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Robert Kurz

Ideologische Absaufprobleme
Nachlese zur Kontroverse um Wolfgang Pohrt und die Antideutschen

Es ist ja nett, daß Klaus Bittermann sich an einer Ehrenrettung seines früheren Mentors Wolfgang Pohrt versucht (Omnipotenzprobleme, junge welt v. 6.10.). Man muß allerdings nicht auf der Veranstaltung mit Pohrt und Broder gewesen sein, um deren Desaster erklären zu können. Wie so oft sind der Kontext und die Geschichte der Sache wichtiger als das einzelne Ereignis, das dadurch erst Bedeutung gewinnt. Sonst wäre die Aufregung um den Auftritt Pohrts, der seit Jahren keine Zeile mehr veröffentlicht hat, gar nicht zu verstehen.

Pohrt hat einen einzigen im strengen Sinne theoretischen Text verfaßt, und zwar vor 27 Jahren seine "Theorie des Gebrauchswerts". Das war für damalige Verhältnisse ein anregendes Buch, weil darin gegen den Strich der altmarxistischen abstrakten Produktivkraft-Gläubigkeit gezeigt wurde, wie der Kapitalismus durch die "reelle Subsumtion" (Marx) des gesellschaftlichen Lebens unter die Verwertungslogik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in wachsendem Ausmaß den Gebrauchswert und alle Potenzen eines guten Lebens zerstört. Diese als Erweiterung von Adornos Kritik der Kulturindustrie zu verstehende Argumentation liegt eher quer zu den heutigen Kontroversen. Pohrt hat daran nicht weitergearbeitet.

Was von Pohrts Buch weiterwirkte, sind zwei miteinander verbundene Thesen, wie er sie aus der gebrauchswert-zerstörenden Tendenz abzuleiten suchte. Erstens sei zwar die "vernünftige" Mission des Kapitalismus ursprünglich die Produktivkraftentwicklung gewesen, und damit könne man auch noch die Gräuel seiner Durchsetzungsgeschichte zur Not akzeptieren. Spätestens NS und Holocaust entbehrten jedoch gänzlich dieser Vernunft; sie seien mit keinerlei Notwendigkeit der Produktivkraftentwicklung mehr zu rechtfertigen und spotteten daher jeder Erklärbarkeit. Zweitens sei dieses Herausfallen der Geschichte aus der "Vernunft" dem Scheitern oder Versagen der alten Arbeiterbewegung geschuldet, die den richtigen Zeitpunkt "verpaßt" habe, dem Kapitalismus die Produktivkräfte aus der Hand zu nehmen und sie, orientiert an den Imaginationen einer noch intakten proletarisch-agrarischen Alltagskultur, in ein gutes Leben umzusetzen. Mit der "reellen Subsumtion" unter das Kapital sei diese Möglichkeit schon vor dem 1. Weltkrieg endgültig erloschen.

Diese Argumentation Pohrts ist defizitär. Er reduziert das menschliche Erkenntnisvermögen unreflektiert auf die bürgerliche "Vernunft" und den Charakter des Kapitals auf die Entfaltung der Produktivität, ohne den irrationalen Fetischcharakter dieser Produktionsweise systematisch aufzurollen. So entgeht ihm sowohl die Form-Immanenz der alten Arbeiterbewegung, die sich in ihrer politisch-ökonomischen Modernisierungsfunktion auf dem Boden der "abstrakten Arbeit" (Marx) erschöpfte, als auch der Charakter von Auschwitz als einer möglichen Konsequenz dieser negativen gesellschaftlichen Form. Nicht eine Neuformulierung der Kapitalismuskritik jenseits des Arbeiterbewegungsmarxismus war daher das Resultat, sondern historische Resignation. Das ist Pohrt nicht vorzuwerfen, denn 1976 waren weder die Konsequenzen der 3. industriellen Revolution noch der Zusammenbruch des Staatssozialismus "nachholender Modernisierung" abzusehen.

Aufgegriffen wurden Pohrts Gedanken erst ein gutes Jahrzehnt später. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich von der Theorie längst abgewandt und trat als Polemiker gegen die damalige Friedensbewegung in Erscheinung, die im Kontext des Niedergangs der 70er- und 80er-Jahre-Linken zu einem jämmerlichen Moralismus herabgesunken war und aus der unaufgearbeiteten linken Geschichte Motive des Nationalismus und Antiamerikanismus, einer verkürzten Kapitalismuskritik und eines antizionistisch verbrämten "linken" Antisemitismus mit sich führte. Pohrts Pamphlete waren glänzend formuliert, aber sie stellten der Natur der "Textsorte" gemäß keine kritische Aufarbeitung der "deutschen Ideologie" in ihrem Verhältnis zur Geschichte der Linken dar und keinen theoretischen Bezug zur Entwicklung des Kapitalismus her. An die Stelle der Reflexion trat die hemmungslose Denunziation, als Pohrt anläßlich des 2. Golfkriegs hurra-bellizistisch auftrat, die radikale Linke in "Konkret" mit Unterstützung des Herausgebers Gremliza großenteils als Nazis deklarierte, sich mit der Springer-Presse solidarisierte und mit der Atombombe auf den Irak liebäugelte - wenn auch nur im Konditionalsatz, wie Bittermann entschuldigend meint.

Das war dann der Startschuß für die antideutsche Ideologie, deren Protagonisten sich aus dem Pohrtschen disparaten Opus bedienten wie Kleptomane beim Kaufhausdiebstahl. Es waren gerade die defizitären Momente der "Theorie des Gebrauchswerts", die dabei durchwegs ohne Quellenangaben intellektuell unredlich rezipiert, aus dem ursprünglichen Kontext gerissen und neu aufgeladen wurden. Die antideutschen Vordenker der ISF Freiburg, die nie etwas anderes als unselbständige und schwache Hinterherdenker Pohrts waren, erklärten den Kapitalismus zu einer überhaupt der menschlichen Vernunft völlig unzugänglichen Veranstaltung (was Pohrt so nicht gesagt hatte) und die Kapitalismuskritik zur praktisch gegenstandslosen Nostalgie. Als Ersatzgegenstand, völlig entkoppelt von der Kritik der politischen Ökonomie, bot sich das "deutsche Wesen" an; aber nicht in der Form der historisch-kritischen Untersuchung, sondern der zunehmend beliebigen denunziatorischen Zuordnung.

Die Pohrtschen Invektiven gegen die Linken als "Nazis" bildeten überhaupt den eigentlichen Bezug, an den sich erst sekundär die verballhornten Theoriebruchstücke von 1976 anschlossen. Der inflationierte und damit entwertete Antisemitismus-Vorwurf speiste sich aus einer antideutschen Identitätspolitik, die keinerlei Vermittlung zur Analyse des heutigen Kapitalismus mehr aufwies. Der Antisemitismus wurde nicht aus der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft aus dem Antisemitismus erklärt und der NS samt Auschwitz aus dem Kapitalismus hinausgemogelt als dessen angebliche "negative Aufhebung". Übrig blieb ein apologetischer Begriff des Kapitalverhältnisses als bloß noch nicht zureichend verwirklichte "Zivilisation" bis hin zur Beweihräucherung des historischen Kolonialismus und des heutigen imperialen Krisenregimes als "Fortschritt" und "Befreiung". Die Beschreibung der Weltlage mutierte dabei zum Phantasma eines historischen Show down zwischen dem "deutschen Wesen" und der zugerechneten moslemischen Welt einerseits und dem "zivilisatorischen" angelsächsischen Kapitalismus samt einem geschichtsphilosophisch aufgeladenen Israel andererseits; eine irre bloße Umkehrung der irren Neonazi-Ideologie von der "judäo-amerikanischen Weltverschwörung".

Mit der ausgeschlachteten "Theorie des Gebrauchswerts" und ihren Defiziten hatte das nur noch sehr vermittelt etwas zu tun. Pohrt selber hat sich jahrelang nicht zur Ausdeutung seiner Texte durch den antideutschen Bellizisten-Mob geäußert. Seine empirische, im Hinblick auf soziale und moralische Verwahrlosungsprozesse detailreiche Untersuchung "Brothers in Crime" argumentierte in der theoretischen Interpretation eher anthropologisierend als kapitalismuskritisch. Und die letzten Texte in "Konkret" hatten schon angedeutet, dass er inzwischen mindestens so krud antiamerikanisch dachte wie einst die Adressaten seiner Polemik und es auch mit Rassismus und Antisemitismus nicht mehr so genau nahm. Sein publizistisches Verstummen war vielleicht die Konsequenz dieser Entwicklung zum ideologischen Borderliner.

Angesichts persönlicher Tragik ist Zurückhaltung angebracht. Aber bloß schönreden und zudecken geht auch nicht. Das Selbstdementi auf der Veranstaltung vom 30.9. hört sich, wenn man den Zitaten aus "Die Jüdische" glauben darf, weniger nach Selbstreflexion als nach Stuttgarter Hausmeisterphilosophie an, Elemente einer Relativierung von Auschwitz eingeschlossen. Wohlweislich ist Bittermann in seiner Polemik gegen Schandl mit keiner Silbe auf diesen befremdlichen Inhalt der aktuellen Aussagen Pohrts eingegangen.

Die Antideutschen haben immer wieder mit an den Haaren herbeigezogenen Scheinbegründungen oder mit erstunkenen und erlogenen Behauptungen ihnen mißliebige Linke als Nazis und Antisemiten zu brandmarken versucht. Soweit sie nun über den peinlichen Auftritt ihrer Ikone Pohrt hinweggehen, outen sie sich als unglaubwürdige Heuchler; soweit sie dagegen in ihrer gewohnten Manier über ihren eigentlichen Vordenker herfallen, betreiben sie unfreiwillige Selbstdemontage und lenken die Aufmerksamkeit darauf, wie dünn und brüchig ihre theoretischen Grundlagen eigentlich sind.

Ohnehin ist die antideutsche Borderliner-Ideologie völlig überreizt und blamiert sich angesichts der realen Entwicklung im globalen Krisenkapitalismus mit jedem Tag mehr. Schandl hat völlig recht, wenn er das Umkippen des antideutschen Syndroms prognostiziert. Ganz unabhängig davon, ob und wie ein Pohrt sich weiter äußert, werden wir es bald mit zahlreichen Ex-Antideutschen als offenen Auschwitz-Verharmlosern und Geschichtsrevisionisten zu tun haben. Rassistisch sind sie sowieso und darin schon längst ihrem Ex-Meister gefolgt. Merkwürdig ist nur, daß Linke wie Bittermann gleich das "Durchladen der Kalaschnikow" zu hören vermeinen, sobald diese Leute, die er als "nette zuvorkommende junge Studenten" zu erleben vorgibt, endlich mal in die hoffnungslose Defensive geraten, während die seit Jahr und Tag betriebene antideutsche Kotschleuder etwa gegen Schandl oder Kurz nie die kleinste Kritik wert war. Die "stalinistische" Bedrohung durch angebliche Dogmatiker wird eben immer dann herbeiphantasiert, wenn der jeweilige ideologische Heimatverein absäuft.


Von Robert Kurz ist soeben das Buch "Die antideutsche Ideologie" im Unrast-Verlag erschienen (312 Seiten, 16 Euro).