter Geschlechtsrollen und Familienbindungen; Zerfall des starren Ehe-Systems, Ausbreitung von "Singles" und freien Partnerschaften, Emanzipationswille der Frauen und Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Sexualbeziehungen sind unvermeidliche Konsequenzen des allgemeinen Wandels zur gesellschaftlichen Flexibilität überhaupt. Gleichzeitig lösen sich die starren habituellen und politischen Kulturen auf; die neuen flexiblen Individuen müssen sich ihre kulturelle und politische Identifikation bewußt selbst erobern und finden sie nicht mehr schon immer festgefügt vor wie ein Karnickel seinen Stall.
Es wäre natürlich verkehrt, diese idealtypische Gegenüberstellung schon für eine verallgemeinerte unmittelbare Realität zu halten. Es sind damit aber die wesentlichen gesellschaftlichen TENDENZEN aufgedeckt, wie sie sich bis jetzt noch hinter dem Rücken der Individuen vollziehen, in deren empirischem Dasein sich heute die beiden Kategorien-Systeme sozialökonomischer Reproduktion noch auf die vielfältigste Weise vermischen. Eben deshalb ist auch der umfassende revolutionäre Identifikations- und Selbstfindungsprozeß der neuen "flexibilisierten" Arbeiterklasse noch in einem erst vagen, embryonalen Gärungszustand begriffen.

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Die neuen Daseins- und Bewußtseinsformen, gerade weil sie noch unausgegoren sind und doch schon schmerzhaft mit der alten sozialen Welt und der daraus entstandenen "Welt-Anschauung" zusammenstoßen, werden zunächst vor allem in ihrer bloß NEGATIVEN Herausbildung wahrgenommen und lösen daher vielfältig Angst, Abwehr, Verlorenheit und regressive Reaktionen aus, was sich z.B. ideologisch im Rückgriff auf vormarxistische Emanzipationsideologien, lebensreformerische Experimente, Naturmystik, Produktivkraftkritik usw. äußert.
Mit am übelsten muß diese Regression gegenwärtig bei einigen feministischen Strömungen aufstoßen, die der spezifischen Unterdrückung der Frau in Wirklichkeit völlig begriffslos gegenüberstehen. Die verschiedenen, oft mythologisch angehauchten "Patriarchats"-Theorien verdunkeln das Problem eher, statt es aufzulösen. Frauenunterdrückung wie Frauenemanzipation (letztere nicht als vollzogene Realität, sondern als sozialhistorisch konstituierter Wille und Bewegung) sind in der modernen Welt gleichermaßen Resultat der Entfaltung des Wertverhältnisses wie dessen in sich widersprüchlicher Vermittlung mit dem traditionellen Blutsverwandtschaftssystem. EINERSEITS zersetzt die Entfesselung des Werts auf stets wachsender Stufenleiter den Blutsverwandtschafts-Zusammenhang ALS ORGANISATIONSFORM DER GESELLSCHAFTLICHEN REPRODUKTION, löst diese Form immer umfassender ab durch die abstrakt vergesellschaftende Wertform und setzt dadurch auch die Energien und Widerspruchsebenen für einen Emanzipationswillen der Frauen frei; denn es gehört zu den Mythologien und falschen Interpretationen vorkapitalistischer Verhältnisse, daß in diesen jemals Elemente einer Freiheit der Frau existiert hätten. ANDERERSEITS aber hebt das Wertverhältnis den Blutsverwandtschafts-Zusammenhang keineswegs auf, sondern zwingt ihn vielmehr selber in die Form der erst kapitalistisch konstituierten ABSTRAKTEN PRIVATHEIT, die ihr zusammenfassendes Prinzip wiederum in der ABSTRAKTEN ALLGEMEINHEIT des modernen STAATES hat. Die Familie als Sphäre der (abstrakten) Privatheit, getrennt von der Sphäre der Produktion und der gesellschaftlichen Institutionen, ist erst das Produkt der historischen WertformDynamik.
Die idealtypische Form der abstrakten Privatheit wäre das absolut einsame Individuum, die absolute gesellschaftliche Monade. Die Dynamik des entfesselten Werts drängt auch auf diesen Zustand hin, wie sich heute sogar zunehmend empirisch belegen läßt. Aber die Wertform kann ihrer Natur nach nicht alle lebensnotwendigen Momente der menschlichen Reproduktion gleichermaßen in sich aufnehmen; dies ist weder bei den keineswegs total vergesellschaftungsfähigen Resten der Hausarbeit möglich noch vor allem bei der Kinder-Aufzucht. Der BlutsverwandtschaftsZusammenhang kann also von der Wertform gar nicht total aufgehoben werden, sondern muß die Rolle eines "Scharniers", einer vielfältigen Vermittlungs- und AuffangInstanz der zahllosen Friktionen des Wertverhältnisses spielen und die Hauptlast der nicht total wertförmig erfaßbaren Reproduktionssektoren tragen. Der Blutsverwandtschafts-Zusammenhang spielt diese Rolle jedoch nicht mehr unmittelbar als solcher, sondern in der historisch erst von der entfalteten Wertform konstituierten Hülle oder im Gehäuse

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der abstrakten Privatheit. Innerhalb dieses Gehäuses aber wird spezifisch die Frau unterdrückt, denn sie ist es, die tatsächlich die Hauptlast der weiterhin auf das Blutsverwandtschaftsverhältnis abgewälzten Reproduktionsarbeit trägt, die jetzt in dieses Gehäuse der abstrakten Privatheit eingebannt ist. Dies gilt auch dann, wenn in diesem Verhältnis gar kein Mann mehr unmittelbar anwesend ist, etwa bei "alleinerziehenden Müttern" (umgekehrt natürlich auch als Ausnahme bei ebensolchen Vätern). Gerade in seiner vollständigen Reduktion in der Hülle der abstrakten Privatheit, getrennt von allen anderen Sphären der sozialökonomischen Reproduktion, nimmt das Blutsverwandtschafts-Verhältnis erstmals historisch reine Form an als reines Mutter- (bzw. Eltern-) Kind-Verhältnis oder als reines Geschlechtsverhältnis von Frau und Mann, reproduziert auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. In dieser reinen Form werden die weitergeschleppten und historisch dem Blutsverwandtschaftsverhältnis entsprungenen Geschlechtsrollen absurd und obsolet bis zur Unerträglichkeit, eine Spannung, die sich weiterhin in erster Linie zu Lasten der Frau entlädt. Die abstrakte Privatheit des Wertverhältnisses, äußerlich verklammert durch die abstrakte Allgemeinheit des Staates, reproduziert sich also - in ihrer gesellschaftlichen Arbeit vermittelt durch die abstrakte Geldform - gleichzeitig in Gestalt der Familie als reduziertem und eben dadurch erst reinem Blutsverwandtschaftsverhältnis, das seinerseits fortlaufend weiter zersetzt wird durch die totale "Monadisierungs"-Dynamik der Wertvergesellschaftung und insofern wiederum das permanente Eingreifen der abstrakten Staats-Allgemeinheit herausfordert.
Es zeigt sich so, daß über die Familie als Form der abstrakten Privatheit Wertverhältnis und Blutsverwandtschaftsverhältnis zu Lasten der Frau MITEINANDER VERSCHRÄNKT sind und die Krise der Familie als Teilmoment der Krise des Wertverhältnisses selber begriffen werden muß. Wertverhältnis und Blutsverwandtschaftsverhältnis sind in der modernen Welt nicht zwei einander äußerliche und parallele "Prinzipien", von denen das eine als "Patriarchat" das bloß ältere und tieferliegende wäre, sondern sie bilden in ihrer Verschränktheit eine erst kapitalistisch konstituierte Identität, die daher auch nur als solche und als Ganzes aufgehoben werden kann.
Man ermesse daran den gefährlichen Unsinn feministischer Strömungen, die diese wirkliche Logik der Verhältnisse direkt auf den Kopf stellen. In geradezu hysterischer Weise wird die positive Besetzung des "Werte"-Schaffens durch die alte Arbeiterbewegung, statt sie zu kritisieren, nun auch noch für die Hausfrauen eingeklagt (C. Werlhof u. Co.)! Statt die Negativität und zerstörerische Potenz des Wertverhältnisses zu erkennen, fällt dieser scheinradikale Feminismus prompt auf die Fetischismen des vermeintlich kritisierten traditionellen Marxismus herein und möchte den gesellschaftlichen Fetisch des Werts nun auch dort noch in Kraft setzen, wo er seiner Logik nach überhaupt nicht als Realverhältnis existieren kann. Umgekehrt wird dann die Blutsverwandtschaft und die darin zur Rolle geronnene biologische Funktion der Frau, statt sie in ihrem repressiven, widersprüchlichen Vermittlungszusammenhang und in ihrer Verschränkung mit dem Wertverhältnis aufzudecken und zu kritisieren, selber zum

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positiven, mystifizierten Bezugssystem einer falschen, regressiven Identität der Frau gegenüber den unbegriffenen Friktionen des gesellschaftlichen Wertverhältnisses gemacht. Der Feminismus, einst ausgezogen, um die Frauen von der Repression der biologischen Mutterschafts-Rolle des Blutsverwandtschaftsverhältnisses zu befreien, ist so wieder zur dumpfen Mütterlichkeit regrediert und zum Einfallstor reaktionärer und irrationalistischer Tendenzen in die gesellschaftliche Oppositionsbewegung geworden.
Aber das neue soziale Dasein der "flexibilisierten" Lohnarbeit muß trotz alledem zu einer POSITIVEN, d.h. aber revolutionären Selbst-Identifikation gelangen und kann weder auf Dauer in regressiven Ideologien verharren noch sich sozial den Interpretationsmustern der alten Institutionen ausliefern. So ist etwa die "Flexibilisierungs"-Diskussion auf der unmittelbarsten sozial- und tarifpolitischen Ebene bis jetzt hauptsächlich durch die Abwehrhaltung der Gewerkschaften geprägt, die sich nicht einmal entblöden, den sonntäglichen Kirchgang als Argument ins Feld zu führen. Tatsächlich existieren aber real schon Millionen von Menschen, denen die "Heiligung des Sonntags" genauso scheißegal ist wie das sterbenslangweilige Ritual eines feiertäglichen "Familienlebens". Teilzeitarbeit und andere Formen einer Reduktion des "Normalarbeitsverhältnisses", logisch wie praktisch nur möglich durch eine Negation des familiären Blutsverwandtschaftsverhältnisses als Form der abstrakten Privatheit, werden millionenfach bereits im Kern POSITIV besetzt, während sie den traditionellen Gewerkschaften noch größtenteils an sich suspekt oder ein Greuel sind. Gerade deswegen aber ist die Flexibilisierung der gesellschaftlichen Arbeit gegenwärtig noch ganz in eine kapitalistische Strategie der versuchten Überwindung der Akkumulationskrise eingebunden, deren Zielsetzung u.a. "ungeschützte" Arbeitsverhältnisse sind. Ein Moment im Selbstfindungsprozeß der neuen Lohnarbeiterklasse muß deshalb zweifellos zukünftig die soziale Mobilisierung INNERHALB der eigenständig und KONTRÄR zum Kapital-Standpunkt positiv besetzten Flexibilisierung sein, um zu neuen Formen des Klassenkampfes zu gelangen. Der offizielle und durchschnittliche Gewerkschaftsstandpunkt gegen Flexibilisierung, Teilzeitarbeit usw. überhaupt ist dagegen reaktionär, eine subtilere Wiederholung der Maschinenstürmerei auf höherer Vergesellschaftungs-Ebene.
Die neue und höhere, gegen das Wertverhältnis selber gerichtete Form des Klassenkampfes wird nicht machbar sein mit den alten verrosteten Institutionen der alten Arbeiterklasse, zu deren unbeweglichsten und rückständigsten Ausdrucksformen eben die Gewerkschaften gehören. Es wird dieser neue Kampf überhaupt nur gegen die Trägheit der alten Institutionen zu entfesseln sein. Das ganze verrottete Organisations- und Denksystem der alten Arbeiterbewegung muß letztlich über den Jordan geschickt werden, die berufsständischen Orientierungen ebenso wie das Familiensystem, Staatsbürgerlichkeit und fetischistischer Demokratismus ebenso wie nationale Identitäten, Fixierung auf die Rechtsform usw.
Zu diesen reaktionär werdenden Resten einer absterbenden Vergangenheit gehört auch die institutionelle Trennung von "Partei" und "Gewerkschaft", die nichts anderes ist als das institutionelle Dasein des Warenfetischismus in einer demokratisch in die Lohnarbeit eingebundenen

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Arbeiterbewegung. Im Krisenprozeß des Wertverhältnisses und der sozialen "Umwertung der Werte" macht die Trennung von "Ökonomie" und "Politik" keinen Sinn mehr; darin scheint bereits die reale Aufhebung des fetischistischen Zerfalls der Gesellschaftlichkeit in getrennte "Bereiche" auf, die durch die kommunistische Revolution vollstreckt werden muß. Indem die neue, flexibilisierte Lohnarbeiterklasse zu ihrer positiven Selbst-Identifikation findet, wird sie nicht nur die Beschränktheit der Institutionen der alten Arbeiterbewegung überwinden, sondern auch die Beschränktheit von deren rechtsfetischistischen Kampfformen. Der selber "flexible" Massen- und Generalstreik ohne die schwachsinnig gewordene gewerkschaftliche Branchen-Beschränktheit wird ebenso zum alltäglichen Mittel gemacht werden müssen wie andere Formen der Lahmlegung des öffentlichen Lebens kapitalistischer Reproduktion (Sabotage, Boykott), aggressive Massendemonstrationen usw.
Aber die radikale Aktionsform steht keineswegs am Anfang einer radikalen Bewegung, wie es sich der krude Aktionismus der Autonomen etc. heute wohl einbildet. Die Idee wird nicht aus der Aktion heraus geboren, sondern umgekehrt. Der revolutionäre Zugriff auf die gesellschaftliche Reproduktion ist zuerst ein PROGRAMMATISCHER, vermittlungsfähiger, von einer konkretisierten revolutionären Theorie getragener; in dieser Hinsicht existiert bis heute keine Radikalität in der BRD und in den entwickelten kapitalistischen Ländern überhaupt. Der theoretisch-programmatische Selbstfindungsprozeß der neuen flexibilisierten Lohnarbeiterklasse als entscheidendes, transformierendes Moment des Krisenprozesses der Gesellschaft geht einher mit ihrer Herausbildung selber; die wahren Totengräber des Kapitalismus werden erst heute geboren.
In diesem ganzen eskalierenden Krisenprozeß und während der Geburt der neuen sozialen Vollstrecker einer wirklichen Aufhebung kapitalistischer Reproduktion besteht die alte Arbeiterklasse fort, wenn auch auf abnehmender Stufenleiter als vergehendes historisches Moment. Aus sich heraus kann diese veraltende Gestalt des sozialen Klassenkörpers keinerlei Weg mehr aus der Krise finden; in halb verzweifelten, halb resignierten Defensivkämpfen wird sie sich immer nur an die Verteidigung des Lohnarbeiter-Daseins klammern, wie die isolierten Branchen- und Regional-Kämpfe der Kohle-, Stahl- und Werftarbeiter in verschiedenen Teilen Europas mit aller Deutlichkeit gezeigt haben. Diese Kämpfe mögen in einigen Regionen "militant" geführt werden, wie etwa Scargills Truppen aus den hochorganisierten nordenglischen Zechen oder die lothringischen Stahlarbeiter es vorgeführt haben, aber INHALT und PROGRAMM dieser Bewegungen war und ist hoffnungslos borniert. In diese rein defensiven, kapitalistisch immanenten Bewegungen kann keine kommunistische Idee direkt hineingetragen werden (die man ja erst einmal haben müßte!), wie es sich ein Teil der selber historisch bornierten linken Traditionalisten (DKP etc.) vielleicht erhofft, deren "Kommunismus"-
Verständnis selber genauso historische Makulatur ist wie die Aktions- und Bewußtseinsformen des alten Gewerkschaftlertums. Unter den gestickten Traditionsfahnen mit dem edlen Kitsch des 19. Jahrhunderts wird das erste und letzte Wort der Gewerkschaften ein hundeelendes Arbeitsplatzgewinsel bleiben,

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fixiert auf Korporatismus, Nation und Überlebensfähigkeit auf dem Weltmarkt, der in seiner bisherigen Gestalt sowieso nicht weiterbestehen kann. Vokabeln wie "Sozialverträglichkeit" signalisieren eine Sklavensprache, die bis zuletzt das eigene Idiom der ehemaligen proletarischen Pfeffersäcke des Fordismus bleiben wird.
Trotzdem können auch längerfristig die sozialen Defensivkämpfe der untergehenden alten Arbeiterklasse einen strategischen Stellenwert gewinnen, aber nicht aus sich heraus, sondern höchstens in einer revolutionären Schlachtordnung der neuen, zum Selbstbewußtsein gekommenen und zur aktiven, organisierten gesellschaftlichen Kraft herangereiften flexibilisierten Lohnarbeiterklasse. In deren erweitertem Horizont können die defensiven Bewegungen des alten Klassenkörpers vielleicht zukünftig eine von "Bündnissen" flankierte Funktion erhalten wie für die alte Arbeiterbewegung selber die Bauern- und Kleinbürgerbewegungen der Vergangenheit. Zu mehr als Bauern auf dem Schachbrett eines künftigen neuen Klassenkriegs jenseits der fetischistischen Wertimmanenz können es die verspießbürgerten Kleinhändler der Ware Arbeitskraft kaum mehr bringen.
Cum grano salis gilt dies letztlich auch für die Arbeiterbewegungen im "Realsozialismus". Die Formation einer nachholenden ursprünglichen Akkumulation, die äußerlich und gewaltsam auf die westliche Peripherie der Sowjetunion übertragen worden war, hat in ihrer Stagnationskrise weder die umwälzende Dynamik des Wertverhältnisses noch die einer sozialistischen, wert-aufhebenden Reproduktion entfesseln können; mit den veralteten Industriestrukturen zusammen wurde auch der alte soziale Klassenkörper konserviert. In der rohen Form des rückständigen, äußerlich-bürokratisch regulierten Wertverhältnisses hat sich ironischerweise die traditionelle Arbeiterklasse, weit entfernt von einer Selbstaufhebung, in einer geradezu musealen Form erhalten und reproduziert immer noch ungebrochen jene starren Lebens- und Denkstrukturen, die sich unter dem Diktat des fortgeschrittenen Verwissenschaftlichungs-Prozesses im Westen bereits aufzulösen beginnen. Die Arbeiterbewegungen des Ostens sind bis ins Mark von diesem Zustand geprägt und tragen daher vergleichsweise ultrakonservative, traditionell demokratistische und gewerkschaftliche Züge. Man braucht sich bloß diesen Lech Walesa mit seiner Fußballmannschaft katholisch gezeugter Kinder anzuschauen. Diese großväterlichen Arbeiterbewegungen können vielleicht im Osten noch einmal den alten kapitalistischen Modernisierungs- und Demokratisierungs-Part der im Westen schon untergehenden alten Arbeiterbewegung spielen, wenn auch natürlich nicht ungebrochen. Eine gesamteuropäische Einbindung in eine heraufkommende revolutionäre Bewegung der neuen, flexibilisierten Lohnarbeiterklasse des Westens wäre nur möglich in dem Maße, wie durch die gelingende Freisetzung des Verwissenschaftlichungsprozesses auf höherer Stufenleiter auch im Osten die Sozialstrukturen aufgebrochen werden und die vom Westen bereits kulturell beeinflußte Jugend auch im Osten in einem ganz neuen Sinne die revolutionäre Führung übernimmt.
Die Zeit der Revolutionen gehört nicht der Vergangenheit an, sondern der Zukunft. Mit dem Erlöschen des sozialhistorischen "Paradigmas" der alten Arbeiterbewegung sind auch die

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Zugkraft der Oktoberrevolution und der Dritte-Welt-Revolutionen für immer erloschen; die Weltrevolution mußte notwendig in eine Latenzphase zurücktreten, bis mit einer neuen Stufe kapitalistischer Vergesellschaftung und deren Krise auch ein neuer sozialer Träger der Lohnarbeiterklasse und eine neue Gestalt revolutionärer Theorie und Programmatik heranreifen. Das alte Europa kann vielleicht noch einmal zur Speerspitze des Fortschritts werden, die mit der französischen Revolution begonnene transitorische Emanzipationsbewegung vollenden und gleichzeitig seine kolonialistische "Schuld" endlich begleichen, wenn es ihm gelingt, die bisher unerhörte Revolution über das Wertverhältnis hinaus in seinem Schoß auszubrüten.

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6. Revolutionäre Intelligenz kann sich nur außerhalb des Wissenschaftsbetriebs entwickeln

Die objektive Bestimmung des sozialhistorischen Trägers revolutionärer Subjektivität muß konkret geleistet werden, statt das bloß logische Abstraktum "Arbeiterklasse" (das in seiner Logik noch nicht einmal begriffen ist) ebenso gebetsmühlenhaft zu bemühen wie den Demokratismus. Die Linke in ihren verschiedenen Spielarten hat die seit 1968 wiederholt selbstgestellte Aufgabe einer "Klassenanalyse" nicht gelöst und auch gar nicht lösen können, da ihre Theoriebildung in warenlogisch bedingte Ökonomie und positivistischen Soziologismus auseinandergefallen und somit fetischistisch verblendet blieb. Statt den sozialen, politischen und ideell-programmatischen Selbstfindungsprozeß einer bestimmten historischen Formation der Arbeiterklasse herauszuarbeiten, verfiel die Linke entweder dem abstrakten MYTHOS der Arbeiterklasse, deren ikonenhaftes Bild einem schon vergehenden, schon zersetzten und "unwahr" werdenden Zustand der Vergangenheit entsprach, oder sie ging völlig unvermittelt auf das abstrakte spätkapitalistische Interessens-Individuum los, das "vom Kapitalismus nichts hat" (wie es bis heute die Agitations-Sekte MG vorführt).
Der ideologische Drang nach unmittelbarer Praxis, wie er vor allem aus der westlichen Subjekttheorie von der Neuen Linken kurzschlüssig abgeleitet worden war, ließ jene Problemstellung als konkrete gar nicht erst aufkommen, die in der vorhergehenden, noch nicht einmal als beendet verstandenen Epoche als die Aufgabe einer "Verschmelzung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung" benannt worden war. Die unmittelbare Identität dieser beiden Pole eines historischen Bewußtwerdungsprozesses konnte noch nie platt vorausgesetzt werden, weder als die Unmittelbarkeit einer quasi mystischen historischen Identität noch als die krude Unmittelbarkeit des Interesses. Schon immer mußten die beiden Pole von gesellschaftlich sich konkretisierender Theoriebildung einerseits und sozialer bzw. politischer Bewegung andererseits sich in einem langwierigen, spannungsgeladenen Prozeß miteinander vermitteln. Auf einer noch unreifen gesellschaftlichen Grundlage war diese Vermittlung oder "Verschmelzung" in den Gestalten des traditionellen Marxismus und der alten Arbeiterbewegung schon einmal relativ gelungen, wobei die Linke immer schon die fertigen historischen Formen dieser Vermittlung (Parteien und Gewerkschaften) vor Augen hatte, die heute nichts mehr weiter sind als die institutionell erstarrte Lava eines längst erloschenen Vulkans, statt den vorhergehenden und als theoretisches Problem verschollenen Vermittlungsprozeß selbst zu begreifen und für die eigene Situation in neuer Weise auf einer höheren Vergesellschaftungsstufe fruchtbar zu machen.
Tatsächlich hat es natürlich immer auf beiden Seiten dieser zu vermittelnden Polarität bestimmte Akteure gegeben, deren Subjektivität den ganzen Prozeß trug und die sich nicht übereinander hinwegsetzen konnten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung in der neuen bürgerlichen Gesellschaft um ihr eigenes Wesen, ihre Logik und ihre weitere Entwicklung

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brachte den Marxismus als Strömung des theoretischen Denkens hervor; die Protagonisten dieser Strömung waren also auch wirklich in erster Linie Theoretiker und nicht etwa Agitatoren - ebensowenig konnten sie sich platt positiv-instrumentalistisch auf vorgegebene gesellschaftliche Praxis-Formen als "wissenschaftliche Hilfskräfte" beziehen. Sie mußten vielmehr gerade umgekehrt in ihrer Theoriebildung alle vorgefundenen Formen radikal kritisieren und "gegen den Strom" schwimmen auf der Ebene der Theorie selber. Umgekehrt brachten auch die "Bewegungen" selber ihre eigenen Protagonisten und Aktivisten hervor, die sich aus ihrer praktischen Erfahrung heraus zunehmend weniger mit der falschen Unmittelbarkeit des bloß empirischen Interesses begnügen konnten, sondern mit der sich immer stärker aufherrschenden Frage nach dem Wesen und der Entwicklung dieser Gesellschaft sowie nach Weg und Ziel ihrer eigenen Bewegung auf die Sphäre der Theorie verwiesen wurden, auf die theoretische Erklärung und theoretische Auseinandersetzung. Weder die Aktion noch das empirische Interesse aus sich heraus schufen die historische Identität der Bewegung; vielmehr mußte der "Blitz der Idee" einschlagen in Gestalt einer konkretisierten revolutionären Theorie auf der Höhe der Zeit, die programmatisch vermittlungsfähig war und die "Verhältnisse zum Tanzen" bringen konnte durch das "Vorspielen" von deren eigener Melodie. Weil es sich auf den beiden Polen dieser "Verschmelzung" um verschiedene Personen und soziale Träger handelte, versuchte der platt soziologistische bürgerliche Verstand bis weit in die Linke hinein immer wieder, das "Zünden" der theoretischen Idee als eine den Bewegungen fremde und äußerliche Machenschaft von fanatischen, dogmatischen usw. "Intellektuellen" zu denunzieren, statt den Gesamtprozeß als den notwendig widersprüchlichen Selbstfindungs- und Bewußtwerdungsprozeß einer bestimmten sozialhistorischen Formation zu begreifen.
Die neue Linke hat in Gestalt der kurzgeschlossenen Sekten den notwendigen Vermittlungsprozeß von Theorie und sozialer Bewegung statt als zu erringendes Resultat bereits als (organisatorisch verkürzte) VORAUSSETZUNG genommen, andererseits in der scheinradikal übernommenen bürgerlichen Intellektuellen-Denunziation an die falsche Unmittelbarkeit des Bewegungs-Bewußtseins im direkten Gegensatz zur wissenschaftlichen Theoriebildung appelliert (SPONTANEISMUS in zahlreichen Spielarten), oder sich schließlich aus dem universitären Milieu heraus als jene "wissenschaftliche Hilfskraft" den Bewegungen in ihren JEWEILIGEN Konjunkturen offeriert (Linkssozialisten). Die eigentliche Aufgabe der Theorie konnte in solchen Konstellationen überhaupt nicht begriffen werden, und nicht umsonst ist das allgemeine Resultat die ordinäre Verstaatsbürgerlichung dieser Linken, in der sie sich gemeinsam wiedergefunden haben: die Sektenführer vom Typus Schmierer ebenso wie die "Spontis" à la Schmid oder Fischer, die Ex-Terroristen wie Mahler u.a. ebenso wie die professoralen Reformisten vom Schlage der Altvater, Hirsch, Negt, Offe usw. Die Grünen und ihr parlamentarisch-kretinistisches Koalitions- und "Tolerierungs"-Gekungel mit der Sozialdemokratie sind nicht der endlich gelungene "Parteibildungsprozeß", sondern ganz im Gegenteil der direkte Ausdruck von dessen endgültigem Scheitern auf den ideologischen Grundlagen der neuen Linken.

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Ihre stupide Begriffslosigkeit der kapitalistischen Entwicklungslogik und deren Krisenhaftigkeit gegenüber unterscheidet sich außer in moralistischen, hilflosen Floskeln in nichts von der allgemein-bürgerlichen.
Mit dem kläglichen Scheitern der neuen Linken aber ist die objektiv gestellte Aufgabe nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. Diese Aufgabe, die in der alten, absterbenden Formation als "Verschmelzung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung" benannt war, stellt sich auf neuer historischer Stufenleiter und auf dem Boden einer viel höher entwickelten Gesellschaft auch in neuer Form. In dem Maße, wie die alten Arbeiterbewegungen ihre Aufgabe der "Demokratisierung" des Wertverhältnisses, d.h. der Totalisierung der Lohnarbeit, wirklich erreicht und die Arbeiter sich endlich in die abstrakten Individuen bürgerlicher Geld-Subjektivität, in abstrakt freie und gleiche Rechts-Subjekte verwandelt hatten, mußte diese Bewegung als solche zum Stillstand kommen und den für sie gegenstandslos gewordenen Marxismus im Zuge ihrer offenen bürgerlichen Institutionalisierung wieder abschütteln. Dieser historische Entkoppelungsprozeß war genauso widersprüchlich, spannungsgeladen und in einzelnen Ländern unterschiedlich gefärbt wie der frühere Verschmelzungsprozeß; er ist heute weitgehend abgeschlossen, auch wenn die marxistische Nomenklatur noch sozusagen seufzend durch das politischgewerkschaftliche Vokabular geistert als der Nachhall einer unbegriffenen Geschichte. Der überlieferte Marxismus mußte so im BÜRGERLICHEN WISSENSCHAFTSBETRIEB stranden und dort auf dem Trockenen langsam ausbleichen, sei es in Gestalt der Frankfurter Subjekttheorie und ihrer Verfallsformen oder in Gestalt des reformistischen akademischen Linkssozialismus, der sich in gräßlichen Verrenkungen abmüht, der steinalten und völlig verbrauchten Sozialdemokratie noch einmal in den abwehrend zugekniffenen Arsch zu kriechen. Als THEORIE ist dieser schon entseelte Marxismus mausetot und bereits fast vollständig in das alte Wechselspiel bürgerlicher Theorieproduktion zwischen irrationalem Subjektivismus und positivistischer Waren-Rationalität integriert.
Um die neue Form der alten Vermittlungsaufgabe herauszufinden, kann ein Blick auf ihre früheren Formen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nützlich sein. Als die direkten Träger jener alten "Verschmelzung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung" wären eine zunächst auf den bürgerlichen Universitäts- und Theoriebetrieb bezogene "revolutionäre Intelligenz" einerseits und eine aus der Bewegung hervorgehende "Arbeiteravantgarde" oder "Arbeiterintelligenz" andererseits zu bestimmen. Das offizielle wissenschaftliche Leben der Gesellschaft war in jener Zeit viel weniger entfaltet, andererseits nahmen an den Universitäten die Geisteswissenschaften einen relativ größeren Raum ein. Die Angehörigen der "revolutionären Intelligenz" waren im wesentlichen EINZELNE und kleine Gruppen, die sich keineswegs bloß immanent, sondern in radikaler kritischer Auseinandersetzung mit der offiziellen Wissenschaft herausgebildet hatten. Diese Menschen hatten sich in einem kritischen Bezug auf den Wissenschaftsbetrieb abgearbeitet, aber sie waren selten auch gleichzeitig Teil desselben. Marx, Engels, Kautsky, Lenin, Trotzki usw. waren aus gutem Grunde allesamt

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nicht akademisch in Amt und Würden; nicht nur, weil der Staat für die revolutionäre Intelligenz schon immer Berufsverbote und Repressalien bereithielt, sondern vor allem deswegen, weil der Fortgang revolutionärer Theorie im Klima und unter dem Druck des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs nicht gedeihen konnte. Die revolutionäre Intelligenz schuf sich in kleinen organisierten Gruppen eine eigene Basis außerhalb des Universitätsbetriebs und übersetzte den radikal kritischen Bezug auf die Universitätswissenschaft in eine ebenso radikale Kritik der jeweils vorherrschenden verkürzt utopischen, liberalen und reformistischen Ideologeme in den Bewegungen selbst; exemplarisch wären die Auseinandersetzung von Marx und Engels mit dem linken Flügel der Paulskirche und mit den grassierenden vulgärsozialistischen Ideologien zu nennen, ebenso die Auseinandersetzung der russischen Marxisten mit den Volkstümlern.
Der primäre Adressat und Rezipient dieser theoretischen Polemik war weder "die Klasse" unmittelbar noch "die Bewegung" als Ganzes, sondern vielmehr zunächst das fortgeschrittenste, beweglichste, intellektuelle Element in den Bewegungen, ihre aktiven Kader, die aus ihrer eigenen Praxis heraus auf die Sphäre der theoretischen Klärung und programmatischen Formierung verwiesen wurden. Auf dem noch gering entwickelten Terrain der damaligen kapitalistischen Vergesellschaftung rekrutierten sich diese Kader aus den "bessergestellten", fachlich qualifizierten Arbeitern, in den Anfängen vor allem aus der schon alten, auf eine lange Geschichte zurückblickenden Druckindustrie. Im Dasein dieser frühen Kader der Arbeiterbewegung zeigte sich schon die ganze Spannung und Widersprüchlichkeit ihrer "gelingenden" Vermittlung mit der revolutionären Theorie des Marxismus. Denn einerseits waren sie das fortgeschrittenste, intellektuelle Bewegungs-Element und insofern erster Träger der Theorie-Rezeption, andererseits aber gleichzeitig Träger eines beschränkt "zünftlerischen", korporativen Interesses mit eigentlich bloß reformistischer, immanenter Zielsetzung. Die Ungleichzeitigkeit des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses, vor allem die nachhinkende "Demokratisierung" des Wertverhältnisses und das Zurückweichen der empirischen Honoratioren-Bourgeoisie vor dieser Aufgabe, zwang dieser Arbeiter-Avantgarde die Rezeption radikaler Theorie auf, freilich gleichzeitig durch und durch gefärbt von ihrem starren sozialen Dasein innerhalb des historisch noch lange nicht ausgeschöpften Wertverhältnisses.
In dieser Spannung zwischen theoretischer Vermittlung und dem wirklichen sozialhistorischen Horizont lag schon der Keim einer viel späteren WiederEntkoppelung vom Marxismus begründet; zunächst jedoch wurde die Marxsche Theorie von dieser "Verschmelzung" selber überwältigt und entsprechend verkürzt. Marx und Engels bekämpften wohl mit beißender Ironie dieses wuchernde verkürzte "Marxismus"-
Verständnis, aber sie logen sich doch selber gleichzeitig systematisch einen "eigentlich" revolutionären Charakter dieser Arbeiterbewegung in die Tasche. Insofern konnten natürlich auch sie nicht über den Schatten ihrer Epoche springen; und es wäre ja auch zu schön gewesen.
Vor dem Hintergrund dieses längst vergangenen Vermittlungsprozesses von revolutionärer

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Theorie und alter Arbeiterbewegung kann das Bild unserer heutigen Aufgabenstellung erst plastisch werden. Klar muß sein, daß der primäre Adressat und Rezipient einer neuen revolutionären Theoriebildung auf keinen Fall auf dem Boden der institutionalisierten alten Arbeiterbewegung in ihrem hoffnungslos gewordenen bürgerlichen Dasein als variables Kapital gesucht werden kann, also vor allem nicht im Dunstkreis des formalisiert-bürokratischen, inhaltlich längst leblosen und ausgetrockneten, verspießbürgerten Gewerkschaftertums (die oft proletkulthafte Züge annehmende "Gewerkschaftstümelei" ist unter den Dummheiten der Linken nicht an letzter Stelle zu nennen), erst recht nicht auf der "betrieblichen" oder "betriebskämpferischen" Ebene.
Der einzelkapitalistische Betrieb als AUSGANGSPUNKT der alten Arbeiterbewegung verrät viel über ihren Charakter, über ihre letztlich selber BETRIEBSWIRTSCHAFTLICHE, korporativ verkürzte Interessen-Logik, die grundsätzlich warenlogisch eingebunden bleibt und gar nicht fähig ist zur Programmatik einer Aufhebung des Wertverhältnisses und damit der "Betriebswirtschaft" überhaupt. Auch die revolutionäre Räte-Idee kam nicht über diese Beschränktheit hinaus, da der KERN des Räte-Systems eben von BETRIEBS-Räten gebildet werden sollte. Die gewerkschaftliche Koalition ist insofern ebenfalls nie über branchenmäßige oder andere sektorale Zusammenschlüsse hinausgekommen; die GESAMTGESELLSCHAFTLICHE Orientierung konnte sich daher die gesamte alte Arbeiterbewegung selber nur wieder in den BÜRGERLICHEN fetischistischen Formen denken und organisieren, im abstraktallgemeinen Bezug der POLITISCHEN PARTEI und des (als "sozialistische Zukunft" programmatisch gefaßten) STAATES als der institutionellen Inkarnation der warenlogischen abstrakten Allgemeinheit. Auch der Syndikalismus konnte die unbegriffene "Politik" als bürgerliche Sphäre nur äußerlich negieren, um desto schlimmer bei der betrieblichen, "ökonomischen" Bornierung des Interesses in der unaufgehobenen Wertform zu landen.
Der revolutionäre Zugriff einer neuen flexibilisierten Arbeiterklasse, wie sie sich herauszubilden beginnt, ist von vornherein nicht mehr von einem "betrieblichen" Ausgangspunkt her zu fassen. Einmal schon nicht von ihrem wirklichen sozialen Dasein aus, das in zunehmendem Maße weder "Berufs"- noch "Betriebs"-Treue mehr kennt, sondern vielmehr einer ständigen Fluktuation zwischen den verschiedensten gesellschaftlichen Reproduktionsbereichen, Sphären und "Einkommensquellen" ausgesetzt ist. Zum andern aber kann sich auch der eigene programmatische und real umwälzende Zugriff auf die gesellschaftliche Reproduktion überhaupt nicht mehr auf eine "betriebliche" Reproduktion konzentrieren, weil der wirkliche Lebensprozeß der Gesellschaft längst hochgradig "vernetzt" ist auf allen Ebenen. Wo die kommunale Abfallbeseitigung genauso lebenswichtig geworden ist wie die Produktion selbst, wo die unmittelbar gesamtgesellschaftliche Logistik der Reproduktion wie Wissenschaft, Ausbildung und Qualifikation, Gesundheitswesen, Kultur usw. als Infrastruktur die unmittelbare Produktion an Bedeutung schon weit übertrifft, wo diese unmittelbare Produktion endlich selber weit über die bloß noch formalen "betrieblichen" Grenzen hinaus vielfältig verzahnt und gegliedert

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ist auf stets höherem Niveau - dort wird eine "betriebliche" Basis revolutionärer Organisation völlig sinnlos. Eine gebrauchswertorientierte, vom Wertverhältnis und seiner betriebswirtschaftlichen Logik endlich entkoppelte Gesellschaft, die ihren totalen Reproduktionsprozeß wirklich unter ihrer eigenen Kontrolle hat, kann sich überhaupt nur unmittelbar gesamtgesellschaftlich und innerhalb dieses Bezugs kommunal-territorial organisieren. Niemand kann dann mehr ausschließlicher "Betriebsarbeiter" sein, weil jede "betriebliche" Produktion gleichzeitig direkt auf das gesamtgesellschaftliche Input- und Output-System hin organisiert werden muß, von der in sie eingehenden Infrastruktur bis hin zur Bewältigung des Abfalls usw. Die verschiedenen stofflich-sinnlich, von ihrem wirklich SACHLICHEN Charakter her längst vernetzten und zu einem Gesamtsystem verwobenen Sphären oder "Bereiche" der Reproduktion wie Produktionsstätten, Wissenschafts-, Technologie- und AusbildungsInstitutionen, Gesundheitswesen, kommunale Dienste usw. können dann nicht mehr in ihrer MENSCHLICHEN Verkehrsform bloß abstrakt, formal, quantitativ durch die zu liquidierende ZIRKULATIONSSPHÄRE (d.h. über die abstrakte Geldvermittlung) äußerlich und zunehmend gebrauchswertschädlich oder katastrophisch miteinander verbunden sein, sondern DIREKT, ohne Dazwischenkunft der verrückt gewordenen Zirkulation - und daher auch nicht mehr in der Rechtsform, die aus dieser gespenstischen, äußerlichen Beziehung der Menschen auf die wirklichen sachlichen Inhalte ihrer eigenen Reproduktion entspringt.
Eine solche kommunal-territoriale Organisation INNERHALB eines unmittelbar gesamtgesellschaftlichen Bezugs hätte nichts mehr zu tun mit den Organisationsformen der alten Arbeiterbewegung. Die organisationspolitische Auseinandersetzung zwischen der kommunistischen "Betriebszellen"-Organisation, wie sie innerhalb der KPD in der Weimarer Republik kampagnenmäßig durchgesetzt werden sollte, und der alten sozialdemokratischen, auf den PARLAMENTARISMUS hin ausgerichteten GebietsOrganisation ist historisch gegenstandslos geworden. Ein radikaler gesellschaftlicher Zugriff ist von einer betrieblichen Organisation her nicht mehr möglich, andererseits hätte eine direkt gesamtgesellschaftlich bezogene kommunalterritoriale Organisationsform nicht das geringste mehr zu tun mit einem bürgerlichen WAHL-Verein, insofern ihr Inhalt sich bewußt gegen das vom Warenfetisch herausgebildete Auseinanderfallen der Gesellschaftlichkeit in getrennte, abstrakte "Bereiche" richtet und sie ihre Radikalität gerade in dieser praktischen Kritik fetischistischer Gesellschaftlichkeit weiß.
TAKTISCH stünden einer solchen Organisationsform je nach der Situation alle Mittel und Möglichkeiten offen, weil ihr fundamentaler Gegensatz zu aller vorgefundenen fetischistischen Gesellschaftlichkeit (Geld, Recht, Staat, Nation, Demokratie usw.) die Hypostasierung bloß taktischer Mittel und Bewegungsformen wie Teilnahme an Wahlen oder deren Boykott, "friedliche" oder gewaltsame Aktionsformen usw. von vornherein ausschließt, eine solche Organisation also auch den Mitteln und Kampfformen gegenüber souverän wäre, statt sich in ihrem wesentlichen inhaltlichen Bezug von der Auseinandersetzung darüber beherrschen zu lassen - in der alten Arbeiterbewegung wie in der neuen Linken ein starkes Indiz dafür, daß sich diese

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Auseinandersetzung noch im unbegriffenen Gehäuse der Wertform und damit des Fetischismus bewegt.
Eine solche Organisation wäre auch gar nicht mehr Partei im herkömmlichen, letztlich STAATSBÜRGERLICHEN Sinne, sondern vielmehr von ihrem ganzen gesellschaftlichen Bezug her grundsätzlich eine Anti-Partei oder eine gesellschaftliche Organisierung permanenter Staats- und Wertform-"Belagerung", die ALLE Erscheinungen der manifest gewordenen Zerstörungspotenz des Werts auf ALLEN Ebenen aufgreift und gegen die fetischistisch verfaßte Vergesellschaftung selbst richtet, von der Arbeitsorganisation bis zur Elendsverwaltung, von der Umweltzerstörung bis zur sogenannten (Innen- bzw. Außen-) Politik usw. Diese Organisierung wäre gleichzeitig der Keim einer direkten Gebrauchswert-Vergesellschaftung, indem sie die wirklichen sachlichen Inhalte und Verkettungszusammenhänge der tatsächlichen sinnlichstofflichen Reproduktion aufdeckt, die Deformationen und Zerstörungspotentiale der entfremdeten Wert- und Rechtsform öffentlich zeigt und bekämpft, in denen sich dieser sachliche Inhalt der Reproduktion irrational verwandelt zeigen muß.
Die Grünen mußten von der vermeintlichen Anti-Partei sofort zum sozialdemokratischen Wahlverein degenerieren, weil sie von vornherein bloß Ausdruck der jüngsten Kapitulation der Linken vor den warenfetischistischen gesellschaftlichen Verkehrsformen waren und sich ihre "Politik" von vornherein bloß in der blinden Wert, Geld- und Rechtsform artikulierte, zusammengeschlossen in der platt reformistischen parlamentarischen Verstaatsbürgerlichung, in der die unbegriffenen Erscheinungen der gegensätzlichen und auseinanderfallenden Vergesellschaftung des Wertverhältnisses in ihrer Katastrophenträchtigkeit bloß moralisch bejammert und schließlich in ihrer blinden Verlaufsform MITVERWALTET werden.
Die wirkliche Anti-Partei muß erst noch kommen. Sozialer Träger des grünsozialdemokratischen Neo-Reformismus sind im Kern diejenigen Teile der in der fordistischen Spätphase herausgebildeten infrastrukturellen Lohnarbeiterklasse (Wissenschaftler, auch Naturwissenschaftler in bisher ungekannter Quantität, Ingenieure, Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter im weitesten Sinne: Elendsverwalter, sozialpädagogische Reparaturkolonnen des Wertverhältnisses usw.), die sich noch in der alten, starren, "beruflich" und sozial fixierten Gestalt befinden bis hin zur Verbeamtung, und die demzufolge auch noch einen korporativen und entsprechend ideologisierten Interessen-Standpunkt einnehmen; von daher auch die Affinitäten zu den verstaatsbürgerlichten Institutionen und rechtsfetischistischen Interessenkämpfen der alten Arbeiterbewegung. Sozialer Träger einer neo-revolutionären, gegen den Waren- und Rechtsfetisch selbst gerichteten AntiPartei könnte umgekehrt nur die sich herausbildende flexibilisierte Arbeiterklasse sein, die von jedem starren, partikular fixierten sozialen Dasein entkoppelt ist. Soweit sich diese Tendenz überhaupt schon gesellschaftlich manifestiert hat, kann jedoch noch nicht von einem Ansatz zur Selbstfindung und Bewußtwerdung dieser neuen Klasse gesprochen werden. Die oft noch regressiven ideologischen Reaktionsbildungen deuten eher darauf hin, daß das neue Dasein noch gar nicht positiv angenommen, sondern vielmehr noch die

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Illusion wirksam ist, es könne eine Rückkehr in ein gesichertes, gesettletes, korporativ eingebundenes Dasein in den alten Berufs- und Sozial-Strukturen geben. Die flexibilisierten Lohnarbeiter betrachten sich individuell eher noch als Versager oder Außenseiter, statt sich als neue aufsteigende und souveräne, zum bisherigen starren sozialen Dasein überlegen distanzierte Kraft selbst produktiv zu begreifen. Daher auch das oppositionelle Mitschwimmen im grün-sozialdemokratischen Strom als bloße Wähler oder selbst als Aktivisten, obwohl das wirkliche eigene soziale Dasein letztlich völlig unvereinbar ist mit dem ideologisierten Interessen-Standpunkt der grünen Neo-Spießbürger und ihrer alt-sozialdemokratischen Artgenossen.
Ansätze einer Bewußtwerdung der neuen flexibilisierten Lohnarbeiterklasse könnten sich am ehesten noch in den am wenigsten ideologisch regredierten Teilen der "neuen sozialen" und Einpunkt-Bewegungen entwickeln, soweit sie auch bereits dem grünen Wahlverein mißtrauisch odersogar feindselig gegenüberstehen; immerhin ist es bezeichnend, daß dem grünen staatsbürgerlichen Parteiapparat keinerlei personelle und organisatorische Verankerung in den Bewegungen gelungen ist - er hängt sogar mehr noch als die anderen bürgerlichen Parteien am Tropf staatsbürgerlich-parlamentarischer Wahlgelder und unterliegt einer zunehmend abgehobenen "Professionalisierung" einer finanziell abhängigen und entsprechend widerlich intriganten, geldgeilen und karrieristischen Personage.
Aber eine neue Bewußtwerdung kann nur über das "Zünden der Ideen-Bombe" entfesselt werden, d.h. über die radikale Kritik der vorherrschenden Ideologien auch in den Bewegungen selbst, indem gleichzeitig Elemente eines positiven, umwälzenden, revolutionären Programms entwickelt und in den Bewegungen wirksam gemacht werden. Das Resultat wäre die revolutionäre AUFHEBUNG dieser Bewegungen selbst als begriffslose Einpunkt- und "Betroffenheits"-Bewegungen, das Wiedergewinnen des Totalitäts-Gesichtspunkts der gesellschaftlichen Opposition durch das Aufbrechen des fetischistischen Denkens, das zwar nach "Ganzheit" schreit, diese aber in den vorgefundenen Bewußtseinsformen nicht erlangen kann, schon gar nicht in den ausgelutschten Ideologien des alten bürgerlichen Irrationalismus.
Das theoretische Programm einer fundamentalen Kritik des Wertverhältnisses und der von diesem hervorgetriebenen Fetischgestalten der Gesellschaftlichkeit kann sich freilich zunächst weder unmittelbar an die noch diffusen sozialen Daseinsformen der flexibilisierten Lohnarbeit in ihrer ganzen Breite noch unmittelbar an die vorgefundene Oppositionsbewegung als Ganzes wenden. Die revolutionäre Theoriebildung muß sich zuerst selbst auf ihrem eigenen Boden formieren und organisieren; dabei ist aber auch der primäre Resonanzträger in Gestalt der "revolutionären Intelligenz" selber näher zu bestimmen. In einem wesentlichen Punkt hat sich gegenüber der alten Ausgangssituation im vorigen Jahrhundert nichts geändert: die Theorie muß als solche wissenschaftlich erarbeitet werden in ihrem Inhalt, der natürlich mit einem wie immer gearteten sozialen Dasein einer revolutionären oder potentiell revolutionären Intelligenz sich nicht von selbst ergibt. Insofern können auch heute die "Theoriebildner" zunächst

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nur Einzelne und kleine Gruppen sein. Aber der weitere Fortgang einer Erarbeitung und Verbreitung revolutionärer Theorie trifft heute auf völlig veränderte, viel höher entwickelte Bedingungen. Die Verwissenschaftlichung des gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist so weit fortgeschritten, daß die gesellschaftliche Intelligenz nicht mehr auf einen kleinen und genau umrissenen Sektor eingegrenzt ist. Das weitverzweigte gesellschaftliche Qualifikations- und Wissenschafts-System ist heute in nahezu allen "Bereichen" der Reproduktion direkt oder indirekt anwesend, somit die gesellschaftliche Intellektualität auch in einem viel größeren Maßstab entwickelt. Daß das kapitalistische System in seiner nicht mehr bewältigbaren Überentwicklung gleichzeitig regrediert und Momente von Barbarisierung und "sekundärem Analphabetentum" hervortreibt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die andere Seite dieser Regression ja der Verwissenschaftlichungsprozeß selbst ist, der die allgemeine gesellschaftliche Intellektualität auf eine nie dagewesene Stufe gehoben hat; allerdings eben in den widersprüchlichen, negativen Formen des Wertverhältnisses auf seiner historisch bereits absteigenden Linie.
Die ungeheuer angewachsene gesellschaftliche Intelligenz, mit noch einmal einem gewaltigen Entwicklungsschub in der fordistischen Spätphase der 70er Jahre, wird damit auch voll von der kapitalistischen Reproduktionskrise mitgetroffen und dabei gleichzeitig umgewälzt, nämlich selber "flexibilisiert". Die revolutionäre Theoriebildung trifft also hinsichtlich ihrer möglichen ersten Resonanzträger auf eine gegenüber dem letzten Jahrhundert in doppelter Weise veränderte Situation: Zum einen produziert das gesellschaftliche Qualifikations- und Wissenschafts-System eine stets anwachsende Masse von in ihrem sozialen Dasein selber "ENTKOPPELTEN" Intellektuellen, die sich nicht mehr bloß durch ideelle revolutionäre Theoriebildung vom offiziellen Wissenschaftsbetrieb abtrennen, sondern von diesem selber schon noch inhalts- und richtungslos als abgetrennte, entkoppelte Intellektualität produziert und ausgespuckt werden. Insofern sind es tatsächlich keineswegs mehr bloß Einzelne, die zumindest potentiell zum Resonanzträger revolutionärer Theoriebildung IN DER SPHÄRE DER THEORIE SELBER werden können.
Zum anderen trifft dieser Theoriebildungsprozeß auch nicht mehr auf eine "Arbeiterintelligenz" alten Stils, die noch mit "zünftlerischen", korporativen und quasi berufsständischen Interessen-Momenten behaftet wäre. An die Stelle der alten Drucker und Setzer als Potential einer Theorie-Rezeption sind auch außerhalb des eigentlichen und engeren Bereichs akademischer Intelligenz, d.h. innerhalb der breiter gefaßten Lohnarbeiterklassen, in den Oppositionsbewegungen als Aktivisten neue soziale Träger getreten, die bereits der flexibilisierten Lohnarbeiterklasse angehören und nicht mehr eindeutig beruflich-sozial fixiert werden können. Wie sich überhaupt auch die "Arbeiterintelligenz" insgesamt mehr auf allgemeine qualifikatorische Inhalte hin verlagert, so kann sie in ihrem Zugang zu "Bildungsinhalten", in ihrem Habitus usw. kaum noch von der Masse der akademischen und semi-akademischen Intelligenz unterschieden werden. Der Krisenprozeß verschmilzt akademische und Arbeiter-Intelligenz

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noch weiter, indem er einerseits das von der Verwissenschaftlichung selbst entfesselte Potential akademischer Intelligenz nicht mehr "beruflich" integrieren kann, andererseits auch die reibungslose Absorbtion von Arbeiterintelligenz über die berufliche Aufstiegs-Kanalisierung nicht mehr gelingt.
Gleichzeitig werden durch die spezifische Form kapitalistischer Verwissenschaftlichung und über die verschärfte Weltmarkt-Konkurrenz, verbunden mit einem stets gesteigerten Kostendruck auf den wissenschaftlichen Apparat, die Geistes und Sozialwissenschaften entweder funktionalistisch verkrüppelt oder überhaupt aus den Universitäten vertrieben. Der kapitalistische Vergesellschaftungsprozeß liquidiert so seine eigenen "SINNGEBUNGS"-Instanzen, ein alarmierendes Zeichen für das Heranrücken seines katastrophischen Untergangs sogar in den luftigsten Höhen des "Überbaus". Hinter dem Rücken der führenden Akteure und Hüter des Kapitalverhältnisses wurden so bereits die Elemente eines gewaltigen gesellschaftlichen Sprengsatzes negativer, transzendierender, revolutionärer Subjektivität gebildet, die eigentlich nur noch kontaktiert werden müssen, um eine bisher unerhörte Explosion zu erzeugen, eine ideelle zunächst, dann aber schließlich auch die praktisch-revolutionäre "Kritik der Waffen", in die sich die neue "Waffe der Kritik" natürlich letzten Endes verwandeln muß. Diese Elemente können bestimmt werden als das in immer größerem Maßstab blind herausgesetzte Dasein einer gewaltigen Masse "ENTKOPPELTER" GESELLSCHAFTLICHER INTELLEKTUALITÄT in vielfältigsten Formen einerseits und das Verschwinden der "Sinngebungs"-Instanzen aus dem offiziellen Wissenschaftsbetrieb andererseits, die sich damit zwangsläufig außerhalb jeder offiziellen Gesellschaftlichkeit neu formieren müssen. Die quälende "Sinnfrage" kann revolutionär gelöst und beantwortet werden, aber nur durch radikale wissenschaftliche Kritik, die einen ideellen Flächenbrand entfachen wird, wenn sie sich vermittelt mit dem realen Krisenprozeß zu neuen Antworten konkretisiert, die der warenfetischistisch verkürzte traditionelle Marxismus schon lange nicht mehr adäquat zu geben vermag. Die Kontaktierung der Elemente des gesellschaftlichen Sprengsatzes kann nur gelingen, wenn die verzweifelte "Beliebigkeit" der gesuchten oppositionellen "Sinngebung" aufgehoben wird durch die konkret werdende wissenschaftliche Kritik des Wertverhältnisses und aller seiner fetischistischen Emanationen.
Gegenwärtig kann die flexibilisierte Lohnarbeiterklasse, soweit sie sich schon herausgebildet hat, vor allem deswegen noch nicht zum Bewußtsein ihrer selbst gelangen, weil die ihr entsprechende "entkoppelte" gesellschaftliche Intellektualität diesem neuen sozialen Dasein noch keinen eigenständigen theoretischen und vermittelbaren Ausdruck verliehen hat. Die außerhalb des offiziellen Wissenschaftsbetriebs in großem Maßstab objektiv herausgebildete Intelligenz, selber bereits unmittelbar Teil der flexibilisierten Lohnarbeit, folgt noch weitgehend der inhaltlichen Beliebigkeit der zerfallenden spätfordistischen "Wende"-Kultur oder sie verarbeitet ihr eigenes Dasein negativ in quasi-existentialistischen Ideologien und in offener Theorie- und Wissenschaftsfeindlichkeit (so etwa in Gestalt der Autonomen). Der

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ideell impotente akademische Linkssozialismus als integraler Bestandteil des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs hat so innerhalb der Linken, von wenigen und großenteils regressiven Theorieansätzen der Autonomen ("Autonomia") oder des auf kleine Reste zusammengeschmolzenen linken Flügels der Kritischen Theorie (z.B. ISF Freiburg) abgesehen, bis heute ein faktisches THEORIEMONOPOL behalten, ohne auch nur den Funken einer sozialistischen Perspektive, einer revolutionären "Sinngebung" hervorbringen zu können. Trotz ihres hohlen und staatsbürgerlichen Reformismus können die Linkssozialisten des universitären Milieus auf Kongressen und in zahlreichen anderen Zusammenhängen immer noch als die einzige "theoretische Instanz" auftreten, weil die vom Praxis-Fetisch ideell hoffnungslos zersetzte und heruntergekommene scheinradikale Linke ihnen theoretisch nichts entgegenzusetzen hat. Mit dem akademischen Apparat, staatlichen Geldern und Hilfsmitteln als Logistik und gesettlet in akademischen Positionen, die einst nicht zuletzt mit Hilfe der 68-er Bewegung erworben wurden, bildet dieser akademische linkssozialdemokratische Reformismus so eine eigene abgeschottete Szene, die sich über ein ebenfalls von der früheren Bewegung ererbtes Verlags- und Publikationswesen (VSA, Argument, Prokla, Rotbuch usw.) gegenseitig aufeinander und nach außen auf die Bewegungen bezieht: ein veritables ideologisches Schmiermittel der linken Neo-Staatsbürgerlichkeit. Denn in nichts sind sich diese Portiers und Verwalter der marxistischen Ruinen einer vergehenden Epoche so einig wie darin, daß die Zeit der Revolutionen endgültig und glücklicherweise vorbei sei und die Linke sich immer schon positiv auf die bloß immanente "Beeinflussung" der Verlaufsformen des Wertverhältnisses und seiner Krise beziehen müsse.
Die Aufgabenstellung, die sich für uns aus dieser Situation ergibt und die analytisch bestätigt wird durch die Bestimmung des Vermittlungsprozesses der Marxschen Theorie mit der alten Arbeiterbewegung im letzten Jahrhundert, ist klar: dieses Theoriemonopol des universitären Linkssozialdemokratismus muß gebrochen werden. Nötig ist heute für die radikale Linke nicht eine quasi-existentialistische, pseudo-radikale und militärisch blödsinnige Militanz auf der Straße im hoffnungslos isolierten Räuber- und Schander-Spiel mit der Polizei, nötig ist ebensowenig ein pseudo-taktisches praktizistisches Herumfuhrwerken in den Bewegungen oder gar bei den Grünen, erst recht nicht das unverdrossene Anstimmen einer schauerlich platten agitatorischen Litanei. Nötig ist vielmehr als nächstes zentrales Kettenglied der intellektuelle Vergeltungsschlag gegen die theologischen Strickstrümpfe des grünsozialdemokratischen Neo-Reformismus und ihre linksakademischen Hiwis, die revolutionären Positionen gegenüber heute herablassend abwinken zu können sich einbilden.
Die radikale Linke muß selbst wieder zur entscheidenden theoretischen Instanz außerhalb des offiziellen Wissenschaftsbetriebs und gegen diesen werden, indem sie sich die revolutionäre Theorie völlig neu und gegen ihren historischen Strich gebürstet erarbeitet als radikale und erstmals offene Kritik der Wert-GeldVergesellschaftung selbst. Diese Kritik muß offenbar durch eine scharfe Polemik gegen den fetischistischen Neo-Reformismus der Negt, Hirsch,

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Altvater u. Co. hindurch, um zu einer positiven Aufarbeitung der heutigen Stufe kapitalistischer Welt-Vergesellschaftung und deren Krise zu gelangen. Wir müssen uns eigene Institutionen und logistische Hilfsmittel der Erarbeitung und Verbreitung revolutionärer Theorie schaffen; nicht als eine neue pseudo-zentralistische Sekte, sondern als eine "vernetzte" theoretische Bewegung von Arbeitsgruppen, Diskussions- und theoretischen Qualifikations-Zirkeln, Verlagen, kulturellen Institutionen usw., die sich über Zeitschriften, Kongresse etc. aufeinander beziehen und ein neues, theoretisch fundiertes revolutionäres Bewußtsein hervorbringen, das sich mit den breiteren Bewegungen und dem sozialen Dasein der flexibilisierten Lohnarbeit vermitteln kann. Der ererbte bürgerliche, positivistische Praxis-Fetisch kann nur aufgebrochen werden, wenn die Erarbeitung und Verbreitung revolutionärer Theorie selber als GESELLSCHAFTLICHE PRAXIS begriffen wird und wenn die dafür nötigen Formen und Institutionen praktisch hervorgebracht werden. Die Organisierung revolutionärer Theoriebildungsprozesse und damit verbundener Qualifikation ist selber eine praktische Aufgabe, in der Entfaltung einer revolutionär-theoretischen Debatte außerhalb des offiziellen Wissenschaftsbetriebs steckt heute mehr praktische Sprengkraft als in Tonnen von Flugblättern oder Jahren politizistischer Rödelei, die eher dem Gang des Esels in der Tretmühle gleicht.
Die Organisierung eines revolutionären Theoriebildungsprozesses kann natürlich nicht auf die Mitarbeit von akademischer Intelligenz verzichten; nicht nur von Studenten, Absolventen, Abgebrochenen usw., sondern auch von akademischen Funktionsträgern. Es geht ja nicht gegen "die" akademische Intelligenz als solche, sondern gegen den bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb und dessen linksreformistische Bestandteile. Daß sich behäbig gewordene altlinke Familienväter durch einigermaßen üppige ägyptische Fleischtöpfe von Stiftungsgeldern, gewerkschaftlichen und anderen Honoraren, Assistenten- und Ordinariensesseln usw. letztlich bestechen lassen, verstehen wir ja. Wer aber ist erbärmlich genug, sich von ABM's, Viertelstellen mit SozialhilfeGehalt und hoffnungslosen Träumen von einer "beruflichen" Zukunft im Bauch des offiziellen Wissenschafts-Wals bestechen zu lassen? Die linke Intelligenz möge uns diesen kleinen Ausflug in den Vulgärmaterialismus verzeihen, aber gerade die vulgärsten Interessen dürfen in ihrer motivationsbildenden Kraft nicht unterschätzt werden. Wir fragen also: was habt ihr noch zu verlieren, welche Illusionen macht ihr euch noch? Warum rafft ihr euch nicht zu einer radikalen Abgrenzung und Kampfansage gegen das haltlose und lächerliche grün-sozialdemokratische Gestammel auf? Drängt es euch wirklich alle in die Programmkommission der SPD oder in das Bundestagsbüro der Grünen? Habt ihr denn alle darin Platz?
Erst wenn die radikale Intelligenz auf der heute erreichten Höhe kapitalistischer Vergesellschaftung und Krise sich ihrer theoretischen Aufgaben wieder bewußt wird, erst wenn sie die Sinnlosigkeit einsieht, mit dieser zerstörerischen Gesellschaftsordnung ihr Auskommen finden und in diesen Formen zurechtkommen zu wollen, erst wenn sie es wagt, die Marxsche Theorie in völlig neuer Weise revolutionär zuzuspitzen, können auch jene Sätze aus dem letz-
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ten Abschnitt des "Kommunistischen Manifests" ohne die falsche pathetische Patina einer endlich wirklich vergangenen Vergangenheit wieder gesellschaftliche Kraft gewinnen: "Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen".

77 [leer]
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Nachwort

I.
Die bisherigen Diskussionen unseres Textes lassen es noch vor seiner Veröffentlichung geraten erscheinen, einige Nachbemerkungen zu machen; einmal, um einige Mißverständnisse über Inhalt und Zielsetzung auszuräumen, zum andern aber, um eine "öffnende" Auseinandersetzung für die nähere Zukunft zu ermutigen und den Text nicht als glatte Wand von Schein-Abgeschlossenheit für den Leser dastehen zu lassen. Trotz gegenteiliger Aussagen schon im Vorwort scheint sich dieses Gefühl aber doch teilweise aufgedrängt zu haben, wie wir einigen Reaktionen entnehmen mußten.
So mag die apodiktische Kürze und Zugespitztheit, wie sie dem Genre eines Manifests entspricht, vielleicht bei manchen Lesern den unangenehmen Eindruck entstehen lassen, wir verhielten uns wie Leute, denen ein vermeintlich neues Wissen wie eine "Eingebung" vom Himmel gefallen ist und die von einem Standpunkt aus ihre Botschaft verkünden, von dem sie gar nicht sagen, wie sie ihn eigentlich erreicht haben. Da es nicht möglich ist, die theoretischen Trittspuren in einem Manifest ausreichend aufzuzeigen, soll dazu wenigstens hier etwas gesagt werden. Das erkenntnisleitende Motiv war anfangs für uns inhaltlich ein sehr abstraktes, geschuldet einem Unbehagen über die Situation der Linken etwa Ende der 70er Jahre: wir wollten weder dem "neuen" und erkennbar erbärmlich neo-reformistischen Praxis-Strom der Grün-Alternativen als Lemminge folgen wie so viele allzu kurzatmige Ex-Revolutionäre der neuen Linken, noch andererseits "in Treue fest" an einem offensichtlich in vielen Fragen überlebten und versteinerten Marxismus-Verständnis dogmatisch und sektiererisch festhalten. Gefragt war also eine "Aufarbeitung". Daß und inwiefern das Ernstnehmen einer solchen Aufgabenstellung bedeutet, den aus der "Bewegung" ererbten Hang und Drang zu unmittelbarer Praxis und Machbarkeit ZURÜCKZUNEHMEN, statt das Problem sofort wieder in "politischer Praxis" zu ersäufen, ist im Manifest als polemische Kritik des "Praxis"-Fetischismus der Linken deutlich genug dargestellt.
Das Ernstnehmen der Theorie OHNE Rücksicht auf jede wie immer geartete "politische" Machbarkeit und OHNE sofortige hechelnde Einklinkungs-Versuche in die BewegungsKonjunkturen trug uns den Haß der Praktizisten und "Politik"-Fetischisten aller Schattierungen ein, soweit sie mit unserem Bemühen konfrontiert wurden. Das Resultat war eine tiefe Entfremdung und ein Entkoppelungsprozeß von der linken Oppositionsbewegung überhaupt und ihrer gesamten Vorstellungswelt, deren Geschöpfe wir doch andererseits auch selber waren.
Es kann und soll zugestanden werden, daß wir einen theoretischen Anknüpfungspunkt allein in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule fanden, und zwar gerade in einem von der neuen Linken nicht ohne Grund beiseitegelegten Moment, nämlich in der expliziten Kritik des positivistischen instrumentellen Denkens. Dieses instrumentelle Denken richtet sein Augenmerk "unmittelbar" auf das Erreichen von Zielen und Zwecken bzw. das "Vertre-

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ten von Interessen", OHNE daß die gesellschaftliche Konstituiertheit dieser Ziele, Zwecke und Interessen selber in das Blickfeld gerät oder gar Gegenstand wissenschaftlicher Kritik wird. Dieses Denken, soweit es sich als links oder gar "radikal" versteht, realisiert überhaupt nicht, daß es sich a priori schon in bürgerlicher Immanenz bewegt und seine Ziele und Interessen nur in bürgerlichen Kategorien ausdrückt statt in deren Kritik. Wir bemerkten, daß die Linke einschließlich der linkssozialistischen akademischen Strömungen dieses von Horkheimer und Adorno kritisierte instrumentell verkürzte Theorieverständnis des bürgerlichen Denkens via eine falsche Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen (die als kategorischer Imperativ des Praktizismus und "Politizismus" mißverstanden werden) selber reproduzierte, mithin jener gewohnte und geläufige kategorische Imperativ "politischer Praxis" in dieser instrumentellen Form BÜRGERLICH war und den Keim reformistischer Verflachung von Anfang an in sich trug. Gerade von einem revolutionären Standpunkt aus gewannen so die kritische Zurückhaltungvon Adorno, Alfred Schmidt und selbst Habermas gegen die abstrakte "Praxis"-Emphase der Studentenbewegung, ungeachtet der zweifellos vorhandenen bürgerlich-professoralen Attitüden, im Nachhinein ein größeres Maß von Berechtigung.
Die von der Kritischen Theorie hervorgebrachte Kritik des bürgerlichen Instrumentalismus erschien uns jedoch teils als merkwürdig inhaltslos, teils als mit eklektischen Inhalten verknüpft (besonders bei Habermas). Bei näherer Betrachtung stellte sich sogar heraus, daß die Kritische Theorie (vor allem in der "Dialektik der Aufklärung") den gesellschaftlichen Bedingungsgrund des instrumentellen Denkens verwechselt und gleichsetzt mit der menschlichen NATURBEZIEHUNG. Gerade in der Naturbeziehung aber ist ein "instrumentelles" Denken und Vorgehen nicht nur unvermeidlich, sondern auch alles andere als negativ. Das Problem besteht ja gerade in der gesellschaftlichen Präformierung der Ziele und Zwecke, denen die Naturbeziehung unterworfen wird und die nicht aus dieser Naturbeziehung selber zu erklären sind. Indem die Kritische Theorie aber dieser Verkehrung erliegt (begründet nicht zuletzt in ihrer Anlehnung an Freud und dessen ideologische Zurückführung gesellschaftlicher Phänomene auf eine ontologische Trieb-Natur des Menschen), verfehlt sie auch den wirklichen gesellschaftlichen Inhalt des positivistischen Instrumentalismus.
Diese Kritik führte uns schließlich zum entscheidenden, von allen früheren Interpretationen der Marxschen Theorie inclusive der "kritischen" Marxismen nicht oder jedenfalls bei weitem nicht ausreichend reflektierten Kernpunkt: zur radikalen Kritik von Wert und Geld, d.h. zur expliziten und nachdrücklichen Kritik der WARENPRODUKTION ÜBERHAUPT in der Stufenfolge ALLER ihrer Erscheinungen. In diesem Punkt aber versagte offensichtlich auch die Kritische Theorie. Wenn sie in unserem Manifest-Text vor allem unter diesem Gesichtspunkt negativ in den Gesamtkomplex der "alten", traditionellen Theorie-Strömungen eingeordnet und kritisiert wird, so soll doch wenigstens hier ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß ihre Kritik des positivistischen Instrumentalismus (und damit auch des "Praxis"-Fetischs nicht nur der neuen Linken, sondern auch der alten Arbeiterbewegung und des auf

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diese bezogenen traditionellen "Machbarkeits"-Marxismus innerhalb der Warenform) für uns trotz ihrer Mängel ein wichtiger Erkenntnisschritt war und die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie zweifellos insofern einen Ansatz bot, um aus dem bürgerlich immanenten traditionellen Marxismus überhaupt heraustreten zu können. Es galt jedoch, über die Kritische Theorie hinaus die Kritik des verkürzenden instrumentellen Denkens nicht bloß als methodische zu führen oder fälschlich ihren Inhalt primär in der Naturbeziehung zu suchen, sondern vielmehr den wirklichen gesellschaftlichen Inhalt herauszuarbeiten, nämlich als Kritik der Warenproduktion überhaupt von ihren Grundlagen her. Da die Kritische Theorie aber in dieser entscheidenden Hinsicht die Verkürzungen des Wert-Begriffs der traditionellen Marxisten vollauf teilte, mußte sie die Wertform als bloß sektorales Teilmoment gesellschaftlicher Reproduktion mißverstehen, statt sie als Totalitätskategorie durchhalten zu können; die neuen Erscheinungen kapitalistischer Vergesellschaftung nach dem Zweiten Weltkrieg konnten dann nicht mehr adäquat begriffen und schließlich nur noch eklektisch-"multikausal" deskripiert und interpretiert werden wie etwa bei Habermas.
Für uns war damit ein theoretischer Ausgangspunkt gewonnen, der es erstmals erlaubte, die gesamte alte Arbeiterbewegung und ALLE darauf bezogenen Marxismen, die neue Linke seit 1968 eingeschlossen, als abgeschlossene und bewußt theoretisch abzuschließende Epoche zu begreifen, OHNE deswegen die Marxsche Theorie über Bord zu werfen bzw. zu vormarxistischen (und vorwissenschaftlichen) Emanzipationsideen des 18. und 19. Jahrhunderts Zuflucht nehmen zu müssen. Das vorliegende Manifest ist eine erste zusammenfassende Darstellung dieser Gedanken, ohne daß damit wie gesagt irgendeine Abgeschlossenheit suggeriert werden soll.

II.
Ein wenig böses Blut mag auch unsere Kritik der Autonomen machen, die im Manifest unserer Auffassung nach keineswegs zu Unrecht polemisch als "halbe Portion Nachschlag von 1968" tituliert werden. Freilich kann dazugesagt werden, daß die Autonomen heute natürlich einen anderen sozialen Hintergrund haben als die alte Jugend- und Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre. Konnte diese noch gewisse bildungsbürgerliche Züge des traditionellen Universitätslebens und "höheren" Schulwesens nicht völlig verleugnen, so ist die vielzitierte "Sprachlosigkeit" und Theorielosigkeit der neuen Militanz umgekehrt auch bereits der spätfordistischen explosiven Ausdehnung und gleichzeitig Auspowerung des gesamten Bildungswesens geschuldet, die sozialen Probleme einer kapitalistisch vermassten Semi-Intelligenz eingeschlossen. Dieser veränderte soziale Hintergrund hindert die Autonomen aber nicht daran, das Spektrum der Ideen von 1968 (die damals schon ein bloßer Durchlauf sämtlicher historischer Varianten des abgelebten traditionellen Marxismus, Anarchismus etc. waren) noch einmal neu und noch einmal verflacht im kurzschlüssigen Praktizismus wiederzubeleben: ein wenig Existentialismus, der schon 1968 veraltet war; ein Schuß Nietzsche (unvermeidlich

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für den galoppierenden Weltschmerz deutscher Jungfrauen und Jungmänner sowie altdeutscher Tanten und französischer Neu-Philosophen), ein paar Brocken Operaismus samt Toni Negri, das ganze gewürzt mit blumiger altanarchistischer Moralsoße - ungenießbarer gehts nimmer. Also Entschuldigung: das ist ungefähr so, wie wenn jemand einen steinalten, unter die Schulbank geklebten Kaugummi wieder hervorpult und in den Mund steckt. Aber die Nierentische werden ja auch wieder modern. Wir sehen leider keinen Grund, dem irren Wiederholungszwang irgendein Zugeständnis zu machen.
Beleidigt mögen einige Autonome sein, weil sie doch inzwischen die Theorie entdeckt haben. Dieser Impuls, wohl den Erfahrungen der letzten Jahre geschuldet, ist sicherlich zu begrüßen. Mehr noch: in den Autonomen (bzw. vielleicht aus den Autonomen hervorgehenden neuen Gruppen und Strömungen), SOWEIT sie sich dem Problem theoretischer Aufarbeitung nähern, sehen wir durchaus einen möglichen Ansprechpartner; gerade auch von den objektiven Grundlagen gesellschaftlich "entkoppelter" Intelligenz her, wie sie im letzten Teil des Manifests skizziert wird. Insofern soll unsere Polemik ja dazu dienen, daß die auf diesem Weg befindlichen Autonomen die Schlacken der Vergangenheit und bloßer Lebensform- und Kaputtheits-Ideologien schneller loswerden. Trotzdem soll uns niemand unsere Skepsis verdenken. Allzu oft hat der manisch-depressive Zyklus der linken PraxisFetischisten in seiner düsteren und zähneklappernden Phase schon den Ruf nach "mehr Theorie" hervorgebracht und das weiße Fähnlein der "Schulung" wurde gehißt, ohne daß dies nachhaltige Folgen gehabt hätte. Es sollte den Autonomen zu denken geben, daß viele von ihnen die großenteils verblichenen K-Gruppen bis vor kurzem noch als "zu theoretisch" kritisiert und darin den Grund ihres Niedergangs gesehen hatten - ausgerechnet die K-Sekten, die ödesten Buchhalter eines totgelaufenen Traditions-Marxismus und die schlimmsten Politikaster und Praxis-Handwerkler, die jemals auf der Weide der neuen Linken gegrast haben! Zu einer wirklichen Neu-Orientierung gehört ein wenig mehr, als sich jetzt endlich notgedrungen zur Theorie überhaupt zu bequemen; vor allem muß der Stellenwert der Theoriebildung selber bestimmt und begriffen werden, daß die Vergangenheit nicht auszuschlachten, sondern endlich zu überwinden ist. Die Theoriebildung ist ein eigenständiger Kraftaufwand, kein bloßes Futter für den nächsten Praxis-Zyklus.
Es sind allerdings in diesem Zusammenhang einige häufig wiederkehrende Mißverständnisse auszuräumen. Wir stellen nicht das absurde Ansinnen, daß zugunsten der Theorie auf Formen negatorischer, revolutionärer Praxis wie Agitation, Demonstrationen usw. etwa verzichtet werden soll. Gesellschaftliche Oppositionsbewegungen können sich überhaupt nur in solchen Formen ausdrücken und dürfen nicht mit theoretischen Strömungen verwechselt oder unmittelbar gleichgesetzt werden. Freilich ist auch eine solche Bewegung noch keineswegs identisch mit wirklichen gesellschaftlichen Widerstands- oder gar Offensivhandlungen, also etwa Streik, Boykott oder militärische Aktionen. Die Verballhornung und Inflationierung des "Widerstands"-Begriffs entspringt der OHNMACHT der heutigen Bewegungen, die in kind-

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licher Manier gesellschaftlich vermittelte Kampfaktionen zu bloß SYMBOLISCHEN ERSATZHANDLUNGEN heruntertransformiert haben und sich mit diesem Schwachsinn zufrieden geben. Dies gilt aber nicht bloß für die Totstell-Übungen christlicher Friedensfreunde oder die lächerlichen Pseudo-Blockaden moralisierender Prominenz vor diversen NATO-Kasernentoren, sondern mindestens genauso für die sogenannte Militanz der Autonomen, die wohl teilweise bis heute dazu neigen, gewisse Indianerspiele mit der Polizei zu quasi-militärischen "Widerstands"-Handlungen hochzustilisieren. Eine Oppositionsbewegung kann mit Formen wie Agitation und Demonstration, Veranstaltungen usw. zunächst nur versuchen, eine "öffentliche Meinung" in ihrem Sinne zu schaffen; der Übergang zu realen gesellschaftlichen Kampf-, Widerstands- und Offensivaktionen hängt von der weiteren Entwicklung und vom Gelingen der gesellschaftlichen "Vermittlung" ab. Wenn diese Vermittlung nicht gelingt und die berühmten "Massen", die "arbeitende Bevölkerung", die "Betroffenen" usw. sich scheinbar gegen ihre eigenen Interessen verhalten und die Agitation, Demonstration usw. zum leeren Ritual wird, dann kann daraus nur ein kurzschlüssiger Verzweiflungs-Existentialismus die Notwendigkeit des Übergangs zur "Militanz" folgern. Viel eher wäre nach der Qualität der Agitation selber zu fragen, nach den Inhalten, die vermittelt und nach den gesellschaftlichen ZIELEN, die gewonnen werden sollen. Wenn sich herausstellt, daß in dieser Hinsicht nichts existiert als eine Mischung aus blauäugigen Forderungen des gesunden Menschenverstandes und programmatischen Brocken sozialistischer Steinzeit, dann ist eben theoretische Aufarbeitung gefragt, um zu einem neuen und weitergehenden Programm gesellschaftlicher Umwälzung auf der Höhe der Zeit zu gelangen. Eine theoretische Kritik der Verhältnisse und ihrer Geschichte ist aber nie und nimmer aus den bloßen "Kampferfahrungen" zu gewinnen; dafür ist ein Verständnis der Theorie als einer eigenständigen und nicht bloß "instrumentell" nachgeordneten "Kampffront" notwendig. Wie sich aus der Vermittlung von Theorie und theoretischer Aufarbeitung, Oppositionsbewegungen und der Krise der Lebensverhältnisse selber so etwas wie ein revolutionäres gesellschaftliches "Lager" und wirkliche Kampfhandlungen ergeben, dafür kann natürlich kein fertiges Rezept existieren. Wenn wir am Ende des Manifests einige mögliche Formen THEORETISCHER PRAXIS aufgezählt haben, dann gilt dies eben nur für diesen Sektor der Theorie selber und soll nicht die ohnehin stattfindende Praxis der Oppositionsbewegungen generell und abstrakt negieren.
Deswegen verlangen wir auch mitnichten, daß nun etwa jeder linke Oppositionelle schlechthin zum "Theoretiker" werden soll. "Theoretiker" im strengen Sinne eines "hauptseitig" in seiner persönlichen Praxis theoretisch Arbeitenden, also eines theoretischen Publizisten, wird man sowieso nicht durch einen plötzlichen Entschluß, sondern durch eine lange Geschichte hindurch, die auch viele Formen von praktischer Betätigung einschließt (wie ja auch die theoretische Praxis selber, z.B. das Publizieren, nicht ohne organisatorische und technische Betätigungen auskommt). Daß die theoretische Aufarbeitung für die Linke heute zum wichtigsten Kettenglied geworden ist, bedeutet vielmehr, daß auch für diejenigen, die

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weiterhin rein numerisch in erster Linie praktisch-politisch tätig sind (in Initiativen, Organisationen, Bewegungen etc.), die Fragen der Theorie und des gesellschaftlichen Ziels zu den "brennendsten" geworden sind, auch wenn sie nicht selber theoretische Schriftsteller werden. In den praktischen Bewegungen selber ist eine DEBATTE über ein neues, weitergehendes sozialistisches Ziel, über eine tiefergehende Gesellschaftskritik als bisher zu führen und zu entfachen, um die gegenwärtige Paralyse zu überwinden. Dazu gehört nicht nur das Ernstnehmen der Theorie überhaupt, sondern auch das bewußte Lesen theoretischer Literatur und das WEITERVERMITTELN theoretischer Einsichten, wozu oft andere Fähigkeiten erforderlich sind, als sie die theoretischen Publizisten selber haben. In einem solchen PROZESS theoretischer und programmatischer Debatte werden dann nicht nur Vermittlungen zwischen theoretischer und politischer Praxis hergestellt, sondern es kann sich auch ein ganzes Spektrum von Übergangsformen zwischen Theorie und politischer Praxis herausbilden, von neuen Theoretikern und Publizisten, aber auch von Agitatoren, Propagandisten, Organisatoren, Journalisten usw., die einen neuen Ansatz revolutionären Bewußtseins nicht bloß verbreiten und gesellschaftlich verankern, sondern auch auf vielen Ebenen selber mitentwickeln helfen. Dafür freilich ist eine GEDULD nötig, wie sie der Unmittelbarkeits-Fetischismus der aktionistischen und politikasternden Linken nicht aufbringen kann, der immer sofort machbare Ergebnisse sehen und zu Hau-Ruck-Vermittlungen übergehen will. Wir können nur hoffen, daß das jämmerliche Scheitern dieser Haltung den Boden bereiten hilft für ein anderes Theorieverständnis.
Wenn wir also mit der "Zumutung Theorie" nicht die politische Praxis als solche in Frage stellen wollen, so können wir umgekehrt auch verlangen, daß die politischen Praktiker und Bewegungs-Aktivisten die gegenwärtige Spannung zwischen Theorie und unmittelbarer gesellschaftlicher Praxis aushalten müssen. Wir haben uns aus Einsicht in die Notwendigkeit "gegen den Strom" und "antizyklisch" für die theoretische Arbeit entschieden; wenn jetzt so manchen Aktionisten selber die Notwendigkeit theoretischer Aufarbeitung zu dämmern beginnt, dann sollen sie uns aber auch nicht langweilen mit der moralisch-imperativen Frage, ob wir denn auch gegen Wackersdorf demonstrieren würden - als ob dies irgendetwas zu tun hätte mit dem Gewicht oder der Nichtigkeit theoretischer Argumente! Wer sich überhaupt nur mit theoretischen Ansätzen beschäftigen und auseinandersetzen will, deren Vertreter bzw. Publizisten er vorher zur unmittelbar persönlichen Teilnahme an seinen Demos und sonstigen Aktionen verdonnert hat, der hat weder von den Gesetzen der gesellschaftlichen Theoriebildung im allgemeinen noch von der spezifischen gegenwärtigen Situation auch nur das geringste verstanden. Wenn etwa eine Gruppe der alttrotzkistischen GIM (deren opulente Mäusehochzeit mit der früher eispickelschwingenden KPD/ML wenigstens zur Erheiterung der verdüsterten Restlinken beigetragen hat) nicht mit uns in eine theoretische Debatte eintreten wollte, weil wir "von der Praxis abgehoben" wären und "man uns nicht in Gewerkschaftsgremien sieht", dann können wir nur betonen, daß wir unsererseits mit derart bor-
 

Robert Kurz. Manifest, April/November 1988
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]

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nierten Hohlköpfen eines betulichen politischen Vorsichhinpfuschens ebenfalls überhaupt nichts anfangen können. Wer nicht einmal durch Schaden klug wird, dem ist in keinster Weise mehr zu helfen.

III.
Das quasi physikalische Trägheitsgesetz auch des Lebens und Denkens zeigt sich unserem Ansatz gegenüber nicht nur in der Art des Theorieverständnisses, sondern auch im Beharrungsvermögen der alten Inhalte. Schon die bisherigen Diskussionen im Vorfeld der Veröffentlichung des Manifests haben uns gezeigt, mit welch enormen Widerständen, Verdrängungen, Ab- und Ausgrenzungen, Aggressionen und teilweise unglaublichen Verdrehungsversuchen wir zu rechnen haben und mit welch irrationaler Verbissenheit und Starrheit des Denkens die traditionellen Linken aller Schattierungen an ihren Verständnisrastern und Glaubensgewohnheiten in geradezu altkatholischer Manier festhalten.
Mehrfach ist uns entgegengehalten worden, unsere Position sei doch keineswegs etwas wirklich Neues, sondern auch früher schon sowohl in der alten wie der neuen Linken auf die eine oder andere Weise (erfolglos) vertreten worden. Natürlich wäre es lächerlich, aus Gründen quasi der "Selbstdarstellung" (in dieser Hinsicht scheinen einige Leute von sich auf andere zu schließen) einen formalen Streit um "Prioritäten" führen zu wollen. Es ist für den Inhalt und seine Bedeutung ganz gleichgültig, ob wir nun die "ersten" sind oder nicht; im Gegenteil wäre es sogar von Nutzen, einen Strang marxistischer Debatte bereits für diese radikale Position reklamieren und darauf aufbauen zu können. Ein solcher Strang existiert jedoch nicht, jedenfalls nicht in der Art und Weise der Fragestellungen, auf die es uns vor allem ankommt. Nicht, daß die Kritik der Warenproduktion und des Geldes in der linken oder marxistischen Geschichte wie auch außerhalb davon überhaupt nicht vorkommen oder nicht gelegentlich benannt würde, und sei es als bloßes Spurenelement. Aber diese Benennung wird stets sofort wieder zurück- und also nie wirklich ernst genommen, entweder durch ein eiliges Hinwegeskamotieren des Problems in eine weit entfernte Zukunft (worin sich eben die objektive Begrenztheit der alten Arbeiterbewegung spiegelt, die eine radikale Kritik der Warenform als solcher wirklich auf eine nach ihr liegende Zukunft verschieben mußte), oder durch eine vermeintliche Kritik der Warenproduktion mit selber warenlogischen Kategorien, die nicht als solche erkannt werden.
Außerhalb des Marxismus findet sich so zwar eine "Kritik des Geldes" von Proudhon über Silvio Gesell, die Anthroposophen, einige Varianten des faschistischen Gedankenguts und die (sich positiv so bezeichnenden) amerikanischen "Technokraten" der 30er Jahre bis hin zu Herrn Ghaddafi. Für alle diese außermarxistischen Ansätze gilt, daß es sich bei näherem Hinsehen entweder überhaupt bloß um "Geldreformen" und Geldpfuschereien handelt (insbesondere aus einer kleinbürgerlichen Kritik des zinstragenden Kapitals heraus) oder um eine oberflächliche, mit etatistischtechnokratischen Elite- und Planungs-Illusionen verbundene

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"Geldkritik", die niemals bis zu einer Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Realabstraktion von Ware und Wertform vorstößt. Weder die Propaganda von "Tauschgerechtigkeit" noch elitäre und kriegs- oder zuteilungswirtschaftlich inspirierte Regulierungsmodelle haben auch nur das geringste mit der Marxschen Kritik der Warenform und des darin eingeschlossenen gesellschaftlichen Fetischismus gemein.
Innerhalb des Marxismus beschränkt sich die direkte Kritik des Geldes, verbunden mit praktischen Aufhebungsversuchen, auf den bolschewistischen Kriegskommunismus und neuerdings das Pol-Pot-Regime in Kampuchea, dessen massenmörderische Praktiken weltweit Entsetzen und Abscheu erregt haben. In beiden Fällen handelte es sich natürlich nicht um die Sprengung der Warenform in hoch vergesellschafteten Reproduktionsaggregaten, sondern um Bewältigungsversuche extremer Notsituationen in "unterentwickelten" Gesellschaften mit großen vorkapitalistischen Sektoren; die "Geldkritik" auf dieser Basis stellte bloß eine ideologische Verhimmelung mehr oder weniger brutaler etatistischer Eingriffe dar, die keine Kritik der Wertform selber und ihrer Stufenfolge von Fetischismen zu leisten imstande war, insofern also den außermarxistischen Ansätzen eng verwandt bleiben mußte. Auf den gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen konnten auch die radikalen bolschewistischen Theoretiker des "Kriegskommunismus" (so u.a. Bucharin, der heute gerade umgekehrt als Theoretiker der NÖP rehabilitiert wird) nicht über die Kategorie des "Austauschs" (was in irgendeiner Form voneinander getrennte und also formal "unabhängige" Produzenten impliziert) hinauskommen und daher das Geld nur äußerlich-funktionell und "organisatorisch" kritisieren, ohne zum Begriff der Wertform und des Warenfetischs selber im Sinne einer Aufhebung vorzustoßen. In der Folge wurde unter dem Diktat der nachholenden Industrialisierung die Problemstellung völlig verdunkelt durch den von uns ausführlich kritisierten ideologischen Begriff der "sozialistischen Warenproduktion".
Ähnliches gilt für die westliche "Sozialisierungsdebatte" Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Nirgendwo wurde die Kategorie des Werts selber auch nur in Ansätzen qualitativ transzendiert; bestenfalls wurde unter "Aufhebung der Warenproduktion" eine weiterhin letztlich wertförmige "Planwirtschaft" unter Beseitigung lediglich der äußeren Regulationsmechanismen des "blinden" kapitalistischen Marktes verstanden, selbst dort noch, wo ausnahmsweise auch im Westen direkt von einer "Abschaffung des Geldes" gesprochen wurde (so etwa von dem sozialistischen Positivisten Otto Neurath). Bezeichnenderweise waren es im Westen gerade nicht die vermeintlich "orthodoxen" Marxisten, die so weit gingen; auch im Westen war der wirkliche Ausgangspunkt solcher Forderungen nicht theoretisch als Konsequenz der Marxschen Wertform- und Fetischismuskritik abgeleitet, sondern empirisch aus den Erfahrungen der Kriegswirtschaft, vor allem des deutschen Reiches. Die im Kontext und Gefolge dieser Debatten aufgestellte bürgerliche Behauptung einer "logischen Unmöglichkeit" sozialistischer Reproduktion (Weber, v. Mises u.a.), deren blinde Prämisse selbstverständlich die Wertform als gesellschaftliche Qualität immer war, blieb

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von sozialistisch-kommunistischer Seite entweder unbeantwortet oder die Replik ging bewußtlos von derselben Prämisse aus (so etwa O. Lange). Soweit also der historische Marxismus auf dem Boden der alten Arbeiterbewegung überhaupt explizit Sozialismus und Warenproduktion für unvereinbar hielt, handelte es sich letztlich immer bloß um Mißverständnisse oder (z.T. grobe) Unklarheiten über den inneren Zusammenhang von abstrakter Arbeit, Wert und Geld, in dem sich die Warenproduktion erst als gesellschaftliche Reproduktionsform konstituiert und ihre destruktiv werdende historische Dynamik entfaltet. Indem diese verkürzten Vorstellungen einer "Aufhebung der Warenproduktion" nicht über den Gedanken einer "organisierten" Wertvergesellschaftung unter vermeintlicher äußerer Beseitigung bestimmter als genuin kapitalistisch empfundener Bestandteile der Warenform hinauskamen ("Privateigentum", "Profit", "Konkurrenz", "freier Markt" als abgelöste und verdinglichte Teil-Kategorien) und damit nicht über die Basis des Fetischismus, mußten sie notwendig historisch verblassen. Die Marxsche Kritik von Wertform und Geld erschien so schließlich bestenfalls noch als die nichtssagende bzw. sogar inhaltlich grundfalsche trotzkistische Phrase vom angeblichen "Absterben" des Geldes in einer unbestimmbaren Zukunft (so u.a. Rosdolsky), womit das theoretische und praktische Zentralproblem gnädig zugedeckt und eingesargt wird. Von solchen hilflosen Phrasen abgesehen ist daher weder im Osten noch im Westen bei irgendeiner traditionellen Linken heute noch die Rede von einer "Aufhebung der Warenproduktion", wie wir im Manifest gezeigt haben. Ein um diese Dimension erleichterter "Marxismus" ist es allerdings wert, auf den Müll geworfen zu werden. Daß unser Ansatz also keineswegs mit früheren (und in der Tat gescheiterten) Versuchen einer radikalen Kritik von Ware und Geld identifiziert werden kann, sollte damit klargestellt sein. Wer freilich den grundsätzlichen Unterschied in der Herangehensweise gar nicht sehen will, für den dürfte auch dieser Nachtrag vergebne Liebesmüh sein.
Ähnliches gilt auch für die neue Linke und ihre Geschichte. Nur flüchtig wurde 1968 der Warenfetisch thematisiert, weit entfernt von theoretischer Konkretisierung und Zuspitzung und eher kulturkritisch begründet ("Konsumzwang") als von einer Kritik der politischen Ökonomie her. Entsprechend rasch verflüchtigte sich diese Fragestellung in Varianten bürgerlicher Machbarkeits-Illusionen innerhalb der Fetisch-Sphäre der "Politik". Eine gewisse Zuspitzung leisteten zwar die hierzulande niemals einflußreichen französischen "Situationisten" in der 68-er Bewegung, die direkt eine Kritik des Warenfetischs thematisierten, jedoch vermischt mit dem bürgerlichen Unmittelbarkeits-Denken ihrer existentialistischen Herkunft; indem sie so nicht über einen radikalisierten bürgerlich-abstrakten Subjektbegriff hinauskamen, blieben auch die Situationisten unfähig, eine aus der Kritik der politischen Ökonomie begründete konkrete Kritik der Warenform zu entfalten und gesellschaftlich vermittlungsfähig zu machen.
Sicherlich wird es AUCH zu unseren Aufgaben gehören, Ansätze wie die genannten und andere zu würdigen und alle bisherigen Anläufe zu einer radikalen Kritik von Ware und Geld

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in der Theoriegeschichte aufzuspüren und kritisch zu verarbeiten. Schon die bisherige Sichtung läßt aber den Schluß zu, daß weder außerhalb noch innerhalb des bisherigen Marxismus explizit die Konsequenzen der Kritik der politischen Ökonomie in ihrer vollen Tragweite begriffen und ausgearbeitet worden sind. Auch das Marxsche Werk selbst, das als einziges auf diese Konsequenzen hinführt, enthält noch Dunkelheiten und Unklarheiten in dieser entscheidenden Hinsicht. Solche Feststellungen treffen wir nicht aus unserer selbsternannten "Genialität" heraus, sondern vielmehr aus der Einsicht, daß die bisherigen Interpretationen der Kritik der politischen Ökonomie ihre Verkürzungen aus der Eingebundenheit in eine historische Situation ziehen, in der die weltweite Entfaltung der Wertform als Kapitalverhältnis ihren Entwicklungsspielraum noch nicht ausgeschöpft hatte, auch nicht hinsichtlich dessen, was Marx als die "zivilisatorische Mission" des Kapitals bezeichnet hat (Entwicklung der Produktivkräfte, Erweiterung der Bedürfnisse, Herausbildung vernetzter gesellschaftlicher Infrastrukturen usw., die den "Austausch" ad absurdum führen). Daß die historische Arbeiterbewegung in allen ihren Varianten selber Bestandteil und Motor dieser vollen Entfaltung des Kapitalverhältnisses war und gar nichts anderes sein konnte, gehört zu den zentralen Thesen unseres Manifests. Erst heute beginnt dieses Verhältnis als Resultat seiner eigenen Entwicklung an absolute Grenzen zu stoßen. Erst heute wird daher auch jene radikale Kritik der WARENFORM ÜBERHAUPT in ihrer vollen Konsequenz möglich und notwendig, die wir für unseren Ansatz in Anspruch nehmen.

IV.
Nicht besser ist das mehrfach aufgetretene Argument, unsere Thesen liefen auf "ökonomischen Reduktionismus" hinaus bzw. wir würden uns einbilden, mit der "fundamentalen Wertkritik" den "Stein der Weisen" gefunden zu haben. Aus solchem Gerede spricht einzig und allein das tiefverwurzelte Zurückscheuen vor einer radikalen Kritik der Grundlagen aller bestehenden Gesellschaft, aus deren Form auch die gesamte Linke ihre eigene fetischistische "politische" Subjektivität herleitet, ohne sich dessen bewußt zu sein. Das alte begriffslose Gefasel des traditionellen Marxismus von einer sogenannten "relativen Selbständigkeit" diverser "gesellschaftlicher Sphären" (Überbau, Politik, Kultur etc.) gegenüber der "Ökonomie" entspringt einzig und allein einem selber "ökonomistisch" verkürzten Verständnis der Wertform und verkennt, daß allein schon die EXISTENZ dieser "Sphären" als getrennte und gegeneinander "relativ selbständige" ein historisches PRODUKT der Entfaltung der Wertform ist. Die heutigen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, wie weit entfernt sie immer von der "Ökonomie" im kruden Sinne, d.h. von der empirischen "Wirtschaft" auch sein mögen, sind von der dynamischen Entfaltung der Wertform entweder überformt worden (z.B. die "Familie") oder von ihr überhaupt erst hervorgebracht. Gerade die Sphäre der "Politik" selbst, der beliebteste Tummelplatz linksbürgerlicher Subjektivität, muß als vom Wert gesetzte Fetisch-Sphäre begriffen werden, die in keinster Weise als solche transitorische Möglichkeiten

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enthält (wie es sich der linkssozialistische Reformismus einbildet), sondern vielmehr zusammen mit dem Kapitalverhältnis als dessen integraler Bestandteil ABZUSCHAFFEN ist.
Solche Einsichten bedeuten nicht im mindesten, daß die empirischen Erscheinungen sämtlicher gesellschaftlicher "Sphären" nun idealistisch aus der Wertform unmittelbar "abzuleiten" wären (was eine völlige Verkennung dessen beinhalten würde, was logische "Ableitung" überhaupt meint); vielmehr muß die Empirie durchaus als solche untersucht werden, allerdings gerade, um ANHAND der wirklichen empirischen Erscheinungen das Wirken der Wertform als Totalitätsform der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln und aufzuzeigen. Eine Theorie, die sich unter heutigen Bedingungen beliebigen gesellschaftlichen Gegenständen zuwendet, OHNE von der darin erscheinenden Wertform zu sprechen, können wir nur als ignorant bezeichnen und nicht mehr ernst nehmen, d.h. höchstens unter ideologiekritischen Aspekten behandeln. Es muß heute festgestellt werden, daß die allzu glattzüngige Rede vom "ökonomischen Reduktionismus" (so sehr dieser Vorwurf auch bestimmten verkürzten Anschauungen im traditionellen Marxismus tatsächlich gemacht werden kann) zur billigen Alibi-Formel für die "politische" Linke geworden ist, den Konsequenzen der Kritik der politischen Ökonomie systematisch auszuweichen. Die linke Durchschnittstheorie betet die Wertform bestenfalls abstrakt definitorisch herunter, um gleich im nächsten Atemzug dieses weder begrifflich noch in seiner historischempirischen Entfaltung durchdrungene Zentralproblem wieder soziologistisch zu relativieren, praktisch fallenzulassen und sich mit der stumpfsinnigen Formel zu begnügen, daß der Wert schließlich nicht "alles" sei: Subjekt "ja bitte", systematische Kritik der Warenproduktion bis auf die Grundlagen "nein danke" - die Grundformel des seinem Unwirklichwerden hinterherwinselnden bürgerlichen Individuums. Diese heute fast schon abgefeimt gewordene Ignoranz gegenüber der Wertform als Totalitätsform hat sich niedergeschlagen als Einordnung der "linken" Theoriebildung in den Supermarkt des bürgerlichen akademischen Denkens, das aus den empirischen "Sphären" und Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft ebensoviele "Wissenschaften" macht und ihren gesellschaftlichen Grund in der Wertform auch nur wahrzunehmen unfähig ist. Und wenn sich die linken Subjekt-Soziologisten auf den Kopf stellen: der Wert ist die negative, zerstörerisch gewordene Totalitätsform dieser Gesellschaft, deren Kritik die Voraussetzung aller Kritik und deren Erkenntnis die Voraussetzung aller Erkenntnis ist. Darunter geht nichts.
Tatsächlich scheint es unseren bisherigen Gegnern und Kritikern auch nur darum zu gehen, mit solchen und ähnlichen Argumenten unseren Ansatz schon im Vorfeld einer Auseinandersetzung zu verwässern und zu relativieren, um ihn gewaltsam in den Kosmos des altgewohnten "linken" Denkens irgendwie einordnen zu können, mit dessen gewöhnlichem Theorie- und Politik-Verständnis sie sich kompatibel halten wollen, um nicht aus dem wiederkäuend vor sich hinvegetierenden Spektrum der "Linken" herauszufallen oder als "utopisch" bzw. "theoretisch abgehoben" exkommuniziert zu werden; geradezu demagogisch (und gleichzeitig selbstentlarvend) wird diese Haltung, wenn etwa geäußert worden ist, unser theoreti-

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scher Ansatz radikaler Kritik der "Warenform überhaupt" erinnere in seinen Konsequenzen (nämlich u.a. Abschaffung des Geldes als historisch aktuelle Losung) "an die mörderischen Praktiken eines Pol Pot" etc. In solchen Äußerungen zeigt sich, wie tief verwurzelt die warenförmige bürgerliche Subjektivität auch in der Linken ist, wie sehr diese Subjektivität als negative und abstrakte an der Geldform hängt und sich an diese Form klammert, wie tief der Unwille ist, sich wirklich auf die unvermeidlichen Konsequenzen der Marxschen Theorie einzulassen. Wenn dann blindlings und wider besseres Wissen der Verweis ausgerechnet auf Pol Pot hervorgestoßen wird, also auf die Tragödie einer terroristisch-etatistischen Kommandowirtschaft unter dem Vorzeichen eines asketischen Anti-Intellektualismus in der Bürgerkriegssituation eines unentwickelten Landes mit zerstörter Infrastruktur - dann fällt es schwer, auf solche Anwürfe überhaupt noch zu antworten. Dann können wir nur offen sagen: Wer eine "politische Heimatlosigkeit" fürchtet, wer sich kompatibel halten möchte mit den fetischistischen Illusionen der "demokratischen Linken", der hat in der Tat nichts bei uns verloren und eine Diskussion ist überflüssig, wenn sie bloß der Konservierung eigener Vorurteile dienen soll und der Zelebrierung eines in der Schwebe gehaltenen "Unbehagens" gegenüber einer klar bestimmten Position, auf die man sich nur nicht verbindlich einlassen will.

V.
Wenn wir unser Manifest und unsere theoretisch "aufarbeitende" Tätigkeit überhaupt im Sinne eines Anfangs und einer "Öffnung" verstehen, so also eben gerade hinsichtlich der von uns grundsätzlich neu aufgeworfenen Fragestellung einer KONSEQUENTEN Kritik der Warenform durch alle gesellschaftlichen Erscheinungen hindurch - und nicht etwa als Angebot eines "pluralen Marxismus" (so das hilflos demokratistische Konstrukt von W.F. Haug und der "Argument"-Redaktion) oder einer unverbindlichen theoretischen Beschäftigungstherapie für Leute mit gehobenen Ansprüchen, erst recht nicht als Bereitstellung eines Ruhekissens für einen Restbestand theoretischen Gewissens bei politischen "Praxis"-Handwerklern, die ansonsten ungestört und ungerührt "so weitermachen" wollen. "Öffnen" soll sich gerade eine Diskussion und Auseinandersetzung um die von uns aufgeworfene "fundamentale Wertkritik" als radikale Kritik auch der bisherigen Linken, was selbstverständlich auch ein Sich-Einlassen auf diese Fragestellung verlangt. Wenn wir unsere Thesen und die theoretische Arbeit in diesem Kontext als unabgeschlossen und einer kritischen Auseinandersetzung bedürftig darstellen, so eben mit dem Ziel einer Überprüfung und kritischen Weiterentwicklung dieses Ansatzes, nicht jedoch, um die Fauna der Linken um eine weitere seltene Spezies zu bereichern. Mit anderen Worten: wir wissen keineswegs sicher, ob alles "richtig" ist, was wir in der mühsamen Gewinnung dieses neuen Ansatzes bis jetzt gleichsam provisorisch ausgearbeitet haben; wir sind uns auch bewußt, daß das Hindurchgehen durch die Empirie und Geschichte unter dem Leitstern dieses Ansatzes nicht von einer Handvoll Leute geleistet

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werden kann, sondern vieler Kräfte bedarf. Es ist jedoch sinnlos, wenn die Kritik und Auseinandersetzung bloß vom alten theoretischen Terrain aus und unter dem Aspekt von dessen Verteidigung erfolgt. Wir erlauben uns, einen Wechsel des Terrains selber zu fordern und kritische Mitarbeit auf diesem neuen Terrain. Spott und Polemik sollen also nicht unsere eigene Arbeit sakrosankt und jede denkbare Kritik im vorhinein mundtot machen, sondern nur eine Haltung denunzieren, die ihre Kritik und ihr "Unbehagen" spazierenführt, ohne das von uns zu erschließende theoretische Terrain überhaupt zu betreten.
Es ist tatsächlich erstaunlich, wie rasch selbst scheinbar gutwillige Leute nach Kenntnisnahme unseres Ansatzes in groben Zügen und nach einem kurzen Stutzen geneigt sind, hinsichtlich interessierender Themen von Politik und Theorie zur gewohnten Tagesordnung und zu den gewohnten, von uns gerade als verkürzt kritisierten "marxistischen" Standard-Argumentationen überzugehen. Offensichtlich fällt es schwer, zu realisieren, daß die theoretische Untersuchung und Kritik der warenförmigen Konstituiertheit ALLER gesellschaftlichen Praxis und der darauf bezogenen Willensäußerungen und Willenshandlungen auch der gewohnten, überlieferten marxistischen Begriffswelt und Politik den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Furcht vor dem freien Fall scheint eine große Hemmschwelle zu sein und die Phantasie der Ignoranz zu beflügeln. Unser Credo aber lautet: Wer von der Warenform nicht reden will, soll auch zu allem anderen schweigen. In diesem und nur in diesem Sinne verstehen wir unser Angebot einer "öffnenden" Diskussion und Auseinandersetzung.
In welche Richtung sich eine solche weitere Erarbeitung und Diskussion bewegen könnte, zeigen einige andere, durchaus ernst zu nehmende Einwände. Mit an erster Stelle wäre dabei die Überlegung zu nennen, daß der Eifer in der Kritik der "Warenform überhaupt" nicht dazu verführen soll, die kapitalistische Spezifik als hochentwickelte und potenzierte Warenform außer Betracht zu lassen. Das Problem ist nur, daß beides nicht gegeneinander ausgespielt werden kann. Es gehört zum Standard-Repertoire des traditionellen Fetisch-Marxismus, die kapitalistische Spezifik der entwickelten Warenform von der "einfachen" Warenform systematisch abzutrennen, um dann eben zu jener von uns kritisierten verdinglichenden Verselbständigung "rein" kapitalistischer Kategorien wie "Mehrwert" und "Profit" etc. zu gelangen. Der DDR- und Sowjet-Revisionismus etwa entblödet sich nicht, die Existenz "einfacher Warenproduktion" in den Nischen vorkapitalistischer, nicht-warenförmiger Gesellschaften als ideologische Rechtfertigung für das logische Monstrum einer "sozialistischen Warenproduktion" zu nehmen, nach dem Motto: "Nicht" die Warenproduktion, "sondern" der Kapitalismus ist das Übel; "vor" dem Kapitalismus hat es Warenproduktion gegeben, "also" kann es auch "nach" dem Kapitalismus Warenproduktion geben. Diesen begriffslosen theoretischen Kurzschluß wollen wir ja gerade als historisch bedingte Ideologie überwinden.
Dasselbe Problem kommt auch in der Frage zum Ausdruck, ob der Staat aus der Warenform als solcher oder erst aus der Konkurrenz abzuleiten sei; die Fragestellung entstammt der "Staatsableitungs-Debatte" der 70er Jahre, in der Teile der damaligen akademischen

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Linken vielleicht am nähesten an eine radikale Kritik der Warenform herangekommen sind, freilich nur, um im entscheidenden Moment wieder zurückzubiegen in den traditionellen Marxismus. Tatsächlich ist es wohl zu wenig, wenn in unserem Manifest bezüglich des Staates die Konkurrenz nur beiläufig erwähnt wird als das "notwendige Gegensätzlich-Werden" der "Interessen" in der entfalteten (also kapitalistischen) Warenform. Das Problem ist aber auch in diesem Zusammenhang, ob die kapitalistische Form (hier die "Konkurrenz") im erwähnten Sinne gegen die "Warenform überhaupt" ausgespielt wird oder nicht. Wenn gesagt wird, daß die entfaltete Warenform die Konkurrenz notwendig impliziert und der moderne Staat sich erst mit der kapitalistischen Dynamisierung der Warenform und insofern zusammen mit der Konkurrenz herausbildet, dann ist die Ableitung des Staates aus der Konkurrenz in diesem Sinne sicher richtig; der Staat kann also nicht unmittelbar aus der "einfachen" Warenproduktion (im "Kapital" ohnehin nur eine analytische Kategorie) abgeleitet werden. Falsch wird dieser richtige Gedanke jedoch, wenn damit gleichzeitig die bereits kapitalistische Kategorie der Konkurrenz gegenüber der "Warenform überhaupt" verselbständigt oder der systematische Zusammenhang von Warenform und Konkurrenz in der weiteren Argumentation nicht mehr ausreichend berücksichtigt wird. Dieser Fehler ist schon angelegt, wenn in der Staatsableitung eine falsche Gegenüberstellung in der Weise gemacht wird, daß der Staat "nicht" aus der Warenform als solcher, "sondern" aus der Konkurrenz abzuleiten sei. Hier deutet sich schon eine Tendenz an, die Grundkategorien der Warenform bloß noch für die definitorische Herleitung der kapitalistischen Kategorien zu verwenden, um sie dann in der weiteren Argumentation und Kritik "verschwinden" oder "verstummen" zu lassen - exemplarisch bei der "Marxistischen Gruppe" (MG), die sich auch in ihrer Behandlung der "Interessen"-Kategorie um das Problem von deren warenförmiger (und also kapitalistischer) Konstituiertheit herumzumogeln versucht (vgl. dazu die entsprechende kurze Passage im Manifest). Das Resultat solcher Verkürzungen ist nicht bloß eine theoretische Verdunkelung des Kernproblems, sondern immer gleichzeitig eine verkürzende Verschwommenheit in der "sozialistischen" Zielsetzung und Programmatik (bei der MG eine ebenso vornehme wie alberne totale Programmlosigkeit), die sich dann entweder direkt in warenförmigen Kategorien darstellt, sozusagen als die vermeintliche Emanzipation des Arbeiter-"Interesses" innerhalb dieser Form, oder diese entscheidende Frage offen und unbeantwortet läßt. Bei der MG führt dieser fundamentale Fehler, nebenbei bemerkt, auch zu einer grotesken Hilflosigkeit in der Einschätzung des "Realsozialismus" und dessen Entwicklung, die nur noch mit blankem Idealismus kommentiert werden kann.
Immerhin zeigen solche Erörterungen, daß und in welcher Hinsicht auch unsere eigene Arbeit und unser eigener Diskussionsprozeß noch "offen" und keineswegs abgeschlossen ist; "offen" eben für die weitere Konkretisierung dieses Ansatzes. Dies gilt auch für eine ganze Reihe weiterer Fragestellungen, so etwa die Faschismus-Theorie, den Feminismus, die "Dritte Welt" und die Entwicklung der Sowjetunion etc. Wenn etwa im Manifest gesagt ist,

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daß das "Paradigma" der Oktoberrevolution und der daran mehr oder weniger anschließenden "Dritte Welt"-Revolutionen erloschen ist, dann soll dies natürlich nur für die historische Situation als Ganzes gelten; daß es noch "Nachzügler" innerhalb des alten Horizonts geben kann und geben wird (etwa in Afrika und vor allem Südamerika) ist damit keineswegs ausgeschlossen. Wenn wir für einen fundamentalen Neuansatz revolutionärer Theorie eintreten und die Epoche des alten Arbeiterbewegungs-Marxismus polemisch als abzuschließende attackieren, so wollen wir damit nicht hinter eine Einsicht aus dieser Epoche selber zurückfallen: "Aber eine große Weltperiode stirbt niemals so schnell ab, wie ihre Erben zu hoffen pflegen und vielleicht auch, um sie mit dem gehörigen Nachdruck berennen zu können, hoffen müssen" (Franz Mehring). Was der alte Mehring hier noch abstrakt"geschichtsphilosophisch" ausdrückt, kann heute wesentlich konkreter gefaßt werden: er weiß insofern noch gar nicht, was er sagt, als die Epoche der alten Arbeiterbewegung selber noch zu jener "großen Weltperiode" des Wertverhältnisses und seiner Entfaltung gehört, die sich erst heute anschickt, mit dem "Absterben" ernst zu machen. Daß es sich auch jetzt um den Beginn einer EPOCHE handelt, und zwar einer Epoche gesellschaftlicher Katastrophen, die bereits konkret abzusehen sind, scheint uns evident. Da sich in dieser erst nach dem zweiten Weltkrieg herausgebildeten neuen Epoche die endlich erreichte kapitalistische Voll- oder WeltmarktVergesellschaftung als identisch mit der Krise der Warenform überhaupt herausstellt, muß unser "Berennen" des Kapitalverhältnisses nicht nur ganz anders aussehen als jenes, das der alte Mehring im Auge hatte, sondern gleichzeitig mindestens denselben langen Atem besitzen, den die alte Arbeiterbewegung für die reine Herausarbeitung der Ware Arbeitskraft benötigte. Kurzfristige und kurzatmige "Hoffnungen", wie sie vielleicht den Konjunkturen des "linken" Politikastertums entsprechen, sind daher keineswegs angebracht, auch wenn (oder gerade weil) krisenhafte Erschütterungen auf allen Ebenen bevorstehen, auf die gegenwärtig weder die Massen noch die linken Theoretiker und "Politiker" vorbereitet sind.

R.K., Juli 1988

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INITIATIVE MARXISTISCHE KRITIK (IMK) - STATUT

1. Die IMK versteht sich als Gesellschaft für die Erarbeitung und Verbreitung kommunistischer Theorie.

2. Die IMK geht davon aus, daß die Marxsche Theorie von Grund auf neu erarbeitet und weiterentwickelt werden muß. Traditioneller Marxismus und alte Arbeiterbewegung sind an ihrem unwiderruflichen Ende angelangt. Eine neue Krisenepoche des Kapitalverhältnisses auf höherer Stufe der Vergesellschaftung verlangt neue, über den bisherigen Marxismus hinausgehende Antworten und Perspektiven. Die IMK sieht als notwendigen Ausgangspunkt jeder weitergehenden Theoriebildung die fundamentale Kritik des gesellschaftlichen Wertverhältnisses und damit der Warenproduktion überhaupt an, wie sie der bisherige Marxismus nicht zu leisten imstande war. Von dieser Position ausgehend müssen alle historisch herausgebildeten gesellschaftlichen Formen des Fetischismus grundlegend kritisiert werden, um zu einem neuen Programm der sozialistischen Aufhebung von Lohnarbeit, Staat und Familie zu gelangen.

3. Die IMK versteht sich weder als Partei-Ersatz noch überhaupt als Konkurrenz zu politischen Organisationen. Ihr Zweck liegt primär auf dem Gebiet der Theorie selbst, auch wenn diese an sich selber "parteiisch" ist und somit politisch in einem umfassenderen Sinne.

4. Als theoretischen Bezugsrahmen gibt die IMK ein Manifest heraus, das den Stand der erarbeiteten Theorie dokumentieren soll. Dieses Manifest ist jedoch nicht in einem formalen oder bekenntnishaften Sinne verbindlich für jedes Mitglied und bezogen auf jede einzelne darin gemachte Aussage, sondern dient auch innerhalb der IMK für die individuelle wie kollektive Arbeit als Programm der Theoriebildung selbst, an dem kritisch weiterzuarbeiten ist.

5. Die IMK organisiert für ihren Zweck Kurse, Veranstaltungen und Seminare, gibt einen internen Rundbrief heraus und fungiert gleichzeitig als Träger-Organisation des Verlags und der Zeitschrift "Marxistische Kritik".

6. Zeitschrift und Verlag werden von der Redaktion organisiert, die sich allein durch ihre inhaltliche Arbeit im Sinne der formulierten Zielsetzung ausweist.

7. Die IMK strebt ein System von Arbeits- und Diskussionsgruppen auf überregionaler Ebene an. Die einzelnen Gruppen und Personen arbeiten selbständig und selbstverantwortlich für die selbstgewählte Zielsetzung, ohne an formale Einschränkungen gebunden zu sein. Ihr Zu-

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sammenhang ergibt sich allein durch den bestimmten theoretischen Inhalt selber und wird praktisch über Redaktion, Rundbrief, Zeitschrift und Veranstaltungen hergestellt. Die einzelnen Mitglieder und Arbeitsgruppen unterstützen inhaltlich und organisatorisch die zentrale Publikationstätigkeit, gleichzeitig entwickeln sie selbständig und eigenverantwortlich Initiativen, um in die gesellschaftliche Oppositionsbewegung perspektivisch hineinzuwirken.

8. Der Rundbrief ist das Forum der internen Diskussion und Kritik; gleichzeitig dient er dem Austausch von Informationen über laufende Projekte, Arbeitsergebnisse etc. Die Veröffentlichung von Beiträgen im Rundbrief ist nicht an die IMKMitgliedschaft gebunden.

9. Für jedes Mitglied ist ein monatlicher Beitrag von 10.- DM verbindlich, worin der kostenlose Bezug von Rundbrief und Zeitschrift sowie die kostenlose Teilnahme an Seminaren eingeschlossen ist. Darüberhinaus sind Einzelspenden und freiwillig erhöhte Förder-Beiträge erwünscht.

10. Mindestens einmal jährlich findet eine Vollversammlung der IMK statt, auf der Redaktion und Arbeitsgruppen Bericht erstatten und Beschlüsse über die weitere Arbeit und die Verantwortlichkeiten gefaßt werden.

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Die INITIATIVE MARXISTISCHE KRITIK (IMK) versteht sich als Diskussionszusammenhang und ist daher jederzeit für Kritik, Anregungen etc. offen. Wer die laufende Diskussion kontinuierlich verfolgen bzw. sich an ihr beteiligen möchte hat dazu folgende Möglichkeiten:
- Abonnement der "Marxistischen Kritik" (Die Rechnungsstellung erfolgt mit jeder   Nummer, eine Kündigung des Abonnenments ist jederzeit möglich).
- Abonnement des internen RUNDBRIEFES DER IMK. Der Rundbrief ist Forum für   interne Diskussion und Kritik und dient dem Austausch von Informationen über   laufende Projekte, Arbeitskreise etc.. Er erscheint ca. vierteljährlich und kann   von jedem/r Interessierten für jeweils 10,- DM bezogen werden.
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Selbstverständlich stehen unsere Seminare und Arbeitskreise grundsätzlich jedem/r Interessierten offen. Gleiches gilt für die Veröffentlichung von Beiträgen im internen Rundbrief, sofern sich diese auf die laufende Diskussion beziehen, bzw. zu relevanten Themen Stellung nehmen.
Darüberhinaus sind wir auch auf handfeste Unterstüzung angewiesen, sowohl in Form von Spenden, als auch beim Verkauf der Publikationen über die Betreuung von Buchläden, Organisierung von Büchertischen etc.