Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Interview mit Robert Kurz

Geführt am 26.07.1994; Interviewer: Volker Hildebrandt.

aus: Volker Hildebrandt
EPOCHENUMBRUCH IN DER MODERNE.
Eine Kontroverse zwischen Robert Kurz und Ulrich Beck.
LIT Verlag, Münster 1996, S. 168, 34.80 DM.

MODERNISIERUNGSKONSENS UND MARXISMUS

Interviewer: Guten Tag Herr Kurz. Ulrich Beck redet davon, daß es einen klassischen Modernisierungskonsens gibt; theorielagerübergreifend gibt es ein bestimmtes Verständnis von Modernisierung. Zu diesem Modernisierungskonsens gehörten die verschiedensten Schulen und Richtungen: Marxismus, Funktionalismus, Systemtheorie bis hin zur Postmoderne. Die allgemeine Frage jetzt an Sie: Glauben Sie auch, daß es einen allgemeinen Grundkonsens gibt, und worüber könnte dieser allgemeine Grundkonsens bestehen?

Interviewer: Der Modernebegriff selber ist relativ neu. Vordem wurde sehr viel von Industriegesellschaft und Kapitalismus geredet. Und selbst diese verschiedenen Begrifflichkeiten subsumieren Sie unter diesen Konsens?

Interviewer: Sie reden von Warenform. Auch der Marxismus hat die Warenform zum Thema gemacht. Der Marxismus hat gesagt, es könnte eine Gesellschaft nach der Moderne oder nach dem Kapitalismus geben. Wie steht der Marxismus zum Grundkonsens?

Interviewer: Sie beziehen sich jetzt ganz konkret auf den Arbeiterbewegungsmarxismus?

Interviewer: Trifft das denn auch auf die kritischen, die sogenannten häretischen Strömungen des Marxismus zu? Diese haben auch ganz konkret die Warenform kritisiert? Kritische Theorie, Lukacs ...

Interviewer: Auch Lukacs?

HERAUSBILDUNGSGESCHICHTE DER MODERNE

Interviewer: Obwohl der Marxismus in seiner Geschichte immer wieder angenommen hat, daß zu seiner jeweiligen Zeit der Kapitalismus an sein Ende geraten ist. Das hatte selbst Lenin gesagt. Vom Fäulnisstadium hatte er gesprochen.

Interviewer: Speziell in der Peripherie.

Interviewer: Diesen Zusammenhang reflektieren ja auch Theorien diskontinuierlicher Entwicklung, die seit den 70er Jahren Konjunktur haben, und deren Kerngedanke ist, daß sich die Modernisierungsgeschichte in grundlegenden Umbruchphasen vollzieht.

Interviewer: Sie reden zu Recht von einem impliziten Konsens, weil die Warenform in der Regel als nicht antastbar gilt und insofern meistens auch gar nicht erst thematisiert wird. Nun ist expliziter Konsens in der Theorienlandschaft, daß Modernisierung gleich Funktionale Differenzierung ist. Sie haben sich dazu sehr wenig geäußert. Wie stehen Sie dazu? Es wird gelegentlich sogar gesagt, daß selbst Marx sich unter diesem Konsens fassen läßt, weil er besonders die Ausdifferenzierung eines Systems, nämlich des Arbeitssystems, herausgehoben hat.

FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG UND ARBEITSGESELLSCHAFT

Interviewer: Adorno könnte mit Verblendungszusammenhang argumentieren.

Interviewer: Die Politik hat das Medium Macht, systemtheoretisch gesprochen.

Interviewer: Aber in diesem Sinne könnte man davon sprechen, daß nicht nur ein impliziter Konsens vorliegt. Denn verfolgt man die Diskussion über die Krise der Arbeit in den 80er Jahren, läßt sich die Übereinstimmung feststellen, daß wir in einer Arbeitsgesellschaft leben. Alle großen Theoretiker der Vergangenheit - nicht nur Marx, der dies ganz offen tut, sondern auch Max Weber und andere - haben hervorgehoben, daß das ökonomische System eine basale Bedeutung hat. Und in den Diskussionen über die Krise der Arbeit ist das dann schließlich in Frage gestellt worden. Trotzdem bleibt nolens volens der (zum Teil auch explizite) Konsens darüber, daß die Moderne eine Arbeitsgesellschaft ist. Es gibt also die Differenz zwischen Arbeitsgesellschaft als explizit gemachter Konsens und Warenform als impliziter Konsens. Oder wie kann man das fassen?

Interviewer: Sie haben jetzt darauf abgehoben, daß die anderen funktionalen Systeme auch finanziert werden müssen. In diesem Sinne besteht ja auch eine ganz klare Abhängigkeit vom ökonomischen System. Im "Geschlechterfetischismus"-Aufsatz reden sie aber davon, daß sich die Funktionale Differenzierung und ihre Genesis aus dem abstrakt allgemeinen Begriff der Warenform ableitet. Wie ist das zu verstehen? Klingt darin mehr als nur eine Finanzierungsfrage? Inwieweit läßt sich die Funktionale Differenzierung ableiten aus dem Warenformbegriff? Oder läßt sie sich überhaupt ableiten?

Und dann aber die Frage der Ausdifferenzierung der Warenform selber. Ich denke, das zentrale Paradigma dabei ist dieser strukturelle Dualismus: diese Aufspaltung von privat und öffentlich, politisch und ökonomisch, von Individuen und Gesellschaft. Man könnte es fast ein strukturelles Spaltungsirresein nennen. Dieser Dualismus geht ja auch mitten durch die Subjekte hindurch. Das ist eigentlich die basale Form dieser Ausdifferenzierung, die sich dann noch weiter binnendifferenziert hat. Und ich denke, das Problem, das dahintersteht - das hat auch Marx schon ansatzweise analysiert -, ist, daß sich die Menschen in einer totalisierten Warengesellschaft in dem paradoxen Zustand einer ungesellschaftlichen Vergesellschaftung befinden. Also auf der einen Seite werden sie zunehmend atomisiert, in ihrer abstrakten Tätigkeit voneinander unabhängig, voneinander getrennt gesetzt - viel mehr als in einer agrarischen traditionellen Gesellschaft. Auf der anderen Seite sind sie aber im Vergleich zu diesen traditionellen Agrargesellschaften viel mehr voneinander abhängig und viel mehr in riesige, arbeitsteilige Zusammenhänge und Distributionen verstrickt. Sie sind das aber in dieser paradox-getrennten Form, nämlich durch die Warenform selber, durch die Verwandlung ihrer Reproduktionstätigkeiten in abstrakte Arbeit. Und jetzt entsteht das Problem, daß die ganzen Rahmenbedingungen, die Art und Weise, wie man miteinander innerhalb dieses Vergesellschaftungsaggregats in Beziehung tritt, einen ungeheuren Regulationsbedarf hervorbringt, der weit über den der vormodernen Gesellschaft hinausgeht, und zwar um so mehr, um so weiter sich dieses paradoxe Vergesellschaftungssystem von Ungesellschaftlichkeit fortentwickelt. Daraus ist überhaupt erst entstanden, was wir Politik nennen oder was der moderne Staat ist. Es gibt einen ungeheuren Regulationsbedarf. Es gibt einen ungeheuren Bedarf an Verständigung, zum Beispiel auch in der Form der Erstarrung in Rechtsnormen (also der Prozeß der Verrechtlichung). Die Verrechtlichung ist auch in vielen theoretischen Ansätzen lang und breit beschrieben worden. Auch völlig korrekt. Ebenso die Notwendigkeit von Rahmenbedingungen (Infrastruktur gehört dazu), die Ausdehnung des Regulationsbedarfs. Die basale Ausdifferenzierung von Ökonomie (also die basale Form der Verwandlung von Arbeit in Geld mit der betriebswirtschaftlichen Rationalität und der Marktvermittlung als daraus folgendem Vermittlungsmoment) setzt also als andere Seite bzw. als ausdifferenzierte Gegensphäre das politisch-staatliche System und seinen Regulationsprozeß, den Verrechtlichungsprozeß voraus. Aus dieser basalen Ausdifferenzierung kommen auch alle anderen Binnendifferenzierungen.

Interviewer: Aber das hängt ja auch damit zusammen, daß sich die Gesellschaft auf einem sehr hohen Entwicklungsniveau befindet, und von daher gibt es natürlich auch verschiedene Aggregate. Ist es wirklich vorstellbar, daß die verschiedenen funktionalen Systeme durch eine Person gehen können? Kann Funktionale Differenzierung soweit aufhebbar sein? Das ist bei diesem hohen Gesellschaftsniveau eine wichtige Frage: Kann wirklich eine Person das leisten, was jetzt verschiedenen Sphären leisten?

MODERNE, ARBEIT UND WERT

Interviewer: Ich möchte gerne noch einmal zu den Begriffen zurückkehren. Ulrich Beck spricht von der Industriegesellschaft und gleichzeitig von der Moderne. Dabei betont er, daß man diese Begriffe jedoch nicht automatisch gleichsetzen darf. Die Verschmelzung von Industriegesellschaft und Moderne sei nur historisch gewesen. Denn die Moderne - im Gegensatz zur Industriegesellschaft - habe einen universalen Gehalt und sei quasi ein normatives Projekt. Diese Betrachtungsweise ist immer wieder bei dem Modernebegriff zentral gewesen: einerseits Moderne als ein mehrdimensionaler Begriff, andererseits dieser normative Gehalt. Sie haben nun selber auch eine Begriffsentwicklung vollzogen. In den 80er Jahren haben Sie zum großen Teil nur von Kapitalismus geredet. Ein sehr ökonomisch orientierter Begriff, der auch von Marx stammt. Sie haben sich aber in den 90er Jahren immer mehr davon abgewandt und sich dem Modernisierungsbegriff zugewandt. Am deutlichsten ist das in dem Titel "Kollaps der Modernisierung". Ansonsten reden Sie auch immer mehr von Moderne und Modernisierung. Wie erklärt sich das vor dem Hintergrund dieser Verwendung des Modernebegriffs? Auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Kritik: Sie hatten ja am Anfang des Interviews den Modernebegriff selber kritisiert. Wie erklärt sich, daß Sie sich immer mehr vom Kapitalismusbegriff abgewandt haben und den Modernebegriff benutzen?

Interviewer: Hat das vielleicht auch etwas zu tun mit Ihrer Entwicklung von der Wertkritik hin zu einer grundlegenden Arbeitskritik? Sie haben in den 80er Jahren noch die Arbeit gewissermaßen verteidigt. Sie haben in "Herrschaft der toten Dinge"(MK 2 u. 3) noch davon gesprochen, der Inhalt der Arbeit müsse befreit werden von seiner Wertform. Das hat sich dann in den 90er Jahren grundlegend geändert. Hängt das damit zusammen?

Interviewer: Wie ist denn überhaupt das Verhältnis - vor dem Hintergrund dieser Theorieentwicklung - von Arbeit und Wertform? Also das, was sie in dem Aufsatz "Die logische Unmöglichkeit eines Produzentensozialismus" als Position formuliert haben, haben Sie an der Arbeit entwickelt, währenddessen Sie sich vorher im Grunde genommen eher auf den Wert fixiert hatten. Wie kann man das Verhältnis zwischen Arbeit und Wert fassen? Gibt es da jetzt Wandlungen?

Interviewer: Sie haben vorhin davon gesprochen, daß Arbeit eine Erscheinungsform ist. In der klassischen Marxschen Dialektik wiederum stellt es sich so dar, daß Arbeit auch gleichzeitig Inhalt ist. Ist also Arbeit - in Ihrem Verständnis - kein Inhalt? Oder was ist überhaupt der Inhalt der gesellschaftlichen Formbestimmung? Sie halten ja selber an der Dialektik fest oder nicht?

Interviewer: Sie machen also nicht eine Trennung zwischen Lohnarbeit, Wert und Geld, sondern betrachten diese Bestimmungen auf einer Linie?

Interviewer: Also nicht unabhängig voneinander zu denken.

Interviewer: Der Wert als Syntheseprinzip?

Interviewer: Der Wert ist nur eine bewußtlose Bewußtseinsform, wie sie an einer Stelle schreiben.

Interviewer: Erklärt sich aus diesem Totalitätsdenken der Umstand, daß Sie für das "Subjekt" mal den Terminus Arbeitsmonade und ein anderes Mal den Ausdruck der Geldmonade benutzen? Sie verwenden diese Termini ja auch synonym.

KRISENPROZEß

Interviewer: Ihre krisentheoretischen Überlegungen haben Sie in Ihrem Aufsatz "Die Krise des Tauschwerts" von 1986 entfaltet. Dort haben Sie noch an einem jetzt für Sie überholten Arbeitsbegriff gehangen. Jedoch haben Sie seitdem keine krisentheoretische Aufsätze mehr geschrieben, die in vergleichbarer Weise das Thema der Krise generell angingen. Hat dieser Wandel hin zu einer radikalisierten Arbeitskritik nicht irgendwelche Auswirkungen auf die Krisentheorie?

Interviewer: Was heißt obsolet? In dem "Manifest" haben Sie geschrieben: Was zusammenbrechen kann, ist nur die stofflich-sinnliche Reproduktion in den alten Verkehrsformen, aber die Verkehrsformen selber, die der Wert herausgesetzt hat, können nur bewußt aufgehoben werden.

Interviewer: Das kann so aber nicht richtig sein, weil Sie zugleich schreiben (unter Verkehrsformen des Wertes fassen Sie ja Geld, Recht, Staat), daß sich auch das Geld selber in der Krise befindet. Also nicht nur die stofflich-sinnliche Reproduktion bricht zusammen, sondern auch die Verkehrsformen brechen gewissermaßen automatisch zusammen.

Interviewer: Aber ist es nicht enthistorisierend, wenn man sagt, daß sich die Subjektform von allein erhalten kann, sich quasi objektiv selbst reproduzieren kann? Muß nicht vielmehr auch die Subjektform gebrochen sein, wenn - wovon Sie ja auch ausgehen - die inhaltliche Grundlage derselben verschwunden ist.

Interviewer: Aber dann könnte doch auch die Subjektform zusammenbrechen. Sie muß ja nicht gleich automatisch zur Transzendenz führen, aber sie könnte ...

Interviewer: Sie reden vom Widerspruch zwischen den unmittelbaren gesamtgesellschaftlichen Produktionsaggregaten und den wertförmigen Verkehrsformen. Spiegelt dieser Widerspruch sich nicht in den Individuen, in den Subjekten selber wieder?

Interviewer: Im "Kollaps der Modernisierung" reden Sie betreffs der inhaltlich-stofflichen Seite vom Kommunismus der Sachen. Kann man das denn auch auf die Individuen beziehen? Beispielsweise auf das Qualifikationsniveau etwa in dem Sinne, daß sich der Überblick über die Gesamtgesellschaft auch in den Individuen selber spiegelt. Oder ist der Kommunismus der Sachen bloß ein technologischer Ausdruck?

Interviewer: Die USA sind doch eines der prosperierenden Länder, gerade in den letzten Jahren.

Interviewer: Allerdings haben ja immer weniger Menschen an diesem Qualifikationsniveau teil. Es ist eine immer kleinere Gruppe: auch in der Bundesrepublik, in Japan und in Westeuropa. Zudem steht die Qualifikationsverteilung im Spannungsverhältnis dazu, daß wir eine Weltgesellschaft haben, und von daher stellt sich die Frage, ob es Lösungswege für eine Weltgesellschaft geben kann?

Interviewer: Das wäre schon ein Ausdruck des Zusammenbruchs. Könnte man das sagen?

Interviewer: Und andererseits ist das natürlich eine Verminderung von Aufhebungspotentialen.

REFLEXIVITÄT, REFLEXION

Interviewer: Ulrich Beck spricht davon, daß der Epochenumbruch gekennzeichnet ist durch Reflexivität. Sie selber sagen, daß die Moderne ein reflexiver Gesellschaftstypus ist, weil die Verwandlung von lebendiger in tote Arbeit eine tautologische Selbstreflexion ist und damit ein selbstreflexives Verhältnis darstellt. Von daher ist zu fragen, ob nicht die Endkrise auch unter dem Reflexivitätsbegriff zu fassen ist. Im Zusammenbruch kommt also dieser reflexive Gesellschaftstypus endgültig zu sich, was sich unter anderem darin ausdrückt - das spielt bei Ihnen auch eine wichtige Rolle -, daß wir erst heutzutage eine weltgesellschaftliche Reflexivität im Sinne einer kapitalistischen Weltgesellschaft haben. Und ebenso existiert Ihrer Meinung nach erst heutzutage (der Begriff der Reflexivität ist auch immer nahe dem der Reflexion) die Möglichkeit, daß der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang reflektiert wird. Eine Reflexion des Gesamtzusammenhanges durch kommunistische Vergesellschaftungspotentiale. Ist also in dem angesprochenen Sinne der Reflexivitätsbegriff auch für Ihre Theorie nützlich zur Kennzeichnung des Epochenumbruchs?

Zum Beispiel die Begriffe der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: also die berühmte Parole der französischen Revolution oder Demokratie bzw. Demokratisierung. Ich denke, daß das alles Systembegriffe dieser Bewußtlosigkeit sind. In dem Begriff der Demokratie zum Beispiel ist schon begrifflich, der Wortbedeutung nach der Begriff der Herrschaft enthalten. Selbstbeherrschung heißt ja nicht unbedingt, mit kritischer Selbstreflexion die Natur und sich selber nach Kriterien sinnlicher Vernunft wahrzunehmen, sondern es kann auch heißen, sich selbst im protestantischen Sinne zu knuten, sich selbst freiwillig der Knechtschaft der totalen Geldform zu unterwerfen. Das ist für mich letztendlich der Prozeß der Demokratisierung. Gleichheit ebenso. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz ist letztendlich die Gleichheit, die sich durch die gemeinsame, unterschiedslose Unterwerfung unter die volonté générale der totalen Warenform herstellt. Das ist eigentlich der Inhalt. Bei Brüderlichkeit wiederum fällt die Schwesterlichkeit weg. Also selbst dieses Postulat ist noch von der Fetisch-Konstitution des Systems gedacht. So daß ich letztendlich der Meinung bin, daß diese Begriffe im Grunde genommen nichts anderes hergeben, als die bewußtlose Selbstbezüglichkeit des Systems in eine idealisierte Normativität zu verwandeln.

Die Aufklärung hat nun von Anfang an die eigene Vergesellschaftungsform, in die man damals erst langsam hineingekommen ist, zum "Ende der Geschichte" oder zu der einzig denkbaren menschlichen Gesellschaft schlechthin erklärt. Es muß dagegen durchbrochen werden, den eigenen Zustand mit Vernunft schlechthin gleichzusetzen und den Anspruch der kritischen Selbstreflexivität ausgerechnet mit den Kategorien dieser neuen Form von Bewußtlosigkeit darzustellen. Das sind natürlich Tabubereiche. Wenn ich sage, Demokratiekritik ist angesagt, wird mir jeder Modernisierungstheoretiker in dem bisherigen Sinne, einschließlich Beck oder Habermas, natürlich sofort sagen: Was, willst du zum totalitären Staat? Damit wird der historische Prozeß gar nicht auf den Begriff gebracht. Für mich hingegen ist dieser totalitäre Staat ein Durchsetzungsstadium der Demokratie selber. Das könnte man im historischen Prozeß gut zeigen. Gestützt durchaus auch auf einige Modernisierungstheoretiker wie Dahrendorf zum Beispiel, die diesen Zusammenhang ansatzweise gesehen haben, wenn auch selber affirmativ zurechtgebogen. Aber wenn man an diesem Punkt angelangt ist, dann kann man mit den Begriffen einer abstrakten, aufklärerischen Normativität, die sich - in ihrer idealen Überhöhung - für Normativität und kritische Reflexivität überhaupt hält, nichts mehr anfangen.

Dann stellt sich die Frage zunächst bescheidener: Wie kommen wir aus der Krise heraus und wie gelingt es uns, in menschlich erträglichen Reproduktionsformen die Dinge dieser Welt (den Menschen selber darin eingeschlossen) nach Kriterien einer zu entwickelnden sinnlichen Vernunft zu behandeln? Somit bescheidener, insofern es ansteht, nach dem Gegenstand selber zu verfahren und nicht nach einer von außen her an ihn angetragene abstrakte Methode, deren Urpunkt letztlich die Geldlogik ist. Aber auch unbescheiden gilt es, kritischer gegenüber dieser bewußtlosen Fetisch-Konstitution selber zu sein. Die große Schwierigkeit ist dabei, Tabubereiche zu durchbrechen, diese überhaupt anzusprechen. Freiheit, Gleichheit, Demokratie sind schließlich alles hochtabuisierte Begriffe. Ungefähr so wie etwa vor 100 oder 150 Jahren der Begriff der Demokratie selber sozusagen die Obszönität schlechthin war für die damals herrschende Bewußtseinsform, wäre heute wahrscheinlich eine veränderte Begrifflichkeit und ein korrelierendes praktisches Handlungsinstrumentarium für Theoretiker und Systemrepräsentanten - die mit aller Gewalt nichts weiter wollen, als die Moderne in ihren Basiskategorien irgendwie weiterzuverlängern - genauso obszön oder unerträglich. Aber, ich denke, daran führt kein Weg vorbei.

Interviewer: Um noch einmal auf den Reflexivitätsbegriff (unabhängig von dem Revolutionsbegriff) zu sprechen zu kommen die Frage: Inwieweit ist es wichtig für den Zusammenbruch, daß wir heutzutage in einer durchgesetzten warenproduzierenden Welt leben? Inwieweit ist dieses Moment von Reflexivität für die Krisendynamik entscheidend? Das Hauptargument von Ihrer Zusammenbruchstheorie ist ja dagegen die immanente Produktivkraftentwicklung, also das Umkippen des Verhältnisses zwischen variablem und konstantem Kapital. Jedoch läßt sich in Ihren Schriften auch die Pointierung der weltgesellschaftlichen Dimension feststellen, denn Sie heben die für die Krise eminente Bedeutung des Versagens des Kompensationsmechanismus (die Möglichkeit, neue Märkte erobern zu können) hervor.

Aber der Zusammenhang besteht genau darin, daß die Produktivkräfte (Mikroelektronik, Computerisierung, Automatisierung und gleichzeitig aber Verwissenschaftlichung, Ausweitung der infrastrukturellen Aggregate, Tertiarisierungsprozeße), die diese Internationalisierung herstellen, auch die kapitalistische Arbeit obsolet machen. Diese ist erstmalig in der kapitalistischen Geschichte einem Schrumpfungsprozeß unterworfen. Der Prozeß der Globalisierung ist nicht beendet. Wir sind mitten drin. Es erscheint so etwas wie das, was mit dem Kürzel der one world benannt wird. Der Weltmarkt ist also nicht mehr eine sekundäre Sphäre der in sich kohärenten Nationalökonomien, sondern ein unmittelbares Bezugssystem der sogenannten Wirtschaftssubjekte. Damit wird die Politik ausgehebelt. Die staatliche Sphäre wird im Grunde in ihrer Handlungsfähigkeit begrenzt. Der Staat wird zur Geisel der Standortfrage und der Finanzmärkte, die sich mit den nationalökonomischen Kontrollinstrumenten nicht mehr beherrschen lassen.

Und das heißt letztendlich, es entsteht auf der einen Seite eine gleichsam Übervergesellschaftung mit riesigen interkontinentalen Reproduktionen und Distributionen. Zum Teil auch in einer absolut aberwitzigen Weise, die vom Stofflich-Inhaltlichen her überhaupt nicht notwendig wäre. Und auf der anderen Seite ist es gleichzeitig eine eigene Ebene der Krise. Man könnte ironisch sagen: In dem Maße, wie das Kapital seinem Begriff entspricht (sich wirklich als globales Gesamtsystem hergestellt und das kapitalisierte Geld sich damit über die nationalökonomischen Beschränkungen hinaus entwickelt hat), stößt es auch an seine absolute Grenze. Das Identischwerden mit seinem Begriff ist sozusagen auch das Ende seiner Möglichkeit.

Inwieweit diese Entwicklung nun positiv zu wenden ist, wage ich nicht vorwegzunehmen. Denn ich denke, daß einerseits damit sicher auch Möglichkeiten geschaffen worden sind, die bei einer Aufhebung wahrgenommen werden können. Andererseits sind aber auch Unstimmigkeiten entstanden. Man nehme beispielsweise diesen Bananenstreit. Oder die kontinentale Distribution der Tomaten, mit der man ungeheure Umweltschäden in Kauf nimmt. Oder der in den Nordländern zu beobachtende Konsum von Fleisch in ungesunden Übermengen, so daß die halbe Welt nichts zu essen hat, nur damit unsere Rinder gefüttert werden. All diese Zusammenhänge gehören zu dem Prozeß der Totalisierung. Ich denke, es wäre hier unter dem Aspekt einer Aufhebungsbewegung, die so etwas wie sinnliche Vernunft entwickelt, auch eine Diversifikation nach sinnlichen Inhalten von zentraler Bedeutung. Will sagen: Auf bestimmten Ebenen kann man diese Globalisierung als sinnvoll erkennen und auch im Prozeß einer Aufhebungsbewegung anwenden; auf anderen Ebenen muß die Unsinnigkeit bestimmter Globalisierungsformen zugegeben und deren baldige Beendigung angegangen werden. Das Ziel muß heißen: dem Gegenstand, dem sinnlichen Inhalt adäquat zu handeln. Ich denke, daß man hier kein allgemeines Prinzip mehr aufstellen kann. Entweder die totale Globalgesellschaft oder wieder der abgeschottete Nationalstaat (oder gar Autarkiephantasien von einer abgeschotteten Region). Heutzutage gehen all diese Überlegungen kunterbunt durcheinander, und in irgendeiner Weise versucht man, sich an ein allgemeines Prinzip zu klammern. Ich denke, das ist unsinnig. Es gibt eben diese verschiedenen Ebenen, und die Frage wäre so zu diversifizieren, daß sie jeweils dem sinnlichen Inhalt adäquat gestellt ist. Aber diese Kriterien einer sinnlich-konkreten Vernunft haben wir momentan nicht.

ARBEITSTEILUNG, SPHÄRENTRENNUNG

Interviewer: Jetzt ein anderer Bereich: Was auffällt ist, daß Sie sich in letzter Zeit in der Auseinandersetzung auch für die Systemtheorie geöffnet haben, und dementsprechend ändert sich zum Teil auch Ihr eigenes Vokabular. Sie haben 1987 noch von der Aufhebung der Arbeitsteilung als Perspektive der Aufhebung der Warenform gesprochen. Das tun Sie mittlerweile nicht mehr, vielmehr reden Sie von der Aufhebung der Sphärentrennung. Wie läßt sich das erklären?

Eine andere Seite ist die Aufhebung - das halte ich für wichtiger - dieser Trennung in Funktionssphären. Denn wenn wir von Arbeitsteilung sprechen, meinen wir - gerade auch unter dem Eindruck der systemtheoretischen und strukturalistischen Untersuchungen - gar nicht mehr Arbeitsteilung im Sinne der unmittelbaren Reproduktionsprozesse (also Herstellung in den drei Sektoren: primärer, sekundärer, tertiärer Sektor), sondern damit sind mittlerweile sämtliche ausdifferenzierten Sphärentätigkeiten gemeint. Und in dem Sinne der Aufhebung dieser funktionalistischen Sphärentrennung, die ja funktionalistisch immer im Sinne dieser Logik des Geldes ist, habe ich die Aufhebung von Arbeitsteilung im Auge. Das, denke ich, ist der entscheidende Punkt. Und dazu kommt dann noch die Aufhebung dieser Trennung in die geschlechtlichen Sphären, also die Abspaltung der nicht warenförmig erfaßbaren Bereiche in die Weiblichkeitssektoren. Aufzuheben wäre somit die geschlechtsspezifische Abspaltung und gleichzeitig die funktionalistische Sphärentrennung.

Im Grunde ergibt sich daraus das Problem, für das es einen alten und, wie ich denke, auch weiterhin zutreffenden Ausdruck gibt: Selbstverwaltung. Selbstverwaltung nicht in diesem engen, reduzierten Sinne, wie es auch verwendet wird, sondern Selbstverwaltung in einem umfassenden gesellschaftlichen Sinne. Will sagen: Daß jeder Mensch unmittelbar an der gesellschaftlichen Reproduktionstätigkeit beteiligt ist und dabei über das "Wofür" sowie das "Wozu" der gemeinschaftlichen Angelegenheiten bestimmt. Damit stellt sich auch die Frage der Aufhebung der Politik als einer getrennten Sphäre. Nun war dieser Selbstverwaltungsgedanke nie völlig auszurotten. Insofern kann man hier, denke ich, auch an einem Empfinden anknüpfen, das nie (auch nicht unter dem Diktat der Systemfunktionalität) vollständig ausgelöscht werden konnte. Das wäre positiv aufzugreifen. Jedoch gilt es - auch in Form von Begriffsanstrengung - den Selbstverwaltungsgedanken auszuweiten: weg von dieser verengten Vorstellungswelt, in der man sich bloß innerhalb der totalen Warenform selbstverwaltet. Beispielhaft dafür ist die Alternativbewegung mit der Vorstellung, Selbstverwaltung verwirklichen zu können in Betrieben, die an der allgemeinen Warenproduktion und Geldverdienerei teilnehmen. Das ist natürlich gescheitert, denn die funktionalistische Sphärentrennung und damit auch die Ausdifferenzierung bis in den Betrieb hinein ist mit der Geldform als solcher gesetzt.

Interviewer: Das verweist auf einen wichtigen Punkt. Ulrich Beck hat verschiedenen Phänomene wie die Ökologiebewegung und den Feminismus unter den Begriff Entschmelzung von System und Lebenswelt gefaßt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die Menschen nicht mehr bloß adaptive Funktionsträger der Systeme sind, sondern auch kritisch werden. Immer mehr Menschen entwickeln einen kritischen Bezug zu dem ökonomischen und den anderen Systemen. In diesem Zusammenhang wird auch von soziokulturellen Umbrüchen gesprochen. Wie sind diese soziokulturellen Umbrüche in der jüngsten Vergangenheit zu bewerten? Sind sie ein Ausdruck der Krise?

AUFHEBUNGSPOTENTIALE

Aber was jetzt unter dem erweiterten Krisendruck ansteht, ist die Aufarbeitung dieser Erfahrung. Das geschieht noch nicht oder kaum, denn dazwischen lag der Kasinokapitalismus. Also diese Reagonomics-Thatcherism-Ära, der Spekulationsboom, dieses Strohfeuer, diese Scheinprosperität. Statt ihre Mißerfolge und ihr Scheitern im ersten Anlauf zu verarbeiten, haben sich in dieser Zeit auch die Linken und Alternativen mit dem Aktenköfferchen auf dem Marktwirtschaftstrip wiedergefunden. Dies wurde dann noch verstärkt durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus, der meiner Ansicht nach völlig falsch interpretiert worden ist: als Scheitern der Alternative. Diese Fehlinterpretation nahmen merkwürdigerweise zum Teil Leute vor, die nie etwas mit dem Staatssozialismus zu tun und diesen als Linke sogar kritisiert hatten. Und jetzt zeigt sich immer deutlicher, daß dieser Marktwirtschaftstrip wirklich ein Horrortrip ist, den man nicht durchhalten kann und dessen Versprechungen sich für die Allermeisten als Schaum enthüllt. Ich denke, daß in den nächsten Jahren auch neue Bewegungsabläufe kommen werden.

Interviewer: Heißt das, daß sich eine Krisentheorie, die gerade die Aufhebungspotentiale im Blick haben möchte, verstärkt der Lebenswelt zuwenden muß?

SYSTEM UND LEBENSWELT

Interviewer: Kann man denn überhaupt System und Lebenswelt gegeneinander stellen? Letztendlich sind es ja die Systeme, die die Lebenswelt der Individuen prägen.

Aber jetzt kommen die Widersprüche in dem Sinne zum Tragen, daß sich im Prozeß der Krise so etwas wie Lebenswelt wieder neu konstituiert. Dies geschieht zwar auch wieder negativ, aber in einer neuen Weise, nämlich jetzt als Leiderfahrung: Man kommt mit den Systemerfahrungen nicht mehr zurecht, weil der Systemprozeß nicht mehr gelingt. Solange man eben zur Arbeit gehen kann, sein Geld verdient, seine Freizeit und seinen Spaß hat, scheint alles zu funktionieren, gleichwohl dabei vielleicht die Umwelt zerstört wird. Jetzt kommen aber die Einbrüche von allen Ebenen her: Die Umweltzerstörung ist weit fortgeschritten und die basale Verwandlung von Arbeit in Geld gelingt nicht mehr, was immer mehr Leute erleben. Damit sind ja nicht nur diese Grundprozesse angesprochen, sondern gleichzeitig auch sehr subtile sozialpsychologische Prozesse, die die Form von Auflösungsprozessen annehmen. Dazu gehören auch Erscheinungen wie die Punks am Bahnhof, die Bettler, die Kinder, die auf der Straße leben, und die Mitglieder irgendwelcher Jugendcliquen und Banden. Es gibt tausend Erscheinungsformen der Krise. Genauso zähle ich auch dazu Leute, die in den Slums (diesen verbrannten Gebieten der Marktwirtschaft) so etwas wie die people economy versuchen. Das alles sind Formen von negativer wie positiver Rekonstitution von Lebenswelt unter dem Krisenprozeß. Es geht also darum aufzuzeigen, wie Menschen auf die Unhaltbarkeit der Totalisierung des Systemprozesses reagieren und dabei vielleicht auf neue Weise so etwas wie eine Konstitution von Lebenswelt bewerkstelligen. Die Reaktion kann auch barbarisch sein, sie kann auch die Form von Bandenkriegen annehmen. Aber auch ein Bandenkrieg ist nicht mehr unbedingt direkt systemfunktional.

Interviewer: In diesem Zusammenhang haben Sie auch schon von der Aufhebung des alten fordistischen Sozialsystems gesprochen. Creydt hatte Ihnen daraufhin - in einem Artikel - vorgeworfen, daß Sie Becks Individualisierungstheorie auf eine Revolutionstheorie zurechtstutzen. Bis zu einem gewissen Grad beziehen Sie sich nun sicherlich auch auf Beck und andere Theorien, die diese Individualisierung hervorheben. Inwieweit bilden diese Individualisierungstheorien wirklich elementare Voraussetzungen der Krisenwirklichkeit ab, damit die Systemwidersprüche sich auch in eine systemtranszendierende Kraft verwandeln?

INDIVIDUALISIERUNG

Ich weise jedoch zurück, daß ich versuche, die Becksche Individualisierungsthese revolutionstheoretisch zu wenden. Wie soll man das auch unmittelbar machen? Das Individualisierungstheorem ist insofern von Bedeutung, daß es zunächst eine schlichte Faktizität ist. Wir erleben nun einmal den Prozeß der Individualisierung. Die Individualisierung findet dabei in der totalen Warenform und durch die Warenform statt. Der Klassenkampf, der meines Erachtens Speerspitze der Modernisierung innerhalb der Warenform gewesen ist, verfällt natürlich in dem Maße, wie er sein Ziel erreicht: alle Menschen in die Warenform einzubinden, beispielsweise als vollgültige Rechtssubjekte. Und dann setzt bei weiterer Ausdifferenzierung natürlich der Individualisierungsprozeß ein. In seinen negativen Erscheinungen ist er erst einmal Monadisierung, so weitgehend, daß alle Menschen durch Glaswände voneinander getrennt erscheinen. Die Ausbreitung von singles ist für mich - zumindest tendenziell - die abstrakte Individualität an ihr Ende getrieben. Wirklich aushalten kann diese Monadisierung kein Mensch. Dementsprechend erleben wir ja, wie Beck übrigens auch zeigt, einen durchaus fluktuierenden Prozeß. Dies kommt zum Tragen durch den schönen Begriff der seriellen Monogamie, mit dem der Wechsel der Lebensformen ausgedrückt werden soll: Single-Dasein, dann wieder Paar-Beziehung, darauf Wohngemeinschaft usw. Diese bestimmte Lebensweise ist unhaltbar in der Form selber, was noch nicht genügend im Blickfeld ist.

Aber im positiven Sinne bedeutet diese Individualisierung die Abkehr von dem selber noch vom Modernisierungsprozeß konstituierten Kollektivbewußtsein, was nichts anderes ist als fetischistisches Gruppenbewußtsein und protestantisches Pflichtbewußtsein. All diese Unterwerfung unter eine Pflichtzumutung (ob sie sich nun qua Klasse oder qua Partei vollzieht) ist selber noch Teil dieses Modernisierungsprozesses und ein unabhängig vom eigenen Bewußtsein konstituierter, formbestimmter Zusammenhang. Die Individualisierung ist Voraussetzung, diese alten Formen von Zusammenschluß, die auch in den oppositionellen Bewegungen der Vergangenheit anzutreffen waren, zu überwinden. Positiver formuliert: Wenn sich individualisierte Menschen unter dem Kriseneindruck zusammenschließen, kann das nicht mehr geschehen unter einem vorausgesetzten Pflichtzumutungsbewußtsein, sondern nur noch unter einem kritischen Bewußtsein im Hinblick auf sinnliche Vernunft. Beispiele dafür sind Phänomene wie die Ökologiebewegung und zum Teil der Feminismus (auch wenn sich inzwischen dieser in einigen Teilen allmählich vermarktwirtschaftlicht). Dazu gehören auch viele Ein-Punkt-Bewegungen der 80er Jahre. Es entstehen also freiwillige Zusammenschlüsse von Individuen, die nicht mehr direkt von einer konstituierten Subjektivität ausgehen. Will sagen, daß die Individuen sich nicht als Klasse (als etwas, was sie an sich sind, wie das in der Hegelschen Terminologie so schön heißt) konstituieren, sondern Zusammenschlüsse rein aus dem Bewußtsein der Menschen gegenüber den Systemzumutungen oder den Krisenprozessen resultieren. Der Prozeß läuft auf eine neuartige Form von (wie man sagen könnte) organisierter Individualität hinaus, die sich jetzt gegen den Konstitutionszusammenhang in seinen negativen Aspekten wendet.

Aber die Individualisierung kann auch zu weit getrieben werden. Es existiert ja nicht nur die Möglichkeit, daß der freiwillige, bewußte Zusammenschluß organisierter Individualität gegenüber Krisen und Systemzumutungen entsteht, sondern es kann auch Abträgliches resultieren: das Infantilwerden, das Lächerlichwerden, die Unernsthaftigkeit, das Durchdrehen, die Überindividualisierten, die zu gar keinem Zusammenschluß mehr fähig sind (noch nicht einmal zu einem geschlechtlichen). Ein Zustand, in dem alles in allem eigentlich gar nichts mehr geht. Ich fürchte, daß zumindest ansatzweise dieses Überschreiten der Individualisierungsschranke in unserer Gesellschaft schon stattgefunden hat. Insofern wäre, so paradox es auf den ersten Blick klingen mag, die Art und Weise wie im Osten, in Osteuropa, in Ostdeutschland die Systemkrise erlebt wird vielleicht ein Korrektiv. Ein Korrektiv, insofern (das ist alles noch nicht ausgegoren) zumindest die Überindividualisierung dort nicht mitgemacht wurde. Man kann jetzt natürlich sagen: Sie haben noch zu wenig Individualisierung, sie stehen noch unter diesem Pflichtzumutungszusammenhang. Der ist jedoch zum großen Teil weggeblasen und die Menschen stehen jetzt sozusagen im Regen. Nun habe ich selber schon die Erfahrung gemacht, daß Leute aus dem Osten auch mit einem unglaublichen Staunen vor dem Individualitätsschwachsinn des Westens stehen. Sie können gar nicht glauben, wie man so verrückt sein kann. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise ist die Ungleichzeitigkeit. Und wo jetzt diese Barriere der getrennten Systeme weggerissen worden ist, kommt diese Ungleichzeitigkeit zu seltsamen Mischungsformen. Der Vereinigungsprozeß und die historische Aufarbeitung der DDR bzw. des Staatssozialismus ließen sich nun der Möglichkeit nach auch kritisch wenden. Eine kritische Betrachtung des westlichen Prozesses der Individualisierung sollte dabei nicht vom Standpunkt der DDR-Vorvergangenheit, sondern vom Standpunkt der jetzigen Möglichkeiten aus formuliert werden. Es wäre die Frage zu stellen, wo sind die Umschlagspunkte.

Interviewer: In "Honeckers Rache" gehen Sie noch sehr kritisch mit der gesellschaftlichen Verfasstheit der Ostgesellschaften ins Gericht. Sie sprechen von dem Fortwirken der preußischen Kasernentradition.

Interviewer: Eine Transformationsbewegung muß also nicht von der Bundesrepublik ausgehen?

Interviewer: Es ist demnach nicht der unsrige Entwicklungsstand des Kapitals erforderlich, um ...

ÖKOLOGISCHE KRISE

Interviewer: Ulrich Beck insbesondere hebt hervor, daß die neuen ökologischen Risiken und Zerstörungen in der Gesellschaft eine ganz neue Konfliktlogik und Dynamik hervorbringen. Inwieweit könnte nun Ihrer Meinung nach die ökologische Krise Einfluß auf die soziale und politische Dynamik der Moderne nehmen?

Interviewer: Inwiefern kann man von einer ökologische Krise sprechen?

Interviewer: Die auch eine gesellschaftliche Krise ist?

Interviewer: Wie kommt es, daß dieses Ökologiethema - gleichwohl es von seiner zentralen gesellschaftlichen Bedeutung her ein sehr brisantes Thema ist - kaum noch eine Rolle in Ihrer Theoriebildung bzw. in Ihrem Schrifttum spielt? Sie hatten 1987 noch eine ausführliche Auseinandersetzung mit ökologiekritischen Positionen und mit der ökologischen Bewegung geführt. Diese Auseinandersetzungsbereitschaft ist nun enorm zurückgegangen. Im "Kollaps der Modernisierung" gehen Sie nur auf zwei Seiten auf die ökologische Krise ein, obgleich Sie in diesem Buch die gegenwärtige Richtung des Gesamtprozesses der Moderne zu fassen versuchen.

Interviewer: Herr Kurz, ich danke Ihnen für das Gespräch.