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aus: "junge Welt" - 1.08.95

Robert Kurz

Die Politische Ökonomie des Nachkriegs-Marxismus
Mit dem Tod von Ernest Mandel geht eine Epoche linker Theoriegeschichte zu Ende



Er nannte sich selbst einen "flämischen Internationalisten jüdischer Herkunft". Und damit ist schon vieles gesagt. Aufgewachsen in Antwerpen, stiess Ernest Mandel als Jugendlicher zu einer trotzkistischen Gruppe, wurde von den Nazis verhaftet und nach Deutschland deportiert, wo er das Ende des 2.Weltkriegs im Konzentrationslager erlebte. Der mit dem Namen von Leo Trotzki verbundenen Spielart des Arbeiterbewegungs-Marxismus blieb Mandel nicht nur bis an sein Lebensende treu; er stieg auch zu ihrem führenden Theoretiker auf. Alles, was über den Trotzkismus im allgemeinen gesagt werden kann, gilt auch für Ernest Mandel und seine Theorie im besonderen. Im Unterschied zu einem Betonkopf wie Stalin war der im Machtkampf unterlegene Trotzki ein wirklicher Intellektueller, und so konnte er, unfreiwillig "befreit" von der Bürde der Macht, zum Begründer der theoretisch reflektiertesten Strömung des alten Marxismus werden, die sich in ihrer Theoriebildung weder von den stalinistischen noch von den sozialdemokratischen Parteichefs und ihren bürokratischen Wasserträgern schurigeln liess.

So waren es (neben der mehr philosophisch als politökonomisch ausgerichteten Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos) von den Marxismen der Vergangenheit keineswegs zufällig fast nur Ernest Mandel und seine "4.Internationale", die den jungen Intellektuellen der grossen Bewegung von 1968 eine geniessbare theoretische Zehrung und politökonomische Reflexion anzubieten hatten. Während das wenige, was von den Festmetern staatssozialistischer Karriereproduktion theoretisch brauchbar war, im Westen fast unbekannt blieb, erreichten die Bücher Mandels hohe Auflagen. Seine kleine "Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie" von 1967 wurde zur offiziellen Grundschulungsschrift des "schrecklichen" Sozialistischen Studentenbunds (SDS), und gefiltert durch seine dickleibige "Marxistische Wirtschaftstheorie", die 1968 bei Suhrkamp erschienen war, durch sein im gleichen Jahr bei Rowohlt aufgelegtes Buch über "Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx" und nicht zuletzt seinen begriffsbildenden "Spätkapitalismus" von 1972 (Suhrkamp) "entdeckten" viele 68er überhaupt erst das Marxsche Werk.

Natürlich konnten auch Mandel und die Seinen nicht über den Schatten ihrer Epoche springen, die 1989 für immer zu Ende gegangen ist. Aber Mandel gehörte zu den wenigen altmarxistischen Theoretikern, die das fremdartige, "anstössige" und "esoterische" Moment in der Marxschen Theorie nicht wegoperierten und verdrängten, sondern es aufzunehmen suchten, soweit das im Kontext der alten Arbeiterbewegung und ihres begrifflichen Horizonts überhaupt möglich war. So stösst man in Mandels Büchern auf Schritt und Tritt an die Grenzen jenes verkürzten "positiven" Verständnisses der Politischen Ökonomie und ihrer Marxschen Radikalkritik, wie es für Freund und Feind in den arbeiterbewegten hundert Jahren "Marxismus ohne Marx" gleichermassen bestimmend war.

Es waren vor allem vier Elemente der authentischen, über sich selbst hinausschiessenden Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie, die dem Trotzkismus nicht ganz so unheimlich blieben wie den Staatsgreisen der Parteimarxismen, und die deshalb auch die Texte von Ernest Mandel frischer erscheinen liessen als die staubtrockenen Legitimations-Schinken staatssozialistischer Provenienz. Da war erstens die strikt "antinationale" Grundhaltung" des Trotzkismus, wie sie Mandel auszeichnete; nicht nur theoretisch, sondern auch in seiner buchstäblich "internationalen" Lebenspraxis. Der niemals fehlende Hinweis, dass eine Transformation der Gesellschaft über den Kapitalismus hinaus auf keinen Fall in einem nationalen Rahmen stattfinden könne, hob sich positiv von der Nationalhuberei des preussischen Stechschritt-Marxismus ab. Und im Vergleich mit der sozialwissenschaftlichen Leichenfledderei heutiger Linker, die aus Angst vor der unübersichtlichen weltgeschichtlichen Entwicklung am Ende des 20. Jahrhunderts die halbverweste Nationalidee wieder auszubuddeln beginnen, wirkt Mandels altmarxistischer Antinationalismus immer noch geradezu brandneu und appetitlich.

Da war zweitens des Festhalten an der Idee menschlicher Selbstbestimmung und an der sozialen Emanzipation von sogenannten "ökonomischen Gesetzmässigkeiten". Schon in seinem ersten grossen Hauptwerk über die "marxistische Wirtschaftstheorie" giftete Mandel gegen jenen "Vulgärmarxismus", der die Objektivität ökonomischer Kategorien über die kapitalistische Produktionsweise hinaus verlängern und zum ontologischen Schicksal machen wollte. Zwar blieb Mandels kritische Politökonomie wie der Arbeiterbewegungs-Marxismus überhaupt (und in gewisser Weise auch Marx selbst) der falschen Objektivität des warenproduzierenden Systems durch die "Klassen-Metaphsik" und den Standpunkt der abstrakten "Arbeit" verhaftet; aber sein Affekt gegen die verdinglichte VWL-Logik rüttelte an den Gitterstäben dieses kategorialen Gefängnisses. Dass er aus dieser Haltung heraus dazu neigte, jeden noch so fragwürdigen Ansatz spontaner "Bewegung" hochzustilisieren, war jedenfalls sympathischer als der Vollzug eines sozialistischen Herrschaftswissen durch jene Menschenverwalter und selbsternannten "Gerichtsvollzieher des Weltgeistes", die geradezu danach gierten, sich selbst und alle anderen irgendwelchen "Gesetzmässigkeiten" auszuliefern. Die radikale Kritik dieser Denkweise ist aktueller denn je, auch wenn sie heute mit umgekehrtem Vorzeichen die Menschen den "Gesetzen des Marktes" unterwerfen und sie dazu zwingen will, ihr Leben in Sorge um den "Standort Deutschland" und auf der Suche nach einer Marktlücke zu vergeuden.

Drittens hielt Mandel, wie es sich gehört, stets am Marxschen Theorem vom "tendenziellen Fall der Profitrate", an der beweisbaren Objektivität der kapitalistischen Krise und an der Möglichkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs fest. "Im Gegensatz zu vielen anderen marxistischen Theoretikern", so schrieb er 1967, "glaube ich, dass dieses Sinken der durchschnittlichen Profitrate mit Zahlen bewiesen werden kann". Wie übrigens auch für Rosa Luxemburg waren für ihn die immanente Objektivität der Krise durch den logischen Selbstwiderspruch des Kapitals und die Kritik der ojektivierenden Realkategorien dieses Systems (Warenform, Geld, Rentabilität usw.) im Namen der sozialen Emanzipation kein Gegensatz, sondern die beiden Seiten derselben Medaille. Es ist Mandel nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen worden, dass er seit der Rezession 1966/67 noch jeden Abschwung der stotternden Weltkonjunktur zur grossen Wirtschaftskrise hochgejubelt hat; aber das ist immer noch besser als die umgekehrte krisentheoretische Besinnungslosigkeit, wie sie heute vorherrscht und sogar die wirklichen Krisenerscheinungen des globalen Marktsystems verdrängt oder kleinzureden versucht. Auch wenn das altmarxistische theoretische Raster von Mandel nicht mehr ausreichen wird, die neuen Krisenprozesse am Ende der Moderne zu erfassen, so ist doch die grosse Blamage derjenigen abzusehen, die sich voreilig eingebildet haben, die Marxsche Ökonomiekritik könne verschwinden, ohne dass auch ihr Gegenstand über den Jordan geht.

Viertens schliesslich war Ernest Mandel auch einer der wenigen Theoretiker des Nachkriegs-Marxismus, die an der sonst weitgehend verschütteten Marxschen Auffassung festhielten, dass die Aufhebung des Kapitalismus identisch sei mit der Aufhebung der Warenproduktion und dass im "Sozialismus" demzufolge keine Ware-Geld-Beziehungen mehr existieren könnten. Diese scheinbar utopische Konsequenz, die dennoch logisch aus der Marxschen Kapitalanalyse folgt, konnte bis heute nicht konkretisiert werden; und auch Mandel ist in dieser Hinsicht vage geblieben. Den Denkformen des Arbeiterbewegungs-Marxismus entsprechend konnte er sich eine Aufhebung von Ware und Geld nur auf etatistische Weise ("Arbeiterstaat") vorstellen. Insofern behielt seinen Theorie einen Affinität zum Selbstverständnis des Staatssozialimus, den er in Gestalt des schiefen Konstrukts eines "Übergangs zur Übergangsgesellschaft" als nachkapitalistische Formation zu retten suchte, obwohl er ihm das "sozialistische" Attribut nicht zugestehen mochte. Das reichte aber aus, um den Hass der "realsozialistischen" Legitimationsideologen auf sich zu ziehen. Noch im "Ökonomen-Lexikon" des Ostberliner Dietz-Verlags von 1989 wird Mandel in bewährter Steinzeitpolemik als "pseudolinker" und" pseudomarxistischer Antisozialist" usw. denunziert.

Für den theoretischen Kindergarten der "Kommunistischen Plattform" in der PDS wären die Werke Mandels, die in der DDR nur in den Giftschränken zu finden waren, vielleicht heute noch eine kleine Offenbarung und ein Blick über den eingezäunten Schrebermarxismus hinaus. Für den Rest der Welt aber ist mit dem Tod von Ernest Mandel auch die Theoriegeschichte des Nachkriegs-Marxismus zu Ende gegangen, zu dessen bekanntesten Vertretern er gehörte. Der Strick ist gerissen, und niemand kann ungebrochen dort weitermachen, wo Mandel aufgehört hat. Aber gerade jene Elemente seiner Theorie, die an die Grenzen des alten Marxismus führten, harren ihrer kritischen Aufhebung. Einem Wissenschaftsmilieu, das aus der Marxschen Theorie keine Habilitation mehr herausquetschen kann, mag dieses Problem momentan ebenso uninteressant erscheinen wie einer medientheoretisch verflachten Foucault-Linken, die unter "Kritik der Politischen Ökonomie" nur noch Bahnhof versteht.

Dennoch ist es eine Eigenschaft der kapitalistischen Ökonomie, dass sie sich von Zeit zu Zeit bemerkbar macht. Es könnte sein, dass in der theoretischen Wüste der totalen Marktwirtschaft in nicht allzu ferner Zukunft ein gewisser Wasserbedarf angemeldet wird. Insofern wäre es vielleicht ein Beweis antizyklischen Weitblicks, wenn ein Verlag sich heute entschliessen könnte, eine der legendären "roten" politökonomischen Reihe der alten Europäischen Verlagsanstalt ebenbürtige Serie zu starten; gewiss mit neuen und anderen Ansprüchen, aber ohne die historischen Texte zu vergessen. Eine kritisch kommentierte Auswahl des Werks von Ernest Mandel würde in diese vorläufig noch imaginäre Bibliothek gehören.