Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


aus: Folha 6/2002

Robert Kurz

Die Privatisierung der Welt
Müssen die Natur und die elementaren menschlichen Bedürfnisse mangels Rentabilität verboten werden?


Die Natur war vermutlich vor der modernen Ökonomie
da. Deshalb ist die Natur an sich gratis, sie hat keinen Preis. Das unterscheidet die Naturgegenstände ohne menschliche Bearbeitung von den Resultaten der gesellschaftlichen Produktion, die nicht mehr Natur "an sich" darstellen, sondern von menschlicher Tätigkeit umgeformte Natur. Diese "Produkte" waren im Unterschied zu den reinen Naturgegenständen noch nie frei zugänglich; sie unterlagen schon immer einem Modus gesellschaftlich organisierter Verteilung nach bestimmten Kriterien. In der Moderne ist es die Form der Warenproduktion, die über den Modus des Marktes nach den Kriterien von Geld, Preis und Nachfrage (Zahlungsfähigkeit) diese Verteilung reguliert.

Es ist aber ein altes Problem, daß die Organisation der Gesellschaft dazu tendiert, auch den freien Zugang zu einer wachsenden Zahl von vormenschlichen Ressourcen der Natur zu versperren. Diese Okkupation trägt in verschiedensten Formen denselben Namen des sogenannten "Eigentums" wie die Produkte der gesellschaftlichen Tätigkeit. Es findet also ein "quid pro quo" statt: Vormals freie, nicht von Menschen bearbeitete Naturgegenstände werden genauso behandelt, als wären sie Resultate der gesellschaftlichen Organisationsform, und daher denselben Restriktionen unterworfen.

Die älteste Okkupation dieser Art ist diejenige von Grund und Boden. Die Erde an sich ist natürlich nicht das Resultat menschlicher Produktionstätigkeit. Deshalb müßte sie auch an sich frei zugänglich sein. Allenfalls die von Menschen bereits umgeformte, bebaute und "kultivierte" Erde könnte den gesellschaftlichen Mechanismen unterworfen sein; und sie müßte dann zum Eigentum derjenigen Individuen werden, die sie kultiviert haben. Aber bekanntlich ist genau dies nicht der Fall. Gerade die noch gänzlich unkultivierte Erde wird gewaltsam usurpiert. Schon in der Bibel gibt es den blutigen Streit um das Territorium zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern (Kain und Abel) sowie zwischen den nomadischen Viehzüchtern untereinander um die "fettesten Weiden". Die Usurpation des "jungfräulichen" Bodens ist die Ur- und Erbsünde der "Herrschaft des Menschen über den Menschen" (Marx). Die Aristokratien aller repressiven agrarischen Hochkulturen bildeten sich ursprünglich aus dieser gewaltsamen Aneignung des Bodens buchstäblich mit Keule und Speer.

Allerdings war das Eigentum in den vormodernen agrarischen Kulturen noch bei weitem kein Privateigentum im heutigen Sinne. Das bedeutete vor allem, daß dieses Eigentum kein ausschließliches oder totales war. Der Boden konnte auch von anderen benutzt und kultiviert werden, die den ursprünglich gewaltsamen Eigentümern dafür Abgaben entrichten mußten (die feudale Rente in Form von Naturalien oder Dienstleistungen). Aber es gab auch kostenlose Möglichkeiten der Nutzung. So durften an vielen Orten die Bauern ihre Schweine auf das unbebaute Land des Grundherren treiben, dort frei wachsende Futtermittel ernten oder andere natürliche Materialien einsammeln. Andere Möglichkeiten der freien Nutzung waren immer wieder umstritten, so das Recht der Jagd und der Fischerei. Wo die feudalen Herren in dieser Hinsicht versuchten, Verbote zu erlassen, wurden diese fast nie eingehalten. Der "Wilderer", also der illegale Jäger und Fischer, gehört zu den Helden der vormodernen populären Kultur.

Das moderne Privateigentum hat die Unterwerfung der "freien" Natur unter die Form der gesellschaftlichen Organisation ungeheuer verstärkt und damit auch den Zugang zu den natürlichen Ressourcen so rigoros versperrt wie niemals zuvor. Diese Verschärfung der usurpatorischen Tendenz hat ihren Grund darin, daß die Okkupation jetzt nicht mehr durch die persönliche und unmittelbare Tat der Gewalt vollzogen wird, sondern durch den modernen ökonomischen Imperativ, der eine "versachlichte" Gewalt zweiter Ordnung darstellt. Die unmittelbare bewaffnete Gewalt tritt auch jetzt noch bei der Okkupation der natürlichen Ressourcen in Erscheinung, aber sie ist in Gestalt von Polizei und Militär selber schon institutionell versachlicht. Die Gewalt aus den modernen Gewehrläufen spricht nicht mehr für sich selbst; sie ist zum bloßen Büttel des ökonomischen Selbstzwecks geworden. Dieser säkularisierte Gott der Moderne, das Kapital als unaufhörlich "sich selbst verwertender Wert" (Marx), tritt aber nicht nur in Gestalt einer irrationalen Versachlichung auf; er ist auch viel eifersüchtiger als alle anderen Götter vor ihm. Mit anderen Worten: Die moderne Ökonomie ist totalitär. Sie erhebt einen totalen Anspruch an die natürliche und gesellschaftliche Welt. Deshalb ist ihr prinzipiell alles ein Dorn im Auge, was nicht ihrer eigenen Logik unterworfen und anverwandelt ist. Und da ihre Logik einzig und allein in der permanenten Verwertung des Geldes besteht, muß sie alles hassen, was nicht die Form eines Geldpreises annimmt. Es soll nichts mehr geben unter dem Himmel, was gratis und von Natur aus da ist.

Das moderne Privateigentum stellt nur die sekundäre juristische Form dieser totalitären Logik dar. Es ist daher so totalitär wie diese: die Nutzung muß eine ausschließliche sein. Das gilt ganz besonders für die primäre natürliche Ressource von Grund und Boden. Unter dem Diktat des modernen Privateigentums wird keinerlei kostenlose Nutzung für menschliche Bedürfnisse neben der offiziellen mehr geduldet: Die Ressourcen müssen entweder der Verwertung dienen oder brach liegen. Selbst der Teil der Erde, den das Kapital gar nicht selber nutzen kann, soll durch die Form des Privateigentums von jeder anderen Nutzung ausgeschlossen werden. Diese freche Zumutung hat immer wieder den sozialen Protest herausgefordert. Ein biografisch oft hervorgehobenes Schlüsselerlebnis für den jungen Marx war in der Zeit vor 1848 die Auseinandersetzung um das preußische "Holzdiebstahlgesetz", das es den Armen verbieten wollte, kostenlos Brennholz in den Wäldern zu sammeln. Der Streit um die freie Nutzung natürlicher Güter, vor allem des Bodens, hat in der gesamten Geschichte des Kapitalismus niemals aufgehört. Auch heute sind es in vielen Ländern der Dritten Welt soziale Bewegungen von "Landbesetzern", die das totalitäre Diktat des modernen Privateigentums über die Nutzung der Erde in Frage stellen.

In der Entwicklung des modernen warenproduzierenden Systems wurde das primäre Problem des Zugangs zu kostenlosen natürlichen Ressourcen überlagert von dem sekundären Problem des Zugangs zu unmittelbar gesamtgesellschaftlichen, "öffentlichen" Ressourcen: den sogenannten Infrastrukturen. Durch die kapitalistische Industrialisierung und die damit verbundene Zusammenballung riesiger Menschenmassen (Urbanisierung) entstanden gesellschaftliche Bedürfnisse und wurden sachliche Maßnahmen erforderlich, die nicht durch die Gesetze des Marktes bestimmt werden konnten, sondern nur durch direkte gesellschaftliche Verwaltung. Zum einen handelte es sich dabei um völlig neue, aus den Prozessen der Industrialisierung resultierende Sektoren wie das öffentliche Gesundheitswesen, öffentliche Institutionen der Ausbildung (Schulen, Universitäten usw.), öffentliche Telekommunikation (Post, Telefon) und Energieversorgung, öffentliche Verkehrsmittel (Eisenbahn, städtische U-Bahn usw.). Zum andern mußten jedoch auch vorher ganz ohne gesellschaftliche Organisation frei zugängliche natürliche Ressourcen und sich von selbst vollziehende menschliche Lebensvorgänge gesellschaftlich organisiert und unter öffentliche Verwaltung gestellt werden: Dazu gehört die öffentliche Versorgung mit Trinkwasser, die öffentliche Müllabfuhr, die öffentliche Kanalisation usw. bis hin zu den öffentlichen Toiletten in den großen Städten.

Unter den Bedingungen des modernen warenproduzierenden Systems kann die öffentliche, gemeinsame "Verwaltung von Sachen" nur die verzerrte Form eines staatsbürokratischen Apparats annehmen. Denn die moderne Form "Staat" stellt nur die Kehrseite, Rahmenbedingung und Garantie kapitalistischer Privatheit dar; der Staat kann seiner Natur nach nicht die Form einer "freien Assoziation" der Individuen bilden. Die öffentliche Verwaltung von Sachen bleibt so immer national borniert, bürokratisch repressiv, autoritär und an die Fetischgesetze der Warenproduktion gebunden. Deshalb müssen die öffentlichen Dienste dieselbe Geldform annehmen wie die Warenproduktion für den Markt. Denoch handelt es sich nicht um Marktpreise, sondern nur um Gebühren; einige Infrastrukturen werden sogar kostenlos zur Verfügung gestellt. Der Staat finanziert diese Dienste und sachlichen Aggregate nur zu einem kleinen Teil durch die von den Bürgern erhobenen Gebühren; im wesentlichen werden sie subventioniert durch die Besteuerung der kapitalistischen Einkommen (Löhne und Profite). So bleibt die öffentliche Verwaltung von Sachen indirekt an den Verwertungsprozeß des Kapitals gebunden.

Über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren wurden die Sektoren des öffentlichen Dienstes und der gesellschaftlichen Infrastruktur als notwendige Flankierung, Abfederung und Krisenbewältigung der Marktprozesse allgemein anerkannt. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich jedoch weltweit eine Politik durchgesetzt, die genau umgekehrt auf eine hemmungslose Privatisierung aller staatlich verwalteten Ressourcen und öffentlichen Dienste hinausläuft. Keinesfalls wird diese Privatisierungspolitik nur von explizit neoliberalen Parteien und Regierungen vertreten; sie ist längst parteiübergreifend. Das deutet darauf hin, daß wir es hier nicht bloß mit Ideologie, sondern mit einem realen Krisenproblem zu tun haben.

Eine Rolle spielt dabei sicherlich, daß durch die Globalisierung des Kapitals die staatlichen Steuereinnahmen rapide zurückgehen. Die weltweit überschuldeten Staaten, Provinzen und Kommunen sind selber zu ökonomischen Krisenfaktoren geworden, statt als Krisenbewältiger aktiv werden zu können. Indem sie zwecks Bedienung ihrer horrenden Schulden das staatliche "Tafelsilber" der gesellschaftlich verwalteten Aggregate verscherbeln, gleichen die "öffentlichen Hände" fatal jener Masse von Opfern der Altersarmut, die in den globalen Krisenregionen auf den Second-Hand-Märkten ihren Hausrat und selbst ihre Kleidung veräußern, um überleben zu können.

Das Problem geht jedoch noch tiefer. Im Kern handelt es sich um eine Krise des Kapitals selbst, das unter den Bedingungen der dritten industriellen Revolution an absolute Grenzen des realen Verwertungsprozesses stößt. Obwohl es seiner Logik nach ewig expandieren muß, ist es dazu auf seinem eigenen Boden immer weniger in der Lage. Daraus resultiert ein doppelter Verzweiflungsakt, eine Flucht nach vorn: Zum einen entsteht ein schrecklicher Drang, noch die letzten kostenlosen Ressourcen der Natur zu okkupieren, ja sogar die "innere Natur" des Menschen, seine Seele, seine Sexualität, seinen Schlaf zum direkten Terrain der Kapitalverwertung und damit des Privateigentums zu machen. Zum andern sollen die staatlich verwalteten öffentlichen Infrastrukturen ebenfalls auf Biegen und Brechen in Sektoren des Privatkapitalismus verwandelt werden.

Aber diese totale Privatisierung der Welt führt die Moderne endgültig ad absurdum; die kapitalistische Gesellschaft wird autokannibalistisch. Die Naturbasis der Gesellschaft wird mit wachsender Geschwindigkeit zerstört; Kostensenkungspolitik und Outsourcing um jeden Preis ruinieren die stoffliche Basis der Infrastrukturen, den organisatorischen Zusammenhang und damit den notwendigen Gebrauchswert. Längst bekannt ist das verheerende Beispiel der Bahn und überhaupt der ehemals öffentlichen Verkehrsmittel: je privater, detso maroder und gemeingefährlicher. Dasselbe Bild bei der Telekommunikation, Post usw. Wer sich heute beim Umzug ein neues Telefon legen lassen muß, erlebt geplatzte Termine, den Kompetenzwirrwar "outgesourcter" Stellen und zu Scheinselbständigen degradierte, fluchende Mechaniker. Die deutsche Post, die sich in einen seiner Börsenkapitalisierung harrenden Konzern und Global Player verwandelt hat, läßt demnächst Briefe in Kalifornien oder in China austragen; dafür funktioniert zu Hause kaum noch der simpelste Zustelldienst. Kunststück, wenn sämtliche Tätigkeiten auf Billiglohn umgestellt und die Zustellgebiete der einzelnen Briefträger verdoppelt und verdreifacht, dafür die Zweigstellen extrem ausgedünnt werden.

Postämter und Bahnhöfe verwandeln sich sachfremd in glitzernde Einkaufsmeilen, während die eigentliche Dienstleistung leidet. Je gestylter die Büros, desto miserabler der Service. Allen Versprechungen zum Trotz heißt Privatisierung früher oder später nicht nur Verschlechterung, sondern auch drastische Preiserhöhung. Weil du arm bist, mußt du früher sterben: diese alte Volksweisheit kommt mit der zunehmenden Privatisierung des Gesundheitswesens selbst in den reichsten Industrieländern zu neuen Ehren. Die Privatisierungspolitik macht selbst vor den elementarsten menschlichen Bedürfnissen nicht halt. In Deutschland werden die Bahnhofstoiletten neuerdings von einem transnationalen Unternehmen namens "McClean" betrieben, das sich die Benutzung eines Urinals bezahlen läßt wie eine Stunde Parkzeit in der City. Jetzt heißt es also schon: Weil du arm bist, mußt du in die Hose pinkeln oder dich illegal erleichtern!

Was noch auf uns zukommen kann, zeigt die Privatisierung der Wasserversorgung in der bolivianischen Stadt Cochabamba, die auf Geheiß der Weltbank an ein US-amerikanisches "Wasserunternehmen" verkauft wurde. Innerhalb weniger Wochen wurden die Preise derart drastisch erhöht, daß viele Familien bis zu einem Drittel ihres Einkommens für das tägliche Wasser bezahlen mußten. Regenwasser als Trinkwasser zu sammeln, wurde für illegal erklärt, und der Protest mit dem Einsatz von Militär beantwortet. Bald wird auch die Sonne nicht mehr gratis scheinen. Und wann kommt die Privatisierung der Atemluft? Das Resultat ist absehbar: Nichts funktioniert mehr, und keiner kann es bezahlen. Der Kapitalismus muß dann wohl die Natur ebenso wie die menschliche Gesellschaft wegen "mangelnder Rentabilität" schließen und eine andere aufmachen.