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Robert Kurz

Märchen für die Krise

Frank Capras Autobiographie eines grossen Hofnarren

Hollywood, das weiss alle Welt, ist Kitsch, Glamour, technische Perfektion, Sentimentalität, falsche Tränen, falsche Zähne - und ungeheuer erfolgreich, seit mehr als 80 Jahren. Die grandiose Traum-Maschine des Kapitalismus läuft wie ein Uhrwerk und produziert am Fliessband Imaginationen für die Welt; nicht mit dem starren Zwang der Propaganda und ihrer Lügen, sondern mit der verlockenden Macht des Angebots und seiner Lügen. Aber es kann nicht allein das Geld sein, was Hollywood gross gemacht hat. Und es können nicht bloss die technischen Tricks sein, die das Gemüt der Zuschauer immer wieder zum Schmelzen bringen. Die Macht Hollywoods besteht auch keineswegs darin, dass man einer raffinierten Manipulation erliegt, sondern dass man diese im Gegenteil durchschaut und sie trotzdem an sich heranlässt, sich dabei glänzend unterhält und Geld dafür zahlt. Die Macht Hollywoods ist die vielleicht älteste Kunst des Märchens, übersetzt in die Form der "technischen Reproduzierbarkeit" (Walter Benjamin). Aber auch in dieser modernen technologischen Gestalt gibt es kein Märchen ohne Märchenerzähler.

Es sind viele Bücher über Hollywood geschrieben worden, aber nur wenige von seinen grossen Märchenerzählern selbst. Frank Capra machte da eine Ausnahme, und seine Autobiographie ist, wie John Ford meinte, "nicht nur das beste, sondern das einzige Buch, das je über Hollywood geschrieben wurde". Dieses Urteil ist keineswegs übertrieben. Als Capra, schon mehr als siebzig Jahre alt, die nahezu tausend Seiten dieses 1971 erschienenen Opus Magnum herunterschrieb, erzählte er nicht nur sein eigenes Leben, sondern die Geschichte von Hollywood selbst als ein einziges grosses Märchen: "Alles, was wir Filmleute sind, haben und tun, stammt aus dem Film, dem fliegenden Teppich! Ich durfte nach den Fransen dieses fliegenden Teppichs greifen, mich hinaufschwingen und dem Abenteuer entgegenreiten". Dieses Buch enthält alle Stärken und Schwächen von Capras Filmen, und es könnte auch selber als ein "Film" betrachtet werden, der die Probe der Glaubwürdigkeit zu bestehen hat.

Von Anfang bis Ende zeigt Capra unverhüllt alles, was die Untugenden und Peinlichkeiten von Hollywood ausmacht: Er redet grossspurig daher, pflanzt sich auf als Glückspilz und Supermann, nimmt angeberische Posen ein wie ein pubertierender Ghetto-Jüngling. Capra als Napoleon in den Kriegen der Filmindustrie, Capra mit Preisen überschüttet, Capra der Grösste! Gleichzeitig ist er rührselig bis an die Schmerzgrenze (oder darüber hinaus) und verspritzt kiloweise das berühmte "Capra-Schmalz" (Capra-corn), pathetisch wie ein Wanderprediger und römisch-katholisch bis auf die Knochen: "Jemand sollte den Durchschnittsmenschen immer wieder daran erinnern", so moralisiert der salbungsvolle Capra von seiner selbstgebastelten Kanzel herunter, "dass er ein Kind Gottes und gleichberechtigter Erbe der reichen Gaben Gottes ist und dass Güte Reichtum, Freundlichkeit Macht und Freiheit Ruhm bedeutet".

Gäbe es nur dies und sonst nichts, dann wären Capras Filme schlicht ungeniessbar gewesen und seine Mammut-Biographie wäre unlesbar. Aber in den Filmen wie im Buch ist das Tempo atemberaubend, und "die grösste Sünde, die Langeweile" hat keine Chance. Wie ist das möglich? Vielleicht durch eine einzige grosse Tugend, die der Märchenerzähler braucht: eine umwerfende Naivität! Trotz aller Ausgepichtheit und Abgebrühtheit, trotz aller Kniffe und Finten behält Capra, der verschmitzt grinsende kleine Bauernjunge aus Sizilien, stets etwas von einem Simplicius Simplicissimus. Capra bleibt naiv, und deshalb kann er auch ehrlich bleiben wie die Unschuld vom Lande. Kaum hat er in die Trompete seines eigenen Ruhms geblasen, sieht er sich schon selber dastehen "mit der ganzen Gelassenheit eines Mannes, der zum ersten Mal in seinem Leben auf Schlittschuhen steht", und gleich nach dem Triumph kommt stets die Ernüchterung: "Die Wirklichkeit stürzte auf mich wie ein herabfallender Sandsack". Die Ehrlichkeit muss man ihm glauben, selbst wenn sie bloss dazu dienen sollte, die grossen Sprüche besser herauskommen zu lassen.

Capras glaubwürdige Naivität bliebe eindimensional, würde sie nicht auf bizarre Weise aufgehoben durch die fast entgegengesetzten Tugenden von Humor und Selbstironie, deren filmische Technik er als Gag-Man im Studio von Mack Sennet gelernt hatte, wo der Slapstick gepflegt und die fliegende Sahnetorte erfunden wurde. In seinen sozialen Komödien hat Capra, wie er selbst sagt, von den klassischen Gestalten des Dramas "den Helden und den Spassmacher zu einer einzigen Person verschmolzen". Dass dabei er und seine Helden eine ähnliche Funktion wie die "Hofnarren in grauer Vorzeit" erfüllten, war ihm durchaus bewusst: "Diese Narren waren in der Regel Zwerge oder groteske Niemande, die zum Zeichen ihrer Sonderstellung Narrenkostüme...sowie dünne Narrenstöcke (>Slapsticks<) oder luftgefüllte Blasen trugen. Das sarkastische Gerede der Narren würde, so hofften die Könige, als Sicherheitsventil dienen und verhindern, dass der brodelnde Elendskessel des gemeinen Volkes explodierte". Und dennoch glaubt Capra an die befreiende Macht des Lachens: "Im Hinblick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Komödie die völlige Aufgabe der eigenen Abwehr...Wenn jemand überlegen handelt oder wenn man sich vor ihm fürchtet - stellt man seine Stacheln auf. Man wird nicht lachen - weder mit ihm noch über ihn...Diktatoren können nicht lachen. Hitler und Stalin fanden weder sich selbst lustig noch fanden die anderen sie lustig". Wenn etwas von Capra und seinen Märchen bleibt, dann ist es das Lachen. In Deutschland ist Arsenic and Old Lace (1941), ein geniales Verlegenheitswerk, durch das Markenzeichen des "schwarzen Humors" zu seinem bekanntesten Film geworden.

Der dritte grosse Trumpf Capras ist etwas, das man als Genauigkeit oder als Blick für das Einzelne umschreiben könnte. Natürlich hat diese Liebe zum Detail eine technische Dimension. Nicht umsonst war Capra gelernter Naturwissenschaftler und graduierter Ingenieur, befreundet mit dem Astronomen Edwin P. Hubble (dem Entdecker der Rotverschiebung der Galaxien und der Expansion des Universums), Inhaber einiger Patente und Erfinder von diversen Maschinchen; Fähigkeiten, die ihm immer wieder bei seiner Arbeit als Regisseur zustatten kamen. Über das Technische hinaus aber ist es das Gespür für die Farbigkeit einer Situation im wörtlichen und im übertragenen Sinne, die Capra auch in seiner Autobiographie auszeichnet; etwa wenn er, als Mitglied einer Filmdelegation nach Moskau gereist, die riesige Demonstration auf dem Roten Platz am 1. Mai 1937 schildert: "Wir gingen zwischen endlosen Reihen von Rotarmisten, zwischen ganzen Schluchten roter Fahnen und durch Strassensperren von kontrollierenden, stempelnden und filzenden Geheimpolizisten hindurch...Die cholerische Farbe spiegelte sich in den Augen und auf den Gesichtern der Menschen wider und liess die Bajonette aufflammen. Rot war die Stadt, rot die Stimmung...Weit draussen, in den Aussenbezirken der Stadt, endeten die Polizeiketten unvermittelt. Die Sonne ging unter. Vor uns sahen wir eine Staubwolke auf einem offenen Feld. Die vor uns marschierten, traten aus dem Glied und rannten auf die Wolke zu...Und dort, im Schutz dieser düsteren Staubwolke, fand das grösste Massenpinkeln aller Zeiten statt". Eine Szene für einen Capra-Film!

Hier wendet sich die Ironie des Künstlers gegen die Form der Propaganda, gegen den abstrakt-allgemeinen Blick auf die Menschheit, gegen die grossen Kopfgeburten einer gesellschaftlichen Transformation. Sein Blick soll nur dem Individuum gelten, nicht bloss im Sinne politischer Ideale der USA, sondern mehr noch als Methode seiner Kunst selber. Für Capra ist das ein Programm: "Masse ist ein Herdenbegriff - unannehmbar, kränkend, herabsetzend. Wenn ich eine Menschenmenge sehe, dann sehe ich eine Ansammlung freier Individuen: Jeder eine einmalige Person..., jeder in seiner menschlichen Würde eine Insel für sich. Sollen doch die anderen Filme über die grossen Stürme der Geschichte machen, ich würde meine über jenen Burschen drehen, der bei einem solchen Sturm mitbläst. Und wenn dieser Typ ein einziges Bündel von Widersprüchen ist,...dann glaube ich, sein Problem verstehen zu können".

Capra ergreift die Partei des individuellen künstlerischen Sujets gegen die kritische Philosophie, der Erfahrung gegen die Theorie: "Meine Filme werden das Herz nicht mit Logik, sondern mit Mitgefühl ergründen". Wenn man will, kann man darin einen Anklang an Adornos Kritik der "Identitätslogik" erkennen, ein Pochen auf das "Nicht-Identische" an den Menschen, das nicht in den Determinierungen der gesellschaftlichen Struktur und ihrer "Sachzwänge" aufgeht. Aber wenn diese Haltung einseitig und unreflektiert bleibt, sieht man bald den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Für Capra gibt es überhaupt nur die einzelnen Bäume, und darin ist er strikt liberal. Gerade deswegen aber kann der soziale Zusammenhang bei ihm nur als dick aufgetragene Sentimentalität gerettet werden, und die Lösungen müssen unvermittelt aus dem Wunderbaren kommen, gewissermassen durch "Gottes Hand". Das Märchenhafte verliert den Boden unter den Füssen und das "Capra-Schmalz" droht ranzig zu werden.

Was Capra trotzdem gross bleiben lässt, ist sein historischer Ort. Denn mögen seine Märchen auch sentimental verklärt sein, so behalten sie ihre Glaubwürdigkeit als Filme zum Buch der Realität: als Märchen des New Deal und des Antifaschismus. Er konnte mit seiner "Botschaft der Aufmunterung" das Lob des Kapitalismus und gleichzeitig "das Lob der hart arbeitenden Menschen, der Betrogenen, der arm Geborenen, der Geschlagenen" singen, weil es in der Weltwirtschaftskrise eine Art kapitalistische Selbsterkenntnis und mit Franklin Delano Roosevelt die Hoffnung auf eine soziale Erneuerung zu geben schien. Wenn Capra an sich selbst den "American Dream" des Aufstiegs vom armen Einwandererkind zum Millionär erlebte und in seinen naiven Helden spiegelte, so wollte er gerade nicht den Triumph des Geldes und des entfesselten Marktes darstellen, sondern im Gegenteil die soziale Bändigung der kapitalistischen Weltmaschine. Der New Deal, dem er verpflichtet war, eröffnete die Epoche des Keynesianismus und des Deficit spending; und nur in diesem politischen Klima war es Capra möglich, in Filmen wie Mr. Deeds Goes to Town (1937) oder Mr. Smith Goes to Washington (1939) seinen Parzival aus der Provinz durch tiefste Verzweiflung hindurch zum Happy-End eines Sieges über Bosheit und Korruption zu führen. Die Naivität seiner sozialen Märchen war gedeckt durch eine reale gesellschaftliche Kampagne, die noch dreissig Jahre später den deutschen Philosophen Jürgen Habermas glauben liess, der Kapitalismus sei nun grundsätzlich durch den Welfare State zivilisiert.

Auch das Moment des Antifaschismus bei Capra war real und authentisch. In dieser Hinsicht konnte er ebenfalls die Naivität seiner kritischen Affirmation oder affirmativen Kritik glaubwürdig mobilisieren, weil der westliche Kapitalismus wirklich einen grossen Kampf gegen die schlimmste Ausgeburt seiner eigenen Logik führte und deren letzte Konsequenz verhindern wollte. Capra kehrte Hollywood den Rücken und trat freiwillig in die US-Army ein, um seine Fähigkeiten in den Dienst der Anti-Hitler-Koalition zu stellen. Als er Leni Riefenstahls Triumph des Willens gesehen hatte, erkannte er diesen "grauenerregenden Film" als propagandistischen "Geniestreich" mit einer Botschaft "so nackt und brutal wie ein Bleirohr", in der sich der Holocaust ankündigte. Als Gegenpropaganda schuf "Colonel Capra" die Filmserie Why We Fight (1942-45), bei der es ihm darum ging, dokumentarisch "die Filme der Feinde zu benutzen, um ihre versklavenden Ziele deutlich zu machen. Unsere Jungs sollten selbst hören, wie die Nazis und die Japsen brüllend ihren Herrenrassenquatsch verkündeten - und unsere Kämpfer würden begreifen, warum sie in Uniform waren".

Dass nach dem Krieg Capras Karriere nur noch schwach glühte, bleibt ihm auch Jahrzehnte später unbegreiflich. Und es ist merkwürdig, wie seine Autobiographie sprachlich und gedanklich schwächer wird, sobald er sich in der Beschreibung jener Zeit nähert, als dem Märchenerzähler seine Stimme genommen wurde. Plötzlich wird die Naivität schal und der Schwung erlahmt. Parzival hat seine Unschuld verloren. Gegen die Jugendrevolte der 60er Jahre bellt er nur noch als konservativer alter Mann und sieht "haschrauchende, parasitäre Elternhasser", schimpft über "Deviante und Onanierer", zieht in der denunziatorischen Sprache des Vorurteils über "Homosexuelle, Lesbierinnen, Junkies" her und wettert gegen "ein kindisches Paradieren mit kindischen Transparenten" von "rückgratlosen Horden". Aber auch mit sich selbst geht Capra ins Gericht, wenn er den Misserfolg seines letzten Films Pocketful of Miracles (1961) beschreibt: "Für mich war die wirkliche Ursache eine zutiefst persönliche, eine zutiefst moralische: Jemand, der die unglaubliche Macht besitzt, zwei Stunden lang zu Hunderten von Millionen seiner Mitmenschen sprechen zu können, und das im Dunkeln, darf nicht mit gespaltener Zunge reden. Was er sagt, muss direkt aus seinem Herzen und nicht aus seiner Brieftasche kommen".

In Wirklichkeit war die Zeit der kapitalistischen Moral vorbei, weil die historischen Ressourcen des Keynesianismus verbraucht waren. Schon Kennedys Mythos hatte kein reales gesellschaftliches Äquivalent mehr, und Clintons Show heute kann nicht einmal als Karikatur des New Deal gelten. Aber nicht die Personen sind schwächer geworden, sondern die Entwicklung des Kapitalismus hat den persönlichen Helden gegenstandslos gemacht. Aus der postmodernen Kunst insgesamt ist die Sozialkritik verschwunden und die Träne des Sentiments kann nur noch für Tiere oder Ausserirdische quellen. Umgekehrt lässt sich auch das Böse nicht mehr individualisieren: "Der Schurke", so klagt der alte Frank Capra, "begann, sich von einer Person in eine Idee, in einen Geisteszustand oder eine Lebensbedingung zu verwandeln". Oder ebenfalls in einen Ausserirdischen. Der Strukturalismus hat Capra eingeholt. Aber das ist kein Grund zur Freude. Er selber hat es geahnt: Wenn der soziale Kitsch des Hollywood-Glaubens an das persönliche Gute im kapitalistischen Menschen endgültig zur Lächerlichkeit verkommen und bloss noch langweilig oder ein historisches Genrebild geworden ist, dann werden "die Menschenfresser-Masken, die die Kinder an Halloween tragen, die Wirklichkeit enthüllen". Genau so dumm und bösartig wie der entgrenzte Kapitalismus müssen auch seine letzten Märchen sein.