Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Robert Kurz

Sein als Design
Von der Ästhetik der Ware zur Ästhetik der Krise

 

Das System der modernen Marktwirtschaft neigt dazu, jeden Inhalt in Form aufzulösen. Die Form des ökonomischen Werts, obwohl sie niemals real ohne Inhalt sein kann, strebt ihrer inneren Logik nach die Verselbständigung an. Das zum Selbstzweck gewordene Geld macht den Inhalt gleichgültig. "Um Erfolg zu haben, mußt du an etwas glauben - an was, das ist völlig egal", so brachte ein Management-Guru diesen Sachverhalt auf eine einfache Formel. Die Produzenten von Gummibärchen glauben an die historische Notwendigkeit von Gummibärchen und legen täglich einen heiligen Erfolgsschwur darauf ab; ebenso gläubig müssen sich die Produzenten von Büstenhalter-Verschlüssen, Finanzderivaten oder Atombomben auf ihren Marktgegenstand beziehen. Wer die Branche wechselt, der ändert somit auch seinen Glauben und seine Glaubensgemeinschaft. Und mit jedem neuen Produkt entsteht eine neue Religion des Marketing.
Dieselbe Vielgötterei findet sich auf der Seite des Konsums. Wenn die Akteure des totalen Marktes auch sonst keine Persönlichkeit haben und für sich selber als Menschen nichts mehr sind, so sind doch auch die Ärmsten unter ihnen immer noch irgendwie Konsumenten von Waren. Selbst die aus der regulären Produktion Ausgestoßenen können ihre Zugehörigkeit zur Welt der Waren auf die Formel bringen: Ich konsumiere, also bin ich. Die bindende Kraft dieser kapitalistischen Zauberformel bleibt gerade dann gültig, wenn es sich dabei um einen Horizont von Wunschvorstellungen handelt, die mangels Kaufkraft größtenteils unerreichbar bleiben. Ob der Konsum real ist oder bloß in der Phantasie stattfindet: die Objekte des Begehrens verwandeln sich in Gegenstände des Kults. Je bedeutungsloser die Individuen werden, desto stärker laden sich noch die gleichgültigsten Gegenstände des täglichen Bedarfs mit Bedeutung auf.
Natürlich ist die sekundäre, quasi-religiöse Aura der Gegenstände von Produktion und Konsumtion nur simuliert. Das ist schon daran zu erkennen, daß sie beliebig auswechselbar sind. Weil die Gleichgültigkeit der kapitalistischen Form gegen jeden substantiellen Inhalt unerträglich wird, muß der verlorene Bezug zur sinnlichen Qualität der Gegenstände halluzinatorisch wiederhergestellt werden. Dieser Vorgang nimmt den Charakter eines Spiels an; aber keines intelligenten, sondern eines infantilen. Alle wissen, daß für die gesellschaftliche Maske des Kapitals, die sie selber sind, der jeweils besondere stoffliche Charakter von Lebensmitteln, Kleidern oder Gebäuden und allen anderen Dingen vollkommen nichtig ist, weil sie alle immer nur als ein und derselbe Gegenstand des Geldes erscheinen können, der seine Gestalt wechselt wie Proteus. Da diese Nichtigkeit des sinnlichen Inhalts nicht angegriffen werden darf, muß sich die halluzinatorische Aufladung der Waren auf etwas anderes beziehen: Die verlorene sinnliche Qualität wird auf der Ebene der ästhetischen Form simuliert. Der Totalitarismus der Form bleibt also erhalten; die Gleichgültigkeit der sozialen Form wird nicht aufgehoben, sondern ästhetisch verkleidet.
Die Ästhetik der Ware darf allerdings nicht verwechselt werden mit der Ästhetik von Kunstwerken. Für die traditionelle Kunst ist es ein Ziel, den Widerspruch von Form und Inhalt aufzuheben; und zwar gerade durch den immer wieder neu unternommenen Versuch, "der Sache selbst" einen unmittelbar sinnlichen Ausdruck zu verleihen. Deshalb gehört es zur Ästhetik eines Kunstwerks, daß es auch dann, wenn es "technisch reproduzierbar" (Walter Benjamin) wird, in gewissem Sinne trotzdem ein unverwechselbares Unikat bleibt: zwar nicht als einzelnes Exemplar, aber in seiner einmaligen Kombination von Stoff und Form. Auch in millionenfacher Auflage bleiben die "brennende Giraffe" von Salvador Dali, der "Diskuswerfer" des Myron oder ein Hiphop-Song von Dr. Dre als Darstellung einzigartig und unwiederholbar. Auf dieser Ebene gibt es keine technische Reproduzierbarkeit.
Die Ästhetik der Ware dagegen ist Design: nicht Ausdruck "der Sache selbst", sondern ganz im Gegenteil das Kleid ihrer abstrakten Allgemeinheit als Gegenstand des Kaufens und Verkaufens und insofern alles andere als unverwechselbar. Die Kunst kann formal Ware sein, aber die Ware kann niemals inhaltlich Kunst sein. Deshalb ist das Design keine Frage der Kunst - es gehört in den Bereich des Marketing. Das Design versucht nicht, einem bestimmten qualitativen Inhalt eine ihm und seinem Kontext entsprechende Form zu geben; es will stattdessen die völlige Nichtigkeit des Inhalts mit einer Aura sekundärer Bedeutung aufladen. Wie der sinnlich-stoffliche Gehalt der kapitalistischen Ware nicht für sich steht, sondern nur als gleichgültiger Träger des ökonomischen Werts figuriert, ebenso hat auch die Form des Design keine eigene ästhetische Bedeutung, sondern verweist auf eine Funktion jenseits ihrer Verbindung mit dem zufälligen Stoff.
Diese Funktion ist das "Image" der Ware. Schon lange versucht die Werbung, stinknormale Gebrauchsgüter mit positiven Gefühlen zu verbinden. Dabei wird nicht der Gegenstand selbst geliebt, wie etwa jemand ein besonderes altes Möbelstück liebt, das sein Leben begleitet hat. Vielmehr soll ein an sich banales (oder sogar idiotisches) Gut "repräsentativ" werden für bestimmte Elemente des sozialen Gefühlshaushalts. Bekanntlich suggerieren die Kampagnen der Werbung, daß mit einer Seife gleichzeitig auch Charme und Schönheit gekauft wird, mit einem Schoko-Riegel Erfolg und mit einem Auto Sex-Appeal oder Freiheit. Persönliche Träume und Erfindungen werden dadurch eher verdrängt, denn die Imagination der Ware zielt auf Klischees: die schöne und selbstbewußte Frau, denn starken und erfolgreichen Mann, die jugendliche Figur, den aktiven Senior usw. Zwar ist die Täuschung kognitiv leicht zu durchschauen, aber sie kann unbewußt trotzdem wirksam sein. Das gilt umso mehr, wenn sich die ästhetische Beziehung zwischen der Ware und ihrem Image verschiebt. In der Totalisierung des Marktes spitzt sich die kapitalistische Verkehrung von Mittel und Zweck zu: Die Werbung verweist nicht mehr auf das Produkt, sondern das Produkt verkündet den Ruhm der Werbung. Die Gegenstände verlieren endgültig ihre Würde. Ihre ästhetische Form löst sich virtuell von der Materie und wird zum Design eines warenförmigen Image.
In diesem Zusammenhang finden wir auch den gesellschaftlichen Grund der postmodernen Philosophien und Medientheorien, die den Unterschied von Wesen und Erscheinung, von Begriff und Gegenstand, von Signifikat und Signifikant theoretisch einebnen wollen. Sie reflektieren bewußtlos die fortschreitende Ablösung des Design vom Körper der Ware. Die spezifisch postmoderne Verwandlung von Erkenntnistheorie in Ästhetik ist immer schon Warenästhetik. Das verselbständigte Design des Image von Waren setzt sich an die Stelle der Freude an realen Gegenständen. So waren die Menschen des warenproduzierenden Staatssozialismus gerade dadurch mit der privatkapitalistischen Version der Marktwirtschaft sozio-psychisch und ästhetisch gleichgeschaltet, daß sie die inhaltslosen Hülsen und das Verpackungsmaterial westlicher Waren als Kunst- und Kultgegenstände sammelten, zum Beispiel leere Colaflaschen. Ein ähnlicher Fetischismus zeigt sich, wenn Kinder und Jugendliche heute die Namen und Logos bestimmter Marken von Kleidung, Spielzeug und Unterhaltungselektronik imaginativ besetzen. Nicht mehr die besondere sinnliche und praktische Qualität wird zum Status-Symbol, sondern die Marke. Die Ästhetik des abstrakten Zeichens tritt an die Stelle der Ästhetik von Inhalten.
Wenn die materielle Reproduktion, der sinnliche Genuß, die Ästhetik der Dinge selbst und die reale Praxis gesellschaftlich zu unwichtigen Nebenwirkungen herabgestuft werden, dann kann das abgelöste Design als bloßes Bild den entwürdigten Gegenstand fast ganz ersetzen. Nicht umsonst geht die totale Kommerzialisierung mit einer ebenso totalen Medialisierung einher. Die sperrige Wirklichkeit soll verschwinden, damit der Kapitalismus ölig und reibungslos wird. Guy Debord hat diese Tendenz schon frühzeitig als "Gesellschaft des Spektakels" beschrieben. Die Verselbständigung des Design von Waren setzt sich darin fort, daß die simulative Pseudo-Wirklichkeit der Medien reale Erlebnisse und Beziehungen übertrumpft. Die permanente Imagination von Klischees zerstört die unendliche Vielfalt des Realen. In der postmodernen subkulturellen Jugendsprache werden sowohl persönliche Einstellungen als auch tatsächliche Ereignisse als "Film" bezeichnet. Ist die Realität der schlechtere "Film", so ist der "Film" vielleicht die bessere Realität.
Diese Entwicklung des postmodernen Kapitalismus bis zum absurden Verlust des Realitätsbegriffs wäre unmöglich, würde sie nicht ihre Entsprechung in der Form der Subjekte selbst finden. In den 80er Jahren hat sich die historische Tendenz des modernen warenproduzierenden Systems zur Auflösung aller sozialen Bindungen durch einen letzten großen Schub der "Individualisierung" vollendet und radikalisiert. Jeder sein eigener Gott, sein eigener Sklave, sein eigener Trainer und sein eigener Horrorfilm. Auch diese äußerste Zuspitzung der abstrakten Individualität wird von der Ästhetik der Ware erfaßt: jeder sein eigenes Gesamtkunstwerk. Wie sich die Individuen jetzt nicht mehr bloß hinsichtlich ihrer Arbeitskraft, sondern buchstäblich mit Haut und Haar in "Waren auf zwei Beinen" verwandeln, so imaginieren sie sich selber als lebendes Design. Die Welt der Produzenten und Konsumenten von Waren wird zu einer einzigen großen Bühne (oder Mattscheibe) und jeder Mensch zum Schauspieler seiner selbst.
An die Stelle sozialer Beziehungen und Konflikte tritt die "Selbst-Inszenierung" medialer Persönlichkeits-Attrappen, die an der Ästhetisierung ihrer Biographie arbeiten. Sie beziehen alles, was sie sehen und hören, unmittelbar auf sich: Die Welt existiert immer und überall nur deswegen, weil sie Bestandteil "meines" Design ist. Das erinnert verdächtig an die klinischen Symptome der Schizophrenie. Nicht nur Kleidungsstücke und Einrichtungsgegenstände, sondern auch historische Szenarios, ganze Landschaften, die eigene Familie und zuletzt auch der Partner im Bett erscheinen als bloße Requisiten der inszenierten Selbstdarstellung. Sogar das Frühstück zu Hause verwandelt sich in einen Werbespot. Auch die Gesellschaftskritik und der Körper werden zu abgelösten Bildern oder zu bloßem Verpackungsmaterial. In Berlin versammeln sich seit einigen Jahren jeden Sommer hunderttausende von Jugendlichen zur "Loveparade". Dabei handelt es sich nicht nur um eine kommerzialisierte Parodie der früheren politischen Demonstrationen, sondern vor allem auch um eine massenhafte Präsentation von erotischem Design. Aber die konservativen Hüter der Moral erregen sich ganz umsonst angesichts der Inszenierung von bizarren Entblößungen: Diese Jugendlichen sind nicht sexueller als Schaufensterpuppen. Je mehr sich das Design sexualisiert, desto prüder wird das Verhalten. Die reale erotische Aktivität der postmodernen Individuen ist unter den Stand des viktorianischen Zeitalters gefallen.
Es kann nicht ausbleiben, daß die Metamorphose vom Sein zum Design zuletzt auch die Erscheinungen des sozialen und ökonomischen Verfalls, die Krisen und Katastrophen erfaßt. Deshalb ist der Postmodernismus sogar noch in einer Elendsvariante möglich. Wurde in der Vergangenheit die Armut ästhetisiert, so war es immer die Armut der anderen. Die postmodernen lebenden Gesamtkunstwerke dagegen ästhetisieren ihre eigene Armut. Noch der mieseste "McJob" wird zum bedeutungsvollen ästhetischen Sujet, weil kein geringerer als der Selbstdarsteller einer inszenierten Biographie ihn ausübt. Die Gleichgültigkeit des abgelösten Design gegen jeden Inhalt richtet sich so gegen die inszenierenden Subjekte selbst. Natürlich ist diese Ästhetisierung der Krise nicht unendlich fortsetzbar. Irgendwann wird eine Schmerzgrenze überschritten. Aber wie werden sich dann die zum Design ihrer eigenen Warenförmigkeit degradierten Menschen verhalten? Die Ästhetisierung der Gewalt durch den Faschismus hat vielleicht schon das schreckliche Ende der Postmoderne vorweggenommen.