Krise und Kritik der Warengesellschaft |
Interview mit Robert KurzGeführt am 26.07.1994; Interviewer: Volker Hildebrandt.aus: Volker Hildebrandt MODERNISIERUNGSKONSENS UND MARXISMUSInterviewer: Guten Tag Herr Kurz. Ulrich Beck redet davon, daß es einen klassischen Modernisierungskonsens gibt; theorielagerübergreifend gibt es ein bestimmtes Verständnis von Modernisierung. Zu diesem Modernisierungskonsens gehörten die verschiedensten Schulen und Richtungen: Marxismus, Funktionalismus, Systemtheorie bis hin zur Postmoderne. Die allgemeine Frage jetzt an Sie: Glauben Sie auch, daß es einen allgemeinen Grundkonsens gibt, und worüber könnte dieser allgemeine Grundkonsens bestehen? Kurz: Ich würde zustimmen, daß es diesen Konsens gibt. Allerdings ist das aus meiner Sicht ein Konsens, der nicht explizit thematisiert wird, sondern der blind vorausgesetzt ist. Damit sind wir bei der Frage, was Moderne bzw. Modernisierung - in der Prozeßform formuliert - eigentlich ist, was sie eigentlich wirklich unterscheidet von vormodernen Gesellschaften. An sich ist der Begriff der Moderne ein leerer und selbstaffirmativer Begriff (wer möchte nicht modern sein). Moderner als modern kann man eigentlich nicht sein, und immer weitergehendere Modernisierung hieße dann, auf immer denselben Grundlagen, nachdem sie einmal erreicht sind, weiterzuprozessieren. Und genau das stelle ich in Frage. Von daher ist für mich der (zu kritisierende) Konsens, daß sich alle diese Modernisierungstheorien oder in der Moderne überhaupt vorkommene Theorien auf die gesellschaftliche Warenform beziehen, auf ein Gesellschaftssystem, das - mit welchen Modifikationen und Veränderungen auch immer - beruht auf der Verwandlung von abstrakter Arbeit in Geld. Das, denke ich, ist der meistens unausgesprochene Grundkonsens. Dieser ist die Grundlage des Marxismus und der verschiedenen Modernisierungstheorien. Interviewer: Der Modernebegriff selber ist relativ neu. Vordem wurde sehr viel von Industriegesellschaft und Kapitalismus geredet. Und selbst diese verschiedenen Begrifflichkeiten subsumieren Sie unter diesen Konsens? Kurz: Ich denke, daß der Begriff Industriegesellschaft nur einen bestimmten Aspekt akzentuiert hat: Nicht die Formbestimmtheit, nämlich die Totalisierung von Waren- und Geldbeziehungen und die Verallgemeinerung von abstrakter Arbeit, sondern sozusagen der spezifisch stofflich-technische Inhalt (also Industrialismus) ist im Blick. Das ist natürlich ein Aspekt, aber ich denke, das reicht nicht. Denn das ist ein sehr enger Blickwinkel, und dieser Begriff der Moderne geht etwas weiter. Es ist gewissermaßen ein umfassenderer Begriff, indem bekanntlich bei den verschiedenen Modernisierungstheorien auch andere Aspekte miteinbezogen werden: sozialpsychologische Aspekte, Veränderungen der Subjektform, Veränderungen der Geschlechterbeziehungen. Also allgemeine Strukturveränderungen, wobei die Moderne dann als ein Zusammenhang von sich ausdifferenzierenden Strukturen gefaßt wird und neben den industriegesellschaftlichen Paradigmen auch andere Paradigmen zum Zuge kommen. Aber ich denke, auch bei diesen Modernebegriffen fehlt das explizite Thematisieren dessen, was eigentlich die Grundlage ausmacht. Und das ist wirklich nur der Marx gewesen, der eigentlich als Einziger das explizit gemacht hat. Allerdings ist der Marxismus dahinter gefallen. Interviewer: Sie reden von Warenform. Auch der Marxismus hat die Warenform zum Thema gemacht. Der Marxismus hat gesagt, es könnte eine Gesellschaft nach der Moderne oder nach dem Kapitalismus geben. Wie steht der Marxismus zum Grundkonsens? Kurz: Man sollte einen Unterschied machen zwischen Marx und dem Marxismus, wobei ich nicht meine, daß Marx einen umfassenden Begriff dieses Modernisierungsprozesses hatte. Bei ihm gibt es zwei verschiedene Ansätze. Einen immanenten, selber affirmativen Ansatz, auf den sich der Marxismus immer gestützt hat und aus dem auch der Marxismus hervorgegangen ist. In diesem Kontext ist also die Marxsche Theorie und der Marxismus selber Modernisierungstheorie. Wenn man sich die gesamte marxistische Literatur anschaut, ist eigentlich der Grundkonsens, daß man sich immer in der Warenform bewegt. In diesem Sinne werden zum Beispiel bestimmte Klasseninteressen vertreten wie die Einbeziehung der verschiedenen Segmente der Arbeiterklasse in die bürgerliche Subjektform (also die Verwandlung der unmittelbaren Produzenten in vollgültige, warenförmige Rechtssubjekte). Das war ja nicht selbstverständlich. Auf diese Weise ist der Marxismus eine Speerspitze der Modernisierung. Und auch auf anderen Gebieten. Man kann den Marxismus wirklich als einen umfassenden Modernisierungsansatz ansehen. Das Postkapitalistische - die Vorstellung von Transformation über die kapitalistische Produktionsweise hinaus - ist im Marxismus selber gefangen geblieben in dieser totalisierten Warenform der Moderne. Vor allem die Hypostasierung des Begriffs des Politischen hat im Marxismus eine große Rolle gespielt, ähnlich wie in anderen Modernisierungstheorien auch bis heute und heute ja wieder. Mit der Hypostasierung des Politischen meine ich, daß der Marxismus durchgängig die Vorstellung hatte, die Warenform einem politischen Kommando zu unterwerfen. Einem politischen Kommando, das einen Klasseninhalt haben soll. In dieser Beziehung hat man sich vorgestellt, eine Transformation zu leisten. Aber die Formkritik selber ist im Marxismus verschwunden. Bei Marx ist noch die Kritik der Ware-Geld-Form klar. Das ist bei Marx der andere zweite Strang, und der ist untergegangen. Interviewer: Sie beziehen sich jetzt ganz konkret auf den Arbeiterbewegungsmarxismus? Kurz: Ja. Interviewer: Trifft das denn auch auf die kritischen, die sogenannten häretischen Strömungen des Marxismus zu? Diese haben auch ganz konkret die Warenform kritisiert? Kritische Theorie, Lukacs ... Kurz: Wenn man Lukacs anschaut, dann kommt er ja nicht weg von diesem Arbeiter-Klassenkampf-Paradigma. Das halte ich auch für zeitbedingt. Das war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gar nicht anders möglich, weil es ja eine Frage des Modernisierungsprozesses selber ist, ob er an seine Grenzen stößt oder nicht, und damals war er eben noch nicht an seine Grenzen gestoßen. Und das Arbeiter-Klassenkampf-Paradigma ist eigentlich das Modernisierungsparadigma in der marxistischen Fassung. Insofern bleibt auch der westliche Marxismus auf diesem Boden stehen, auch wenn die Kritik der Warenform dort zugestandenermaßen mehr aufblitzt als im orthodoxen Marxismus (also in den sozialdemokratischen oder in den marxistisch-leninistischen Versionen). Letztlich hat auch der westliche Marxismus diese Fragestellung nicht konkretisiert und nicht zugespitzt. Beispielhaft dafür die Theorieentwicklung von Lukacs: In "Geschichte und Klassenbewußtsein" (diesem kritischen Werk) kommt er auf diese Fragestellung und spitzt sie sogar zu (als einer der wenigen in der ganzen Geschichte des Marxismus, der nach Marx überhaupt wieder auf diesen Punkt gekommen ist); aber er verfolgt das später nicht mehr. Er kommt dann selber auf modernisierungstheoretische Paradigmen zurück, Demokratisierung zum Beispiel. Und auch ausdrücklich auf ein Paradigma eines warenförmigen Sozialismus. Interviewer: Auch Lukacs? Kurz: Auch Lukacs, ganz eindeutig! Je älter er wird, desto weiter entfernt er sich eigentlich von der Kritik der Warenform in seiner frühen Phase. Und auch bei der Kritischen Theorie, denke ich, ist es über den Status einer Überschrift oder eines Versprechens - eines verlorenen Versprechens - nicht hinausgekommen. Das wäre jetzt aber ein eigenes Thema. Da müßte man die Kritische Theorie in ihrer Herausbildungsgeschichte thematisieren: Was da eigentlich passiert ist? Welche Ansätze existierten? Wie man sich das eigentlich vorgestellt hat? Ich möchte jetzt (mit einem Quentchen Polemik dabei) argumentieren nicht gegen die Kritische Theorie selber - die würde ich in ihrer Epoche befangen sehen -, sondern gegen ihre Nachfahren und Enkel, soweit es überhaupt noch welche gibt: Es liegt eine Art double-bind-Argumentation vor, weil die Zielvorstellung eigentlich an so etwas wie Zirkulativer Vernunft klebenbleibt. Also eine Form von Emanzipation, von gleicher, befreiter und freier Kommunikation, deren Vorstellung genommen ist aus dem Zirkulationsprozeß der Warenform. Also die Vorstellung einer idealtypischen Kommunikationsstruktur freier und gleicher Marktsubjekte, wie sie seit der Aufklärung beschrieben wurde. Und diese selber warenförmige Zirkulative Vernunft gleichzeitig als Kritik der Tauschgesellschaft - wie Adorno es macht - zu formulieren ist paradox. Aus dieser Paradoxie, glaube ich, ist auch die Kritische Theorie nicht herausgekommen. Aber, wie gesagt, ich denke, das muß man epochenspezifisch sehen. Das ist eben etwas, was noch innerhalb des Modernisierungsprozesses selber stattfindet, und mein Ansatz ist eben gerade der, das alles wirklich binnenhistorisch zu sehen. Das heißt: Nicht unabhängig vom Stand der Entwicklung und von der Reife des Modernisierungsprozesses selber nun eine abstrakte Kritik oder Affirmation zu formulieren, sondern ich denke, solange dieser Prozeß nicht an seine Grenzen gestoßen ist - was er nach meinem Dafürhalten heute erst tut -, solange mußten auch letztendlich alle Emanzipationsvorstellungen in irgendeiner Weise auf der Linie des Modernisierungsprozesses selber liegen. HERAUSBILDUNGSGESCHICHTE DER MODERNEInterviewer: Obwohl der Marxismus in seiner Geschichte immer wieder angenommen hat, daß zu seiner jeweiligen Zeit der Kapitalismus an sein Ende geraten ist. Das hatte selbst Lenin gesagt. Vom Fäulnisstadium hatte er gesprochen. Kurz: Dies ist ein Black-box-Argument, denn es kommt natürlich darauf an, was als Argument konkret herangezogen wird, was nun eigentlich die Schranke inhaltlich ist. Der entscheidende Unterschied ist: Dort, wo der Marxismus von der vermeintlich bereits herangereiften Krise der kapitalistischen Produktionsweise gesprochen hat, war diese für ihn nicht identisch mit dem Ende des Modernisierungsprozesses. Im Gegenteil: Er hat sich selber ja auch - wenn auch in einer vermeintlich alternativen Form - bewußt als Speerspitze der Modernisierung verstanden. Der Marxismus stand noch im Kontext des Fortschrittsgedankens der Aufklärung. Lenin war der Meinung, der Kapitalismus ist nicht mehr in der Lage, die Produktivkräfte noch weiterzuentwickeln, also Stagnation. Für den Marxismus war nun das Paradigma, noch weiter in den Fortschritt zu gehen. Weitermodernisieren! Und das können "wir" in die Hand nehmen. "Wir" sind also die nächsten Modernisierer, und das hat ja sogar gestimmt. Der Kapitalismus war in der Krise, aber nicht von seiner Basisform her, von seiner Reproduktionsform her, sondern von seinem jeweiligen historischen Ist-Zustand. Also dieser embryonale, unfertige, unausgegorene Kapitalismus der Jahrhundertwende oder der um den Ersten Weltkrieg herum war in der Krise. Interviewer: Speziell in der Peripherie. Kurz: Ja, aber auch in den Zentren selber, selbst in Deutschland. Das damalige Establishment war ja noch eine Amalgamierung von sozialen Trägeren und Personen, die tatsächlich zum Hemmnis geworden waren, aber eben für die weitere Modernisierungsbewegung selber. Dieses Establishment ist dann auch hinweggefegt worden. Der Marxismus hat nun diese Herrschaftselite gleichgesetzt mit kapitalistischer Produktionsweise. Wenn man jedoch Kapitalismus von der basalen Formbestimmung her betrachtet (also von der Verwandlung abstrakter Arbeit in Geld und der Totalisierung der Warenproduktion), war das damalige Establishment nur eine dem Entwicklungsstand entsprechende Subjektform, und der Erste Weltkrieg war nicht das Ende der Modernisierung. Aber er bedeutete das Ende einer bestimmten Entwicklungsepoche. Und die Leute haben es damals auch zutiefst empfunden, daß ein ganz tiefer Einschnitt, ein Epochenbruch stattfindet, aber eben ein Epochenbruch noch innerhalb der Modernisierungsgeschichte. Interviewer: Diesen Zusammenhang reflektieren ja auch Theorien diskontinuierlicher Entwicklung, die seit den 70er Jahren Konjunktur haben, und deren Kerngedanke ist, daß sich die Modernisierungsgeschichte in grundlegenden Umbruchphasen vollzieht. Kurz: Ich denke, das große Manko des Marxismus bestand darin, daß er hier nicht selbstreflexiv war (er konnte es wohl auch nicht sein). Er hat sich selber nicht als Teil dieses Prozesses wahrgenommen, sondern als die Opposition, die aber nur die Opposition gegenüber dem jeweiligen Ist-Zustand war. Und das Problem ist für mich heute: Inwieweit ist jetzt ein qualitativ anderer Bruch herangereift? Ein Bruch mit dieser Formbestimmung selber, die also mit einer langen Vorlaufgeschichte seit der Renaissance sich entwickelt hat und deren eigentliche Durchsetzungsgeschichte seit dem späten 18. Jahrhundert (also seit der französischen und amerikanischen Revolution sowie der englischen Industrialisierung) ihren Lauf nahm. Inwieweit ist diese basale Formbestimmung an ihr Ende gekommen? Und da fühle ich mich sehr einsam im Theoretikerclub. Das ist für Theoretiker allerorten kein Thema. Interviewer: Sie reden zu Recht von einem impliziten Konsens, weil die Warenform in der Regel als nicht antastbar gilt und insofern meistens auch gar nicht erst thematisiert wird. Nun ist expliziter Konsens in der Theorienlandschaft, daß Modernisierung gleich Funktionale Differenzierung ist. Sie haben sich dazu sehr wenig geäußert. Wie stehen Sie dazu? Es wird gelegentlich sogar gesagt, daß selbst Marx sich unter diesem Konsens fassen läßt, weil er besonders die Ausdifferenzierung eines Systems, nämlich des Arbeitssystems, herausgehoben hat. Kurz: Also erstens müßte man vielleicht noch einmal zu diesem impliziten Konsens etwas sagen. Es ist schon merkwürdig, daß die Totalisierung der Warenform (die Verwandlung der Menschen in Geldverdiener, und zwar bis in die Poren auch ihrer Subjektivität hinein) sowenig explizit zum Thema gemacht wird, obwohl es doch ganz augenfällig ist, daß die vormoderne Gesellschaft bis an die Schwelle der Industrialisierung ein gänzlich anderes Gesicht hatte. Hier scheint mir so etwas wie ein Tabubereich vorzuliegen. Das ist etwas, was man nicht thematisieren kann, weil etwas thematisieren im Grunde schon heißt, die Möglichkeit der Kritik zuzulassen. Sobald es thematisiert ist, kann man auch sagen: Ja muß es denn so sein? FUNKTIONALE DIFFERENZIERUNG UND ARBEITSGESELLSCHAFTInterviewer: Adorno könnte mit Verblendungszusammenhang argumentieren. Kurz: Den Ausdruck von Adorno finde ich sehr gut. Das ist etwas, was tief in die Wissenschaft hineinreicht. Und nun zum zweiten Komplex: dem der Funktionalen Ausdifferenzierung. Was Marx angeht, stimmt wieder diese doppelte Argumentation bzw. diese Feststellbarkeit von zwei Argumentationssträngen im Marxschen Werk. Marx hat einen immanenten Modernisierungsansatz, der sozusagen das Moment von kritischer Selbstreflexion einschließt, aber nicht systematisch entfalten kann von seinem Entwicklungsstandort her, von dem er seine Theorie geleistet hat. Aber es blitzt bei ihm dennoch auf. Und er hat dann diesen anderen Strang, wo er eigentlich das zentrale Paradigma selber kritisiert und womit der Marxismus selber nie etwas anfangen konnte. Insoweit er modernisierungstheoretisch argumentiert, schließt er natürlich auch affirmativ oder positiv diese Ausdifferenzierung ein. Nun kann man Funktionale Differenzierung meiner Ansicht nach nicht so blank affirmativ ansehen (sozusagen als etwas, was mit unaufhebbarer Notwendigkeit abläuft). Ich denke, man kann, wenn man vom jetzigen Krisenzustand ausgeht und sich die Reaktionsweise der Subjekte auf diesen Zustand betrachtet, feststellen, daß diese unaufhörliche und immer weitergehende Ausdifferenzierung, die die Menschen in Schnittstellen von verschiedenen Subsystemen verwandelt, auch einen ungeheuren Leidensdruck bereits erzeugt hat. Während im 19. Jahrhundert die Ausdifferenzierung von ihren emanzipatorischen Momenten gegenüber den alten Agrargesellschaften empfunden und zum Teil auch erlebt wurde - ist es heute doch bereits so, daß die Verwandlung der Gesellschaft in einen Zusammenhang ausdifferenzierter Subsysteme und damit die Verwandlung der Subjekte in Schnittstellen dieser Subsysteme ein Teil der Krise selber ist. Dies wird auch so empfunden, was sich beispielsweise bei der Stadtplanungsdiskussion beobachten läßt: etwa dieses Auseinanderfallen von Arbeit und Leben. Seit 20 Jahren werden schon Diskussionen geführt, obgleich letztlich die Frage heranreift: Kann diese Ausdifferenzierung auch wieder aufgehoben werden? Nicht als Rückkehr zu dem vormodernen unmittelbaren Lebenszusammenhang. Aber doch aufgehoben werden in dem Sinne, daß diese Funktionale Differenzierung auf einer höheren Stufe wieder aufgehoben wird; also ein Lebenszusammenhang hergestellt wird, in dem die Menschen wieder die verschiedenen Lebens- und Reproduktionstätigkeiten unter sich selber subsumieren und nicht diese aggregiert in einem äußerlichen Subsystem erleben. Ich denke, der zentrale Punkt dabei ist wirklich die Frage des Arbeitssystems. Ich akzeptiere nicht die verbreitete Ansicht, die Arbeit ist ein Subsystem unter anderen. Denn nur von der deskriptiven Analyse her kann man das sagen. Aber welche Bedeutung hat denn dieses Subsystem, diese sogenannte Arbeit? Arbeit ist doch die basale Konstitution, aus der der zentrale Mechanismus (eben Verwandlung von abstrakter Arbeit in Geld) seine Quelle eigentlich hat, und alle anderen Subsysteme sind letztlich auf diese Quelle angewiesen. In dem Masse wie diese Quelle nicht mehr sprudelt, trocknen die anderen Subsysteme aus, weil sie derselben Form unterworfen sind. Weder die Politik hat ein eigenes Medium noch ... Interviewer: Die Politik hat das Medium Macht, systemtheoretisch gesprochen. Kurz: Systemtheoretisch gesprochen, das halte ich auch schon für einen unzulässigen Dualismus. Denn auch die Macht muß ihre Machtmittel finanzieren. Das hat auch übrigens der Luhmann - durchaus richtig - gesagt in bezug auf das Verhältnis von Ökonomie und Politik. Auch der Eingriff der Politik, zumindest in die Ökonomie, kann nur mit dem Medium der Ökonomie, nämlich Geld, vor sich gehen. Dies gilt auch für die Machtmittel selber (also Militär, Polizei oder Sozialarbeiter usw.): Alle Machttätigkeiten müssen gleichzeitig finanziert werden, und es gibt nichts in einer totalisierten Warengesellschaft, was nicht finanziert werden müßte. Das ist ja mittlerweile auch das Problem geworden: die Finanzierbarkeitsfrage. Insofern behaupte ich, daß es hier nicht einfach ein Subsystem unter anderen ist, sondern die Verwandlung von Arbeit in Geld - das ist die Quelle. Interviewer: Aber in diesem Sinne könnte man davon sprechen, daß nicht nur ein impliziter Konsens vorliegt. Denn verfolgt man die Diskussion über die Krise der Arbeit in den 80er Jahren, läßt sich die Übereinstimmung feststellen, daß wir in einer Arbeitsgesellschaft leben. Alle großen Theoretiker der Vergangenheit - nicht nur Marx, der dies ganz offen tut, sondern auch Max Weber und andere - haben hervorgehoben, daß das ökonomische System eine basale Bedeutung hat. Und in den Diskussionen über die Krise der Arbeit ist das dann schließlich in Frage gestellt worden. Trotzdem bleibt nolens volens der (zum Teil auch explizite) Konsens darüber, daß die Moderne eine Arbeitsgesellschaft ist. Es gibt also die Differenz zwischen Arbeitsgesellschaft als explizit gemachter Konsens und Warenform als impliziter Konsens. Oder wie kann man das fassen? Kurz: Ich denke, daß der explizite Konsens mehr oder weniger begrifflos ist, weil er den Zusammenhang nicht herstellt. Wenn man sagt, daß unsere Gesellschaft eine Arbeitsgesellschaft sei, dann ist damit eigentlich meistens nur gesagt, daß die Arbeit im einzelnen eine große Bedeutung habe und daß ein subjektives Wohlbefinden auf Arbeit angewiesen sei. Aber wie es sich mit dem Systemzusammenhang und der hieraus erwachsenden Bedeutung der Arbeit darstellt, bleibt unklar. Ich spreche ja nicht einfach von Arbeit schlechthin, sondern von Verwandlung von Arbeit in Geld, also der Verwandlung abstrakter Arbeit in ihr anderes, in die Darstellungsform Geld. Und da denke ich, daß vielleicht die implizite Selbstverständlichkeit dieses Zusammenhanges dazu geführt hat, daß auch davon gesprochen worden ist, daß diese Gesellschaft nicht nur eine Arbeits-, sondern auch eine Erwerbsgesellschaft sei und daß die Ökonomie in ihr ein dominierendes Subsystem darstelle. In dem Masse wie dieser Zusammenhang in die Krise kommt, tut man - ironischerweise - so, als gäbe es diesen Zusammenhang gar nicht, als wäre die Arbeit für sich allein in die Krise gekommen und die ganzen Vermittlungsformen (bestimmt von den Geldvermittlungen) seien davon völlig unberührt. Das kommt dann auch in den Therapievorschlägen wieder zum Ausdruck, wo mitunter geradezu ökonomisch naiv davon ausgegangen wird, daß das Geld irgendwo herkommt, als wäre es unabhängig von dem Arbeitsprozeß und als ob eine etwaige Definitionskompetenz des Staates oder sonstiger gesellschaftlicher Instanzen das Entscheidende wäre. Es wird hiermit ein Zusammenhang ausgeblendet, der eben gerade die Krise konstituiert. Man könnte sogar sagen, es ist die umgekehrte Illusion, wie sie der Staatssozialismus repräsentiert hat. Der wollte die Arbeit für sich weiterarbeiten lassen ohne ihren Gegenpol, ihr anderes: das kapitalistische Geld, Geld als Kapital. Er hat von sich selber zumindest die Vorstellung gehabt, eine Arbeitsgesellschaft ohne den Gegenpol Kapital zu haben, was logisch gesehen und von der Geschichte dieses Systems her eine Absurdität ist. Die jetzige Vorstellung ist jedoch genauso eine Absurdität und erweist sich als bloße Umkehrung: Die Arbeit komme in die Krise und das Kapital akkumuliere munter weiter. Interviewer: Sie haben jetzt darauf abgehoben, daß die anderen funktionalen Systeme auch finanziert werden müssen. In diesem Sinne besteht ja auch eine ganz klare Abhängigkeit vom ökonomischen System. Im "Geschlechterfetischismus"-Aufsatz reden sie aber davon, daß sich die Funktionale Differenzierung und ihre Genesis aus dem abstrakt allgemeinen Begriff der Warenform ableitet. Wie ist das zu verstehen? Klingt darin mehr als nur eine Finanzierungsfrage? Inwieweit läßt sich die Funktionale Differenzierung ableiten aus dem Warenformbegriff? Oder läßt sie sich überhaupt ableiten? Kurz: Ja, ich denke, sie läßt sich daraus ableiten, wobei dies Geschlechterverhältnis noch einen Sonderstatus hat. Das muß man vielleicht getrennt davon betrachten. Das stammt nicht von mir. Das stammt von Roswitha Scholz, nämlich dieses Theorem der Abspaltung. Es gibt das Problem, daß selbst bei einer Totalisierung der Warenform die Totalisierung eben doch keine Absolute ist, sondern daß es bestimmte Reproduktionsmomente und -elemente gibt, die sich sogar beim besten Willen nicht warenförmig darstellen lassen: diese Sphäre der privaten Familie, der modernen Kleinfamilie, der Haushaltstätigkeit, der Liebe, der Kindererziehung, zumindest was die kleinen Kinder angeht. Summa summarum ist dies also ein ganzes Spektrum von Tätigkeiten, die sich nicht oder nur mit Mühe und gewaltsam kommerzialisieren oder staatlich bürokratisieren lassen. Und man könnte ja davon sprechen - das geschieht in diesem Abspaltungstheorem und dem stimme ich auch zu -, daß wir hier es nicht mit einer ausdifferenzierten Sphäre zu tun haben, sondern mit der Rückseite dieser Warenform selber. Also mit dieser abgespaltenen Sphäre, die nicht einfach aus der Warenform als solcher ausdifferenziert ist und die all das aufnehmen muß, was die Warenform auch in ihrer Ausdifferenzierung nicht erfassen kann. Und dafür ist historisch gesehen das Weibliche zuständig gemacht worden. Damit verbunden ist auch ein spezifischer Weiblichkeitsbegriff, eine spezifische Rolle der Frau und so weiter. All das ist daraus entstanden. Also das würde ich noch als eigene Linie sehen. Und dann aber die Frage der Ausdifferenzierung der Warenform selber. Ich denke, das zentrale Paradigma dabei ist dieser strukturelle Dualismus: diese Aufspaltung von privat und öffentlich, politisch und ökonomisch, von Individuen und Gesellschaft. Man könnte es fast ein strukturelles Spaltungsirresein nennen. Dieser Dualismus geht ja auch mitten durch die Subjekte hindurch. Das ist eigentlich die basale Form dieser Ausdifferenzierung, die sich dann noch weiter binnendifferenziert hat. Und ich denke, das Problem, das dahintersteht - das hat auch Marx schon ansatzweise analysiert -, ist, daß sich die Menschen in einer totalisierten Warengesellschaft in dem paradoxen Zustand einer ungesellschaftlichen Vergesellschaftung befinden. Also auf der einen Seite werden sie zunehmend atomisiert, in ihrer abstrakten Tätigkeit voneinander unabhängig, voneinander getrennt gesetzt - viel mehr als in einer agrarischen traditionellen Gesellschaft. Auf der anderen Seite sind sie aber im Vergleich zu diesen traditionellen Agrargesellschaften viel mehr voneinander abhängig und viel mehr in riesige, arbeitsteilige Zusammenhänge und Distributionen verstrickt. Sie sind das aber in dieser paradox-getrennten Form, nämlich durch die Warenform selber, durch die Verwandlung ihrer Reproduktionstätigkeiten in abstrakte Arbeit. Und jetzt entsteht das Problem, daß die ganzen Rahmenbedingungen, die Art und Weise, wie man miteinander innerhalb dieses Vergesellschaftungsaggregats in Beziehung tritt, einen ungeheuren Regulationsbedarf hervorbringt, der weit über den der vormodernen Gesellschaft hinausgeht, und zwar um so mehr, um so weiter sich dieses paradoxe Vergesellschaftungssystem von Ungesellschaftlichkeit fortentwickelt. Daraus ist überhaupt erst entstanden, was wir Politik nennen oder was der moderne Staat ist. Es gibt einen ungeheuren Regulationsbedarf. Es gibt einen ungeheuren Bedarf an Verständigung, zum Beispiel auch in der Form der Erstarrung in Rechtsnormen (also der Prozeß der Verrechtlichung). Die Verrechtlichung ist auch in vielen theoretischen Ansätzen lang und breit beschrieben worden. Auch völlig korrekt. Ebenso die Notwendigkeit von Rahmenbedingungen (Infrastruktur gehört dazu), die Ausdehnung des Regulationsbedarfs. Die basale Ausdifferenzierung von Ökonomie (also die basale Form der Verwandlung von Arbeit in Geld mit der betriebswirtschaftlichen Rationalität und der Marktvermittlung als daraus folgendem Vermittlungsmoment) setzt also als andere Seite bzw. als ausdifferenzierte Gegensphäre das politisch-staatliche System und seinen Regulationsprozeß, den Verrechtlichungsprozeß voraus. Aus dieser basalen Ausdifferenzierung kommen auch alle anderen Binnendifferenzierungen. Interviewer: Aber das hängt ja auch damit zusammen, daß sich die Gesellschaft auf einem sehr hohen Entwicklungsniveau befindet, und von daher gibt es natürlich auch verschiedene Aggregate. Ist es wirklich vorstellbar, daß die verschiedenen funktionalen Systeme durch eine Person gehen können? Kann Funktionale Differenzierung soweit aufhebbar sein? Das ist bei diesem hohen Gesellschaftsniveau eine wichtige Frage: Kann wirklich eine Person das leisten, was jetzt verschiedenen Sphären leisten? Kurz: Nein, nein. Das Problem ist überhaupt nicht, daß jetzt die Spezialisierung aufgehoben wird. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der jeder eine Blinddarmoperation ausführt. Das meine ich nicht. Das Problem ist eher, daß die verschiedenen Tätigkeiten sich immer mehr in einem direkten Vergesellschaftungszusammenhang befinden. Anders formuliert: Das Problem ist, daß die marktförmig darstellbaren Momente der Arbeitsteilung immer mehr hinter ein gesamtgesellschaftliches Aggregat zurücktreten. Also das infrastrukturelle Aggregat wird zu einem immer größeren Voraussetzungszusammenhang an den eigentlich die marktvermittelten Tätigkeiten als immer kleinerer Rest (sozusagen) dranhängen. Momentan wird gewaltsam versucht, nun auch das entstandene unmittelbar gesamtgesellschaftliche Aggregat zu vermarktwirtschaftlichen. Das geht aber nicht. Das hat sich ja historisch nicht umsonst so herausgebildet, wie es jetzt ist. Die Neoliberalen meinen natürlich, das sei alles ein Fehler gewesen und man könne das alles wunderbar privatisieren. Ich denke aber, das wird scheitern. Das zeigt sich auch jetzt in vielerlei Hinsicht. Man kann genügend praktische Beispiele anführen. Also de facto ist es meistens so, daß dann große Teile der Infrastruktur einfach stillgelegt werden, wenn sie entweder nicht finanzierbar seitens des Staates oder nicht als gewinnmaximierender Prozeß betriebswirtschaftlicher Rationalität darstellbar sind. Das ist ja die Krise, und ich denke, das Problem wird sein, dieser direkten Vergesellschaftung, die sich hinter den Rücken der Subjekte hergestellt hat, dergestalt Rechnung zu tragen, daß ein bestimmter Teil (um es mal so auszudrücken) des Zeitfonds jedes Menschen unmittelbar in diese Regulationstätigkeit - also in das, was bisher die Politik war - miteingeht. Das wäre dann die Aufhebung dieser basalen Ausdifferenzierung. Das ist jetzt noch bezogen auf die Warenform und ihre Ausdifferenzierung selber. Ich denke aber auch, aufhebbar müßte auf der anderen Seite diese geschlechtliche Abspaltung sein, was die Hereinnahme dessen bedeutet, was aus dieser Sphäre abstrakter Arbeit ausgestoßen worden ist. Die Hereinnahme der Lebenswelt in den Reproduktionsprozeß und die Aufhebung der Aufspaltung in ökonomisches und politisches System würde die Subsumierung der eigenen Gesellschaftlichkeit und Reproduktionstätigkeit unter den menschlichen Willen, unter das menschliche Bewußtsein bedeuten. Wie das geschieht, kann man nur aus dem Krisenprozeß und aus den hoffentlich sich einstellenden emanzipatorischen Reaktionsformen heraus allmählich erschließen. Das kann man nicht präjudizieren. Aber weil diese Emanzipation so schwierig oder so schwer vorstellbar ist für die in die Totalität des Geldes hineinsozialisierte Menschheit, wird sie natürlich auch sehr stark abgewehrt. Aber die Frage ist, ob der Krisenprozeß nicht an Grenzen führt, wo die Emanzipation wirklich zur Frage des Ueberlebens wird. MODERNE, ARBEIT UND WERTInterviewer: Ich möchte gerne noch einmal zu den Begriffen zurückkehren. Ulrich Beck spricht von der Industriegesellschaft und gleichzeitig von der Moderne. Dabei betont er, daß man diese Begriffe jedoch nicht automatisch gleichsetzen darf. Die Verschmelzung von Industriegesellschaft und Moderne sei nur historisch gewesen. Denn die Moderne - im Gegensatz zur Industriegesellschaft - habe einen universalen Gehalt und sei quasi ein normatives Projekt. Diese Betrachtungsweise ist immer wieder bei dem Modernebegriff zentral gewesen: einerseits Moderne als ein mehrdimensionaler Begriff, andererseits dieser normative Gehalt. Sie haben nun selber auch eine Begriffsentwicklung vollzogen. In den 80er Jahren haben Sie zum großen Teil nur von Kapitalismus geredet. Ein sehr ökonomisch orientierter Begriff, der auch von Marx stammt. Sie haben sich aber in den 90er Jahren immer mehr davon abgewandt und sich dem Modernisierungsbegriff zugewandt. Am deutlichsten ist das in dem Titel "Kollaps der Modernisierung". Ansonsten reden Sie auch immer mehr von Moderne und Modernisierung. Wie erklärt sich das vor dem Hintergrund dieser Verwendung des Modernebegriffs? Auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Kritik: Sie hatten ja am Anfang des Interviews den Modernebegriff selber kritisiert. Wie erklärt sich, daß Sie sich immer mehr vom Kapitalismusbegriff abgewandt haben und den Modernebegriff benutzen? Kurz: Für mich ist das ein noch nicht ausgegorenes terminologisches Problem. Ich habe mich eigentlich nicht explizit von dem Kapitalismusbegriff abgewandt. Für mich ist letztlich Moderne und der Prozeß der Modernisierung identisch mit kapitalistischer Produktionsweise bzw. als Prozeß: mit der Durchsetzungsgeschichte dieser Produktionsweise. Ich habe auch einen anderen Terminus dafür, nämlich warenproduzierendes System. Das scheint mir ein allgemeiner Begriff zu sein, der den Prozeß als Ganzes vielleicht besser fassen kann. Denn der Begriff des Kapitalismus ist besetzt vom historischen Arbeiterbewegungsmarxismus bzw. von seinen Gegnern. Und meistens wird er sehr eng verstanden als die spezifisch westliche Form dieser kapitalistischen Produktionsweise. Wenn ich den erweiterten Begriff warenproduzierendes System verwende, tue ich dies, weil das für mich auch ein Begriff ist, der sich voll absetzt von all dem, was vormodern gewesen ist. Soweit es Warenform in vormodernen Gesellschaften gegeben hat, war das eben keine Existenz der Warenform in einer Systemgestalt, sondern nur marginale Nischenform. Warenproduzierendes System wäre für mich nun ein Begriff mit einem größeren Allgemeinheitsgrad, der auch in der Lage ist, die verschiedenen Modernisierungsprozesse in die totale Warenform hinein, die in nichtwestlichen Gesellschaften stattgefunden haben, mitzuerfassen. Insofern würde ich jetzt eher an Stelle von Kapitalismus in dem verengt verwendeten Sinne warenproduzierendes System setzen. Und daß es für mich identisch ist mit Moderne bzw. Modernisierung, resultiert aus diesem für mich evidenten Zusammenhang von Totalisierung der Warenform und Moderne. Das ist eigentlich der Ausgangspunkt. Interviewer: Hat das vielleicht auch etwas zu tun mit Ihrer Entwicklung von der Wertkritik hin zu einer grundlegenden Arbeitskritik? Sie haben in den 80er Jahren noch die Arbeit gewissermaßen verteidigt. Sie haben in "Herrschaft der toten Dinge"(MK 2 u. 3) noch davon gesprochen, der Inhalt der Arbeit müsse befreit werden von seiner Wertform. Das hat sich dann in den 90er Jahren grundlegend geändert. Hängt das damit zusammen? Kurz: Ja, das hängt auf jeden Fall damit zusammen. Ich habe ja die Wertkritik nicht aufgegeben, sondern im Gegenteil weiterentwickelt. Und für mich war es ein Ergebnis der Untersuchungen, daß eine konsequent durchgehaltene Kritik der ökonomischen Wertform und damit des zentralen Inhalts der Moderne zeigt, daß es eine Form ist, die sich paradoxerweise selber zum Inhalt wird. Das ist auch bis in die Sozialpsychologie das Unerträgliche an dieser völlig leeren Form, die jeden Inhalt aufsaugt und die ganze Welt in ein System von Preisen und von abstrakter Arbeitskraft-Verausgabung (die ja dafür eine Voraussetzung ist) verwandelt. Diese konsequent durchgehaltene Wertkritik - das hat sich herausgestellt - läßt sich nicht vereinbaren mit einer Ontologie der Arbeit. Es gehört mit zu dem impliziten Konsens der Modernisierungstheorien, daß - soweit ich weiß auch bei Beck - fraglos von einer Ontologie der Arbeit ausgegangen wird. Also Arbeit erscheint als ontologischer Begriff, als unaufhebbarer Tatbestand und nicht als etwas, das spezifisch zur Totalisierung der Warenform in der Moderne gehört. Ich denke, daß dieser Arbeitsbegriff erst zusammen mit seiner Form in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten entstanden ist. Nun kann man nicht einfach von einer Aufhebung der Wertform in der Gestalt sprechen, daß der Inhalt der Arbeit von dieser Form befreit werden könne, sondern eine durchgehaltene Wertkritik läßt auch den Arbeitsbegriff als solchen obsolet werden. Was nicht heißt, daß dann der Stoffwechselprozeß mit der Natur aufhört oder daß die Menschen dann nur auf der faulen Haut liegen oder sonstige Utopien und Schlaraffenvorstellungen, die übrigens zur Geschichte der Arbeitsgesellschaft selber dazugehören. Also Befreiung von der Wertform, Aufhebung der Wertform wäre letztlich auch Aufhebung der Arbeit, um die menschlich-gesellschaftliche Reproduktionstätigkeit nach Kriterien (ich habe versucht, es so zu bezeichnen) einer sinnlichen Vernunft zu reorganisieren, die nicht mehr diese abstrakte Gestalt des Arbeitsbegriffs hat. Interviewer: Wie ist denn überhaupt das Verhältnis - vor dem Hintergrund dieser Theorieentwicklung - von Arbeit und Wertform? Also das, was sie in dem Aufsatz "Die logische Unmöglichkeit eines Produzentensozialismus" als Position formuliert haben, haben Sie an der Arbeit entwickelt, währenddessen Sie sich vorher im Grunde genommen eher auf den Wert fixiert hatten. Wie kann man das Verhältnis zwischen Arbeit und Wert fassen? Gibt es da jetzt Wandlungen? Kurz: Ja. Innerhalb des Marxismus - und auch bei Marx selber - ist das Verhältnis derart bestimmt, daß Arbeit als ontologische Kategorie und Wertform als etwas Historisch-darauf-Gesetztes, als etwas Usurpatorisches verstanden werden. Übrigens bei Sohn-Rethel erscheint es noch genauso. Auch bei der Kritischen Theorie ist der ontologisierte Arbeitsbegriff keineswegs aufgehoben. Und das heißt dann letztendlich, daß hier eine spezifisch moderne, warenförmige, letztlich kapitalistische Tätigkeitsform sozusagen die Würde oder die Weihe des Ontologischen bekommt. Gleichzeitig hofft man, dadurch einen Hebel zu bekommen, mit dem man dieses System aus den Angeln heben kann. Also im Grunde genommen läuft es auf diese Paradoxie bzw. auf ein Pars pro toto hinaus: Die eine Seite dieser Reproduktionsform und -bewegung, die Arbeit, wird zum Totalen gemacht, und die andere Seite, das Geld alias Kapital in der kapitalisierten Form, soll weggenommen oder zumindest dem Kommando der Arbeit unterworfen werden. Das ist ein Konstrukt, das nicht haltbar ist Es ist noch ein ideologisches Konstrukt des Modernisierungsprozesses selber. Jetzt an dessen Ende werden wir auch handgreiflich damit konfrontiert, daß die Arbeit obsolet wird und sie auch ihre Würde verliert. Ein Beispiel ist diese Standort- und Arbeitsplatzdiskussion, die würdelos ist. Es steht nicht mehr der Stolz dahinter, nun das Notwendige zu schaffen oder überhaupt schöpferisch zu sein, sondern es dominiert der nackte Schrei nach Beschäftigung. Dieser Schrei nach Beschäftigung ist die Entwürdigung und auch Selbstentwürdigung. Und nun wird sichtbar, daß Arbeit eine Systemkategorie der Wertform selber ist. Den Zusammenhang sehe ich so wie Marx; nur seine Konstruktion einer ontologische Basis versuche ich wegzulegen. Über die Marktvermittlung wird die Verausgabung abstrakter Arbeit (also die Verausgabung von - wie Marx so schön sagt - Nerv, Muskel, Hirn als abstrakte Quanta von Arbeit) in die Darstellungsform Geld verwandelt. Dieses Geld ist nicht einfach Zahlungsmittel, sondern Kapital, das heißt sich verwertender Wert. Die Verwandlung von abstrakter Arbeit in Geld kehrt nun zurück zum Ausgangspunkt und einem erneuerten Reproduktionszyklus, in dem sich dann auf erweiterter Stufenleiter das Geld wieder in Arbeit, die Arbeit wieder in erweitertes Geld und das Ganze ad infinitum verwandelt. Der Systemzusammenhang ist letztlich das, was vielleicht auch dem Hegelschen Konstrukt zugrunde liegt: dieses Anders-Werden, eine Identität sich mithin aufspaltet. Man kann es innerhalb des Ökonomischen selber sehen: diese Verwandlung von Arbeit in Geld oder diese Spaltungen von Arbeit und Geld. Also um zu sich selber zurückkehren zu können, um sich mit sich selber vermitteln zu können, muß diese abstrakte Arbeit (die das Kapital ja ist - insofern ist auch die Arbeiterklasse Teil des Kapitals) ihr anderes hervorbringen, nämlich Geld, und diese fetischistische Darstellung abstrakter Arbeit (Geld repräsentiert dann diese Arbeitsquanta) muß wieder zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Interviewer: Sie haben vorhin davon gesprochen, daß Arbeit eine Erscheinungsform ist. In der klassischen Marxschen Dialektik wiederum stellt es sich so dar, daß Arbeit auch gleichzeitig Inhalt ist. Ist also Arbeit - in Ihrem Verständnis - kein Inhalt? Oder was ist überhaupt der Inhalt der gesellschaftlichen Formbestimmung? Sie halten ja selber an der Dialektik fest oder nicht? Kurz: Für mich liegt diese Paradoxie gerade darin, daß hier eine Form zu ihrem eigenen Inhalt wird. Am Geld kann man es sehen. Das Geld hat keinen Inhalt. Es ist eine Form, die gleichzeitig sich selber zum Inhalt geworden ist. Solange das Geld noch etwa in Gestalt der Goldmünzen existiert hat, war dieser Inhalt noch sichtbarer Art. Er war nicht mehr das Gold als Gold (als das Metall), sondern als Darstellungsform abstrakter Arbeit. Heute hat sich dieses materielle, inhaltliche Darstellungssubstrat - über das Papiergeld bis hin zu den elektronischen Buchungsimpulsen - fast vollständig verflüchtigt. Wir haben es eben mit diesem paradoxen Verhältnis zu tun, daß gewissermaßen die Inhaltslosigkeit sich als Form darstellen kann. Das ist die Paradoxie des Geldes an sich. Und das ist letzten Endes auch das, was abstrakte Arbeit ausmacht; das, was man auch sehen kann in der zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber jedwedem Inhalt, die logisch gesehen von Anfang an zur Geschichte der Form gehört. Natürlich in den handwerklichen Anfängen und in der Manufaktur noch nicht so extrem wie heute, wo sich die subjektive Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt in der Maxime ausdrückt: Hauptsache es wird Geld verdient. Das, denke ich, ist auch in den Subjekten selber die Art und Weise, wie sich diese Form, die eigentlich keinen Inhalt mehr hat, darstellt. Auf der anderen Seite kann diese Inhaltsentleerung der Form nicht absolut gehen - das macht gerade die Paradoxie aus -, sondern Stoff (sozusagen menschlicher Stoff und auch Naturstoff als Träger) muß bewegt werden, und das heißt, daß menschliche Tätigkeitskraft bzw. menschliche Nerven, Muskel, Hirn verausgabt werden. Dies ist der Inhalt, der dabei außer Betracht bleibt. Man muß sich nur anschauen, wie es in der Welt aussieht, um zu sehen, wie hier - quasi als Gegenteil sinnlicher Vernunft - der sinnliche Stoff nicht mehr nach Maßgabe seiner inhaltlichen Qualitäten vernünftig behandelt wird, sondern nach der inhaltslosen, abstrakten Vernunft dieser Rationalität des Geldes, die sich auch in ihrer Erscheinungsform als Arbeit darstellt. Interviewer: Sie machen also nicht eine Trennung zwischen Lohnarbeit, Wert und Geld, sondern betrachten diese Bestimmungen auf einer Linie? Kurz: Das ist auf einer Linie. Das sehe ich als vermittelte Identität und als vermittelte Totalität. Interviewer: Also nicht unabhängig voneinander zu denken. Kurz: Der Begriff des Ganzen wäre eigentlich der Wert, die Wertvergesellschaftung. Aber dieses ... Interviewer: Der Wert als Syntheseprinzip? Kurz: Nicht als Syntheseprinzip, sondern als der Totalitätsbegriff, der aber als solcher nicht erscheint. Der Wert erscheint in der Form der Arbeit, der Ware, des Geldes, des kapitalisierten Geldes, des Weltmarktes, des Reproduktionskreislaufs, und auch in Gestalt dessen, was damit in der Welt mit Mensch und Natur angerichtet wird, aber er erscheint nicht unmittelbar. Interviewer: Der Wert ist nur eine bewußtlose Bewußtseinsform, wie sie an einer Stelle schreiben. Kurz: Der Wert ist eine bewußtlose Bewußtseinsform, eine Fetisch-Konstitution, die nicht unmittelbar empirisch dingfest zu machen ist. Interviewer: Erklärt sich aus diesem Totalitätsdenken der Umstand, daß Sie für das "Subjekt" mal den Terminus Arbeitsmonade und ein anderes Mal den Ausdruck der Geldmonade benutzen? Sie verwenden diese Termini ja auch synonym. Kurz: Ja, ja. Und auch das Alltagsbewußtsein weiß, daß man letztendlich arbeitet, um Geld verdienen und ausgeben zu können. Das heißt, daß die Geldsubjektivität immer schon von sich weiß, daß sie auch Arbeitssubjektivität ist, wobei in diese Subjektivität dann auch die Schizophrenie hereinkommt. Im Grunde ist es von der basalen Logik her ein System des strukturellen Spaltungsirreseins, und das wird jetzt auch an der Oberfläche bis in die Psychostruktur und die Politik hinein manifest. Beispielsweise sind es dieselben Leute, die sich für Ökoinitiativen einsetzen und die sich gleichzeitig als Arbeits- und Geldsubjekte am Prozeß der Zerstörung beteiligen. Sie sind sich auch dessen subjektiv bewußt. Es ist ja nicht so, daß dieser Prozeß noch hinter dem Rücken der Individuen ablaufen würde. So war es vielleicht in der Vergangenheit, aber heute ist es nicht mehr so. KRISENPROZEßInterviewer: Ihre krisentheoretischen Überlegungen haben Sie in Ihrem Aufsatz "Die Krise des Tauschwerts" von 1986 entfaltet. Dort haben Sie noch an einem jetzt für Sie überholten Arbeitsbegriff gehangen. Jedoch haben Sie seitdem keine krisentheoretische Aufsätze mehr geschrieben, die in vergleichbarer Weise das Thema der Krise generell angingen. Hat dieser Wandel hin zu einer radikalisierten Arbeitskritik nicht irgendwelche Auswirkungen auf die Krisentheorie? Kurz: Nein. Ich denke, ich habe auch immer wieder in verschiedensten Zusammenhängen (bspw. in dem "Kollaps"-Buch und in der Analyse zur deutschen Vereinigungsökonomie) auf die Krisentheorie rekurriert und diese zum Teil auch weiter ausgeführt. Ich denke, daß man den Zusammenhang so sehen muß: Für den Prozeß der Modernisierung ist die Arbeit konstitutiv. Das ist nicht etwas, was man wegdefinieren kann. Nun heißt aber das Resultat des Modernisierungsprozesses Krise der Arbeitsgesellschaft; will sagen, daß die Verwandlung von Arbeit in Geld immer weniger gelingt und damit eine Krise neuen Typs entsteht, in der die warenproduzierende Moderne an ihr absolutes Ende kommt. Das Geldverdienen geht somit zu Ende. Immer mehr Menschen fallen heraus. Das ist irreversibel. Das ist etwas, was man mittlerweile auch empirisch beobachten kann, selbst in den entwickelsten westlichen Ländern. In anderen Weltregionen ist längst schon der Zeitpunkt überschritten, wo man das noch hätte bestreiten können. In dem Masse wie einerseits das geschieht und wie andererseits die Frage der Kritik an der Gesellschaft der Moderne bzw. die Frage ihrer Aufhebung - aus Überlebensgründen - zwangsläufig auf die Tagesordnung gerät (dies ist eben nicht mehr eine Frage der Ideologie), wird auch sichtbar, daß die Aufhebung der Warenbeziehungen nicht auf dem Boden der abstrakten Arbeit stattfinden kann. Deswegen bin ich auch auf die Kritik der Arbeitsontologie gekommen. Dadurch, daß das System der Verwandlung von Arbeit in Geld in die Krise kommt, stellt sich auch die Frage der Aufhebung von Arbeit. Aufhebung nicht in dem kruden Sinne, daß die Menschen jetzt untätig werden, sondern Aufhebung bezogen auf diese Form der Arbeit, auf diese Selbstzweckhaftigkeit (die in dem Begriff enthalten ist), auf das Protestantische im Gehalt der Arbeit (was übrigens Max Weber durchaus richtig erkannt hat). Diese Implikationen sind absolut obsolet und nicht mehr haltbar. Interviewer: Was heißt obsolet? In dem "Manifest" haben Sie geschrieben: Was zusammenbrechen kann, ist nur die stofflich-sinnliche Reproduktion in den alten Verkehrsformen, aber die Verkehrsformen selber, die der Wert herausgesetzt hat, können nur bewußt aufgehoben werden. Kurz: Ja. Interviewer: Das kann so aber nicht richtig sein, weil Sie zugleich schreiben (unter Verkehrsformen des Wertes fassen Sie ja Geld, Recht, Staat), daß sich auch das Geld selber in der Krise befindet. Also nicht nur die stofflich-sinnliche Reproduktion bricht zusammen, sondern auch die Verkehrsformen brechen gewissermaßen automatisch zusammen. Kurz: Das stimmt. Es läßt sich auch beobachten, daß die Institutionen, die diese Verkehrsformen tragen, auch zusammenbrechen. Aber was nicht zusammenbricht, das ist die Subjektform. Die Menschen können nur das, was die Verkehrsformen letztlich konstituiert (nämlich ihre eigene Subjektform), aufheben, indem sie diesen Zusammenhang erkennen und ein anderes Handlungsmuster entwickeln. Es mag ja alles zusammenbrechen. Es gibt heute bereits Regionen auf der Welt, in denen es keinen Staat, keine Warenproduktion, keine Infrastruktur mehr gibt. Statt dessen nur noch Terror, Mord, Banden, Plünderungsökonomien, die natürlich nicht lange haltbar sind. Aber die Menschen denken trotzdem noch in der Geldform weiter. Das heißt, ihr einziges Ziel ist, doch wieder an Arbeit und an Geld für sich selber heranzukommen. Und solange das so ist, existiert auch sozusagen in einer Trümmergestalt die Verkehrsform weiter, weil sie letztlich etwas Bewußtseinskonstituierendes ist. Nur weil die Institutionen zusammenbrechen, brechen also noch nicht die Verkehrsformen in ihrer elementarsten Gestalt zusammen. Denn die Bewußtseinsform und damit auch die Verkehrsform - in dem Sinne, daß man sich zu den anderen Menschen immer noch als Geldsubjekt verhält - können nur bewußt aufgehoben werden. Solange das Bewußtsein als Geldsubjekt bestehen bleibt, bleibt auch ein Rest dieser Verkehrsform erhalten und damit natürlich auch die Blockade einer Veränderung. Man kann das zum Teil sehen in Jugoslawien, Kaukasien, Somolia und überhaupt in vielen Teilen Afrikas - also Gesellschaften, in denen die Institutionen zusammenbrechen, weil der Basisprozeß der Verwandlung von Arbeit in Geld absolut nicht mehr gelingt. Und in dem Masse wie diese Barriere der Bewußtseinsform nicht überwunden werden kann, kommt nur der nackte Terror heraus: bewaffnete Banden und Massaker. Ich denke auch, daß hier der Punkt erreicht ist, wo man aus inhaltlichen und methodischen Gründen einfach auf der Ebene der Theorie nicht mehr weiterdiskutieren kann. Es gibt Verlaufsformen, die man unter keinem Begriff mehr fassen kann. Es sei denn unter diesem Begriff der Barbarei, der auch letztlich ein etwas hilfloser Begriff ist. Ich habe auch keinen anderen. Aber ich denke, da hört dann auch das Theoretisieren auf. Und wenn wir selber allmählich in den Zustand der Barbarei hineingeraten, dann hört natürlich auch die Theorie auf. Interviewer: Aber ist es nicht enthistorisierend, wenn man sagt, daß sich die Subjektform von allein erhalten kann, sich quasi objektiv selbst reproduzieren kann? Muß nicht vielmehr auch die Subjektform gebrochen sein, wenn - wovon Sie ja auch ausgehen - die inhaltliche Grundlage derselben verschwunden ist. Kurz: Ich gehe von einem Substanzverlust aus; das heißt, in dem Masse wie Arbeit durch vergesellschaftete Aggregate ersetzt wird bzw. die Sektoren, die im warenförmigen Sinn unproduktiv sind, sich überproportional ausdehnen, in dem Masse verschwindet das, was Marx die abstrakte Arbeitssubstanz der ganzen Reproduktionsform genannt hat. Und wenn die Substanz wegbleibt, dann vertrocknen eben auch die ausdifferenzierten Sphären (all das, was nicht mehr finanziert werden kann). Das ist heute, wie gesagt, bereits empirisch faßbar. Aber für mich ist genau an dem Punkt der Subjektform als solcher die Grenze erreicht. Die Frage ist nicht, ob die Subjektform bestehen bleiben kann, sondern ob diese sich selbst mit dem Automatismus des Zusammenbruchs abschafft. Die Determinierung hört für mich beim Zusammenbruch auf, der eben unausweichlich aus der Systemlogik selber kommt. Interviewer: Aber dann könnte doch auch die Subjektform zusammenbrechen. Sie muß ja nicht gleich automatisch zur Transzendenz führen, aber sie könnte ... Kurz: Sie bricht in dem Sinne zusammen - das ist natürlich richtig -, daß die Menschen verwildern und die Konkurrenz mit dem Mittel der unmittelbaren Gewalt weitergeführt wird. Aber die Subjektform als Geldsubjekt und damit als Konkurrenz- und Marktsubjekt kann nicht automatisch zusammenbrechen, weil sie die Bewußtseinsform selber ist. Die Institutionen können zusammenbrechen. Es kann alles nicht mehr funktionieren. Das erleben wir bereits in vielen Weltgegenden und ansatzweise auch bei uns. Aber die Subjektform kann nur durch Bewußtsein aufgehoben werden. Dies ist keine Frage einer abstrakten Normativität, sondern es stellt sich die Frage, ob überhaupt in dieser Form überlebt werden kann. Ich sage nein. Es läßt sich zeigen warum. Dann stellt sich die Frage der Transformation, und diese kann nur durch bewußtes Denken und praktisches Handeln geschehen. Insofern hört an dem Punkt der Automatismus auf. Interviewer: Sie reden vom Widerspruch zwischen den unmittelbaren gesamtgesellschaftlichen Produktionsaggregaten und den wertförmigen Verkehrsformen. Spiegelt dieser Widerspruch sich nicht in den Individuen, in den Subjekten selber wieder? Kurz: Ja, natürlich. Ich denke, daß auf der einen Seite heute sehr viele Bedürfnisse, die zum Teil dieser Modernisierungsprozeß selber erzeugt hat, nicht mehr in der Warenform erfüllbar sind. Auf der anderen Seite sind viele Bedürfnisse, die destruktiv sind, bereits soweit über ihre Grenzen hinausgegangen, daß die Subjekte das selber schon als leidvoll erleben. Auch die Bedürfnisbefriedigung selber. Man denke nur an den Massentourismus oder dergleichen. Immer mehr reift in den Subjekten selber ein Problemempfinden heran. (Ich bevorzuge diesen Ausdruck gegenüber dem des Problembewußtseins.) Dieses Problemempfinden führt (auch) zu zunehmenden psychischen Desintegrationsprozeßen. Also je mehr zum Beispiel in einer aberwitzigen Art und Weise von Professionalität die Rede ist, desto mehr Leute rasten eigentlich aus und fallen heraus, weil sie gar nicht mehr mit- und durchhalten können. Man erlebt das bis in das Management und die Politik herein: Auf allen Etagen brechen die Leute plötzlich einfach zusammen. Obgleich die Einsicht durchsickert, daß eigentlich niemand die warenförmigen Professionalisierungs-Ansprüche auf die Dauer aushalten kann, erleben wir noch einmal die letzte Anspannung. Mich erinnert das immer an die Art und Weise, wie eine Sekte sich aufrecht erhält, auch wenn es im Grunde nicht mehr weitergeht. Es wird nie gesagt, was wir machen ist eigentlich Blödsinn. Es wird immer gesagt: Leute, ihr müßt euch noch mehr und nochmals an den Riemen reißen, damit dann endlich das große Ziel gelingen kann. Und ähnlich werden heute überall auf der Welt die Menschen in die Form hineingetrieben. Es wird gesagt: Nein, jetzt müßt ihr noch einmal einen neuen Aufbau bewerkstelligen, noch mal euch an den Riemen reißen. Diese Aufbaumetapher hat ja auch etwas Irrsinniges an sich. Interviewer: Im "Kollaps der Modernisierung" reden Sie betreffs der inhaltlich-stofflichen Seite vom Kommunismus der Sachen. Kann man das denn auch auf die Individuen beziehen? Beispielsweise auf das Qualifikationsniveau etwa in dem Sinne, daß sich der Überblick über die Gesamtgesellschaft auch in den Individuen selber spiegelt. Oder ist der Kommunismus der Sachen bloß ein technologischer Ausdruck? Kurz: Nein. Das ist oft mißverstanden worden. Vielleicht habe ich mich da auch nicht präzise genug ausgedrückt. Das ist auch etwas, was auch noch nicht ausgegoren ist. Diese Ebene muß theoretisch noch weiter bearbeitet werden. Es ist auch die Frage, inwieweit sich auf dieser Ebene überhaupt ein Diskurs entwickeln läßt, weil man das als einzelner Theoretiker gar nicht leisten kann. Aber ich denke, ein guter Ansatz wäre die Betrachtung des Qualifikationsniveaus als solches. Das ist nämlich sozusagen kommunistisch vergesellschaftet. Dieses Qualifikationsniveau ist bereits unabdingbar Reproduktionsvoraussetzung geworden. Aber nur nach Kriterien der abstrakten Arbeit, des Geldes und des Marktes könnte es weder hergestellt noch reproduziert werden. Man erlebt das ja jetzt beispielsweise in den Gesellschaften der USA und Großbritanniens. Diese versuchen gerade auf der Ebene Marktkriterien gewaltsam durchzusetzen, so daß sie auch an Konkurrenzfähigkeit verlieren, paradoxer- oder ironischerweise. Interviewer: Die USA sind doch eines der prosperierenden Länder, gerade in den letzten Jahren. Kurz: Was die USA angeht, ist es seit ungefähr zwanzig Jahren ein Diskussionsgegenstand, daß ihre Konkurrenzfähigkeit zurückgeht, daß sie Weltmarktanteile verlieren, daß sich ihr Qualifikationsniveau mehr senkt als steigert, daß sie (sozusagen) nur noch einige Wasserköpfe von hochqualifizierten Privatinstituten haben gegenüber einem elendiglichen Allgemeinniveau. Ähnlich in Großbritannien, so daß übrigens die Industrieverbände in Großbritannien mittlerweile Sturm laufen gegen diese Politik der konservativen Regierung. Ihre Klage: Wir können so nicht wirtschaften mit den Menschen, die ihr uns hier anbietet und die unsere Weltmarktfähigkeit tragen sollen. Desgleichen haben sich die Japaner darüber lustig gemacht, daß sie zum Beispiel den local content - also die Vereinbarung, daß für die Produktionen der japanischen Fabriken in Großbritannien oder in den USA ein bestimmter Prozentsatz der Produktion aus dem jeweiligen Lande stammen muß und nicht aus Japan importiert werden darf - gar nicht erfüllen können. Die Japaner haben mehrfach nachgewiesen, daß das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte zu miserabel ist, so daß sie bestimmte Sachen in Großbritannien gar nicht herstellen können. Das sind bereits Indizien dafür, daß selbst so hochentwickelte Gesellschaften wie diese die gewaltsam-marktförmige Darstellung des allgemeinen Qualifikationsniveaus einfach nicht durchhalten können. Das ist für mich ein Indiz, daß das Qualifikationsniveau hinter dem Rücken der Marktsubjekte quasi kommunistisch ist. Interviewer: Allerdings haben ja immer weniger Menschen an diesem Qualifikationsniveau teil. Es ist eine immer kleinere Gruppe: auch in der Bundesrepublik, in Japan und in Westeuropa. Zudem steht die Qualifikationsverteilung im Spannungsverhältnis dazu, daß wir eine Weltgesellschaft haben, und von daher stellt sich die Frage, ob es Lösungswege für eine Weltgesellschaft geben kann? Kurz: Das Qualifikationsniveau, denke ich, ist ein gutes Beispiel, um den Widerspruch des Systems zu zeigen. Denn im säkularen Trend hat sich das Qualifikationsniveau gehoben. Das hatte mit der Alphabetisierung angefangen und entwickelte sich mit der Ausdehnung von höherer Schulbildung sowie der Extensivierung von allgemeinen gegenüber handwerklich-spezifischen Qualifikationen fort. Es ist heute ein größerer Teil der Menschheit und der nachwachsenden Generation als jemals zuvor - auch in der Dritten Welt übrigens - in allgemeine Qualifikations-Bildungsinstitutionen hineingekommen. Auf einem anderen Blatt steht, daß in der Marktwirtschaft ein Großteil nicht dem Qualifikationsniveau entsprechend beschäftigt werden kann. Und daß der Widerspruch auf der Ebene der Finanzierbarkeit auftaucht. Da haben wir wieder die Abhängigkeit der Subsysteme von der basalen Quelle, dieser Verwandlung von abstrakter Arbeit in Geld. Diese durch die Finanzierungsschwierigkeiten geprägten Widersprüche können nun gewisse Verlaufsformen annehmen wie zum Beispiel in England oder in den USA, wo der neoliberale Kurs einfach das Qualifikationssystem wieder senkt bzw. durch Privatisierung dessen Großteil stillegt oder einfach durch mangelnde Geldzufuhr die Qualifikationsstruktur verlottern läßt. Das Schulwesen verlottert dann eben. In vielen Ländern ist es mehr als verlottert und das ist dann wieder ein neuer Widerspruch. Da zeigt sich, daß die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt leidet, und man sich in Widersprüche verstrickt, die aber auf den basalen Systemwiderspruch verweisen. Interviewer: Das wäre schon ein Ausdruck des Zusammenbruchs. Könnte man das sagen? Kurz: Kommt darauf an, wieweit das gediehen ist. Interviewer: Und andererseits ist das natürlich eine Verminderung von Aufhebungspotentialen. Kurz: Da bin ich mir nicht so sicher. Man muß die Verlaufsformen ganz genau studieren und auch sehen, wie die Leute darauf reagieren. Im Prozeß von bloßer Verslumung vermindern sich natürlich die Aufhebungspotentiale. Aber es gibt ebenso andere Reaktionsformen. Es gibt auch - ich hoffe zumindest darauf - die Möglichkeiten von selbstorganisierter Qualifikation und von Anwendung von Qualifikation im subversiven Sinne. In dieser Hinsicht, denke ich, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. REFLEXIVITÄT, REFLEXIONInterviewer: Ulrich Beck spricht davon, daß der Epochenumbruch gekennzeichnet ist durch Reflexivität. Sie selber sagen, daß die Moderne ein reflexiver Gesellschaftstypus ist, weil die Verwandlung von lebendiger in tote Arbeit eine tautologische Selbstreflexion ist und damit ein selbstreflexives Verhältnis darstellt. Von daher ist zu fragen, ob nicht die Endkrise auch unter dem Reflexivitätsbegriff zu fassen ist. Im Zusammenbruch kommt also dieser reflexive Gesellschaftstypus endgültig zu sich, was sich unter anderem darin ausdrückt - das spielt bei Ihnen auch eine wichtige Rolle -, daß wir erst heutzutage eine weltgesellschaftliche Reflexivität im Sinne einer kapitalistischen Weltgesellschaft haben. Und ebenso existiert Ihrer Meinung nach erst heutzutage (der Begriff der Reflexivität ist auch immer nahe dem der Reflexion) die Möglichkeit, daß der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang reflektiert wird. Eine Reflexion des Gesamtzusammenhanges durch kommunistische Vergesellschaftungspotentiale. Ist also in dem angesprochenen Sinne der Reflexivitätsbegriff auch für Ihre Theorie nützlich zur Kennzeichnung des Epochenumbruchs? Kurz: Er ist schon nützlich. Aber natürlich muß man erst einmal ganz klar unterscheiden zwischen der systemtheoretischen Begrifflichkeit von Selbstreflexivität oder Selbstbezüglichkeit und dem aufklärerischen Begriff von Reflexion. Der Ausgangspunkt ist der bewußtlose Systemprozeß, der noch nicht einmal in der Theorie explizit angesprochen wird. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie ich das versuche. Die absurde bewußtlose Tautologie (also die Verwandlung von Arbeit in Arbeit, die Verwandlung der ganzen Welt in Verausgabungseinheiten abstrakter Arbeit und das Bekleben aller Dinge mit einem Preisschild) ist diese Selbstreflexivität. Die abstrakte tautologische Selbstbezüglichkeit des Systemprozesses im Sinne von kritischer Reflexion zu betrachten, wahrzunehmen, zu erkennen, auch darzustellen und womöglich gar praktisch aufzuheben, ist natürlich etwas völlig anderes. Da würde ich nicht mehr mit den Kategorien operieren, die zum Beispiel bei Beck erscheinen oder die in anderer Weise bei Habermas mit aufklärerischer Normativität verbunden sind. Denn ich denke, daß hier Folgendes gemacht wird (zumindest implizit, auch wenn man es vielleicht gar nicht will): Begriffe, die im Grunde aus der bewußtlosen Selbstbezüglichkeit des Systems stammen, verwandeln sich in normative Ideale. Zum Beispiel die Begriffe der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: also die berühmte Parole der französischen Revolution oder Demokratie bzw. Demokratisierung. Ich denke, daß das alles Systembegriffe dieser Bewußtlosigkeit sind. In dem Begriff der Demokratie zum Beispiel ist schon begrifflich, der Wortbedeutung nach der Begriff der Herrschaft enthalten. Selbstbeherrschung heißt ja nicht unbedingt, mit kritischer Selbstreflexion die Natur und sich selber nach Kriterien sinnlicher Vernunft wahrzunehmen, sondern es kann auch heißen, sich selbst im protestantischen Sinne zu knuten, sich selbst freiwillig der Knechtschaft der totalen Geldform zu unterwerfen. Das ist für mich letztendlich der Prozeß der Demokratisierung. Gleichheit ebenso. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz ist letztendlich die Gleichheit, die sich durch die gemeinsame, unterschiedslose Unterwerfung unter die volonté générale der totalen Warenform herstellt. Das ist eigentlich der Inhalt. Bei Brüderlichkeit wiederum fällt die Schwesterlichkeit weg. Also selbst dieses Postulat ist noch von der Fetisch-Konstitution des Systems gedacht. So daß ich letztendlich der Meinung bin, daß diese Begriffe im Grunde genommen nichts anderes hergeben, als die bewußtlose Selbstbezüglichkeit des Systems in eine idealisierte Normativität zu verwandeln. Die Aufklärung hat nun von Anfang an die eigene Vergesellschaftungsform, in die man damals erst langsam hineingekommen ist, zum "Ende der Geschichte" oder zu der einzig denkbaren menschlichen Gesellschaft schlechthin erklärt. Es muß dagegen durchbrochen werden, den eigenen Zustand mit Vernunft schlechthin gleichzusetzen und den Anspruch der kritischen Selbstreflexivität ausgerechnet mit den Kategorien dieser neuen Form von Bewußtlosigkeit darzustellen. Das sind natürlich Tabubereiche. Wenn ich sage, Demokratiekritik ist angesagt, wird mir jeder Modernisierungstheoretiker in dem bisherigen Sinne, einschließlich Beck oder Habermas, natürlich sofort sagen: Was, willst du zum totalitären Staat? Damit wird der historische Prozeß gar nicht auf den Begriff gebracht. Für mich hingegen ist dieser totalitäre Staat ein Durchsetzungsstadium der Demokratie selber. Das könnte man im historischen Prozeß gut zeigen. Gestützt durchaus auch auf einige Modernisierungstheoretiker wie Dahrendorf zum Beispiel, die diesen Zusammenhang ansatzweise gesehen haben, wenn auch selber affirmativ zurechtgebogen. Aber wenn man an diesem Punkt angelangt ist, dann kann man mit den Begriffen einer abstrakten, aufklärerischen Normativität, die sich - in ihrer idealen Überhöhung - für Normativität und kritische Reflexivität überhaupt hält, nichts mehr anfangen. Dann stellt sich die Frage zunächst bescheidener: Wie kommen wir aus der Krise heraus und wie gelingt es uns, in menschlich erträglichen Reproduktionsformen die Dinge dieser Welt (den Menschen selber darin eingeschlossen) nach Kriterien einer zu entwickelnden sinnlichen Vernunft zu behandeln? Somit bescheidener, insofern es ansteht, nach dem Gegenstand selber zu verfahren und nicht nach einer von außen her an ihn angetragene abstrakte Methode, deren Urpunkt letztlich die Geldlogik ist. Aber auch unbescheiden gilt es, kritischer gegenüber dieser bewußtlosen Fetisch-Konstitution selber zu sein. Die große Schwierigkeit ist dabei, Tabubereiche zu durchbrechen, diese überhaupt anzusprechen. Freiheit, Gleichheit, Demokratie sind schließlich alles hochtabuisierte Begriffe. Ungefähr so wie etwa vor 100 oder 150 Jahren der Begriff der Demokratie selber sozusagen die Obszönität schlechthin war für die damals herrschende Bewußtseinsform, wäre heute wahrscheinlich eine veränderte Begrifflichkeit und ein korrelierendes praktisches Handlungsinstrumentarium für Theoretiker und Systemrepräsentanten - die mit aller Gewalt nichts weiter wollen, als die Moderne in ihren Basiskategorien irgendwie weiterzuverlängern - genauso obszön oder unerträglich. Aber, ich denke, daran führt kein Weg vorbei. Interviewer: Um noch einmal auf den Reflexivitätsbegriff (unabhängig von dem Revolutionsbegriff) zu sprechen zu kommen die Frage: Inwieweit ist es wichtig für den Zusammenbruch, daß wir heutzutage in einer durchgesetzten warenproduzierenden Welt leben? Inwieweit ist dieses Moment von Reflexivität für die Krisendynamik entscheidend? Das Hauptargument von Ihrer Zusammenbruchstheorie ist ja dagegen die immanente Produktivkraftentwicklung, also das Umkippen des Verhältnisses zwischen variablem und konstantem Kapital. Jedoch läßt sich in Ihren Schriften auch die Pointierung der weltgesellschaftlichen Dimension feststellen, denn Sie heben die für die Krise eminente Bedeutung des Versagens des Kompensationsmechanismus (die Möglichkeit, neue Märkte erobern zu können) hervor. Kurz: Es gibt in der ökonomischen und wirtschaftspolitischen Debatte mittlerweile diesen Begriff der Globalisierung. Dieser impliziert Internationalisierung der Finanzmärkte, Internationalisierung der Produktion, internationale Zerlegbarkeit einzelner Produktionsschritte, so daß heute ein großer Teil des Welthandels überhaupt nicht mehr aus den Import-Export-Strukturen im alten Sinne stammt. Viele deutsche Firmen lassen ihre Produkte über die halbe Welt verteilt herstellen und dann irgendwo montieren. Wenn das dann als Import-Export erscheint, gibt es den wirklichen Sachverhalt nicht wieder. Es ist vielmehr die internationale Zerlegung von Produktionsprozessen. Das hat die Entsprechung auf der Ebene der Finanzmärkte, und das führt dazu, daß dem Subsystem der Politik auf diese Weise zusätzlich das Wasser abgegraben wird. Denn der Bezugsrahmen der Politik ist immer der Nationalstaat (in welcher Form auch immer) oder jedenfalls ein partikulares Staatsgebilde, das niemals total sein kann, also den Weltmarkt als Ganzes einbegreifen kann. Der Weltstaat ist eine Negativ-Utopie, die sich nicht herstellen läßt. Schon aus dem Begriff des Staates selber - was jedoch eine eigene Debatte wäre. Ich denke auch, daß heute die wenigsten diese Weltstaat-Utopie irgendwie hegen. Aber der Zusammenhang besteht genau darin, daß die Produktivkräfte (Mikroelektronik, Computerisierung, Automatisierung und gleichzeitig aber Verwissenschaftlichung, Ausweitung der infrastrukturellen Aggregate, Tertiarisierungsprozeße), die diese Internationalisierung herstellen, auch die kapitalistische Arbeit obsolet machen. Diese ist erstmalig in der kapitalistischen Geschichte einem Schrumpfungsprozeß unterworfen. Der Prozeß der Globalisierung ist nicht beendet. Wir sind mitten drin. Es erscheint so etwas wie das, was mit dem Kürzel der one world benannt wird. Der Weltmarkt ist also nicht mehr eine sekundäre Sphäre der in sich kohärenten Nationalökonomien, sondern ein unmittelbares Bezugssystem der sogenannten Wirtschaftssubjekte. Damit wird die Politik ausgehebelt. Die staatliche Sphäre wird im Grunde in ihrer Handlungsfähigkeit begrenzt. Der Staat wird zur Geisel der Standortfrage und der Finanzmärkte, die sich mit den nationalökonomischen Kontrollinstrumenten nicht mehr beherrschen lassen. Und das heißt letztendlich, es entsteht auf der einen Seite eine gleichsam Übervergesellschaftung mit riesigen interkontinentalen Reproduktionen und Distributionen. Zum Teil auch in einer absolut aberwitzigen Weise, die vom Stofflich-Inhaltlichen her überhaupt nicht notwendig wäre. Und auf der anderen Seite ist es gleichzeitig eine eigene Ebene der Krise. Man könnte ironisch sagen: In dem Maße, wie das Kapital seinem Begriff entspricht (sich wirklich als globales Gesamtsystem hergestellt und das kapitalisierte Geld sich damit über die nationalökonomischen Beschränkungen hinaus entwickelt hat), stößt es auch an seine absolute Grenze. Das Identischwerden mit seinem Begriff ist sozusagen auch das Ende seiner Möglichkeit. Inwieweit diese Entwicklung nun positiv zu wenden ist, wage ich nicht vorwegzunehmen. Denn ich denke, daß einerseits damit sicher auch Möglichkeiten geschaffen worden sind, die bei einer Aufhebung wahrgenommen werden können. Andererseits sind aber auch Unstimmigkeiten entstanden. Man nehme beispielsweise diesen Bananenstreit. Oder die kontinentale Distribution der Tomaten, mit der man ungeheure Umweltschäden in Kauf nimmt. Oder der in den Nordländern zu beobachtende Konsum von Fleisch in ungesunden Übermengen, so daß die halbe Welt nichts zu essen hat, nur damit unsere Rinder gefüttert werden. All diese Zusammenhänge gehören zu dem Prozeß der Totalisierung. Ich denke, es wäre hier unter dem Aspekt einer Aufhebungsbewegung, die so etwas wie sinnliche Vernunft entwickelt, auch eine Diversifikation nach sinnlichen Inhalten von zentraler Bedeutung. Will sagen: Auf bestimmten Ebenen kann man diese Globalisierung als sinnvoll erkennen und auch im Prozeß einer Aufhebungsbewegung anwenden; auf anderen Ebenen muß die Unsinnigkeit bestimmter Globalisierungsformen zugegeben und deren baldige Beendigung angegangen werden. Das Ziel muß heißen: dem Gegenstand, dem sinnlichen Inhalt adäquat zu handeln. Ich denke, daß man hier kein allgemeines Prinzip mehr aufstellen kann. Entweder die totale Globalgesellschaft oder wieder der abgeschottete Nationalstaat (oder gar Autarkiephantasien von einer abgeschotteten Region). Heutzutage gehen all diese Überlegungen kunterbunt durcheinander, und in irgendeiner Weise versucht man, sich an ein allgemeines Prinzip zu klammern. Ich denke, das ist unsinnig. Es gibt eben diese verschiedenen Ebenen, und die Frage wäre so zu diversifizieren, daß sie jeweils dem sinnlichen Inhalt adäquat gestellt ist. Aber diese Kriterien einer sinnlich-konkreten Vernunft haben wir momentan nicht. ARBEITSTEILUNG, SPHÄRENTRENNUNGInterviewer: Jetzt ein anderer Bereich: Was auffällt ist, daß Sie sich in letzter Zeit in der Auseinandersetzung auch für die Systemtheorie geöffnet haben, und dementsprechend ändert sich zum Teil auch Ihr eigenes Vokabular. Sie haben 1987 noch von der Aufhebung der Arbeitsteilung als Perspektive der Aufhebung der Warenform gesprochen. Das tun Sie mittlerweile nicht mehr, vielmehr reden Sie von der Aufhebung der Sphärentrennung. Wie läßt sich das erklären? Kurz: Ich habe es vorhin schon einmal angedeutet: Eine absolute Aufhebung der Arbeitsteilung oder der Spezialisierung für bestimmte Tätigkeiten ist unsinnig. Aber es gibt eine alte Diskussion über diese Aufhebungsfrage. In dieser Diskussion wird jedoch unkritisiert der Arbeitsbegriff übernommen. Es geht eigentlich um die Frage der Reproduktionstätigkeiten, die eben nicht als Arbeit grundsätzlich firmieren müßten. Aber davon abgesehen gab es schon bei den Utopisten des vorigen Jahrhunderts das Problem der Unterscheidung von horizontaler und vertikaler Arbeitsteilung, wobei die Subordination von Menschen unter eine geistlose, abstrakte Arbeitstätigkeit beklagt wurde. Diese Diskussionen sind auch weiterhin unverzichtbar. Eine andere Seite ist die Aufhebung - das halte ich für wichtiger - dieser Trennung in Funktionssphären. Denn wenn wir von Arbeitsteilung sprechen, meinen wir - gerade auch unter dem Eindruck der systemtheoretischen und strukturalistischen Untersuchungen - gar nicht mehr Arbeitsteilung im Sinne der unmittelbaren Reproduktionsprozesse (also Herstellung in den drei Sektoren: primärer, sekundärer, tertiärer Sektor), sondern damit sind mittlerweile sämtliche ausdifferenzierten Sphärentätigkeiten gemeint. Und in dem Sinne der Aufhebung dieser funktionalistischen Sphärentrennung, die ja funktionalistisch immer im Sinne dieser Logik des Geldes ist, habe ich die Aufhebung von Arbeitsteilung im Auge. Das, denke ich, ist der entscheidende Punkt. Und dazu kommt dann noch die Aufhebung dieser Trennung in die geschlechtlichen Sphären, also die Abspaltung der nicht warenförmig erfaßbaren Bereiche in die Weiblichkeitssektoren. Aufzuheben wäre somit die geschlechtsspezifische Abspaltung und gleichzeitig die funktionalistische Sphärentrennung. Im Grunde ergibt sich daraus das Problem, für das es einen alten und, wie ich denke, auch weiterhin zutreffenden Ausdruck gibt: Selbstverwaltung. Selbstverwaltung nicht in diesem engen, reduzierten Sinne, wie es auch verwendet wird, sondern Selbstverwaltung in einem umfassenden gesellschaftlichen Sinne. Will sagen: Daß jeder Mensch unmittelbar an der gesellschaftlichen Reproduktionstätigkeit beteiligt ist und dabei über das "Wofür" sowie das "Wozu" der gemeinschaftlichen Angelegenheiten bestimmt. Damit stellt sich auch die Frage der Aufhebung der Politik als einer getrennten Sphäre. Nun war dieser Selbstverwaltungsgedanke nie völlig auszurotten. Insofern kann man hier, denke ich, auch an einem Empfinden anknüpfen, das nie (auch nicht unter dem Diktat der Systemfunktionalität) vollständig ausgelöscht werden konnte. Das wäre positiv aufzugreifen. Jedoch gilt es - auch in Form von Begriffsanstrengung - den Selbstverwaltungsgedanken auszuweiten: weg von dieser verengten Vorstellungswelt, in der man sich bloß innerhalb der totalen Warenform selbstverwaltet. Beispielhaft dafür ist die Alternativbewegung mit der Vorstellung, Selbstverwaltung verwirklichen zu können in Betrieben, die an der allgemeinen Warenproduktion und Geldverdienerei teilnehmen. Das ist natürlich gescheitert, denn die funktionalistische Sphärentrennung und damit auch die Ausdifferenzierung bis in den Betrieb hinein ist mit der Geldform als solcher gesetzt. Interviewer: Das verweist auf einen wichtigen Punkt. Ulrich Beck hat verschiedenen Phänomene wie die Ökologiebewegung und den Feminismus unter den Begriff Entschmelzung von System und Lebenswelt gefaßt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die Menschen nicht mehr bloß adaptive Funktionsträger der Systeme sind, sondern auch kritisch werden. Immer mehr Menschen entwickeln einen kritischen Bezug zu dem ökonomischen und den anderen Systemen. In diesem Zusammenhang wird auch von soziokulturellen Umbrüchen gesprochen. Wie sind diese soziokulturellen Umbrüche in der jüngsten Vergangenheit zu bewerten? Sind sie ein Ausdruck der Krise? AUFHEBUNGSPOTENTIALEKurz: Ja, unbedingt. Ich denke, daß schon die 68er Bewegung sozusagen der erste Anlauf war. Das war schon keine Arbeiterbewegung im alten Sinne mehr. Auch wenn die entsprechende Ideologie - in so einer Art postmoderner performance - noch mal durchgespielt worden ist. Wiewohl man sich damals noch nicht darüber bewußt war, hat man alles noch mal bühnenreif durchprobiert. Aber das war keine Modernisierungsbewegung im alten Sinne mehr, was anschaulich wird an den Anlässen, an den teilnehmenden Subjekten, an den Bedürfnissen und an dem, was alles thematisiert worden ist. Die APO hat zwar nochmals Elemente einer Modernisierungsfunktion gegenüber dem überlebten Adenauer-Regime übernommen. (Beispielhaft der Kampf gegen den "Muff unter den Talaren von 1000 Jahren".) Der Modernisierungsimpuls war aber ein letzter und wohl ziemlich schwacher Impuls, weil gleichzeitig die Krise schon langsam Konturen gewonnen hatte und die Modernisierung an ihre Schranken gestoßen war. Nun wurden doch sehr viele, völlig uneingelöst gebliebene Fragen thematisiert, gleichviel sie auch wieder systemfunktional zurückgebogen worden sind. Beispielsweise Selbstverwaltung, Fragen einer alternativen Kindererziehung, Sexualität, die psychische Seite des Ganzen. Alles Dinge, die in der Arbeiterbewegung keine sonderlich entscheidende Rolle gespielt hatten. Die Träger waren ja auch andere. Die 68er waren schon Ausdruck dieser säkularen Qualifikationsprozesse. Es zeigte sich bereits der systemische Widerspruch: Potentialität sowie Ausdehnung der allgemeinen Qualifikation und gleichzeitig die Unmöglichkeit aufrechterhaltener Systemfunktionalität. Insofern denke ich, das war schon der erste Anlauf. Und die neuen sozialen Bewegungen, denke ich, waren der zweite Anlauf. Vieles davon ist in Latenz zurückgeblieben. Es ist ja nicht so, daß alles einfach verschwunden wäre. Vieles ist aber auch erst einmal gescheitert. Zum Beispiel der Selbstverwaltungsgedanke, weil man ihn nicht auf die Gesamtgesellschaft und auf das eigene Dasein als gesamtgesellschaftliches Wesen bezogen hat, sondern mit einem quasi betriebswirtschaftlichen, partikularistischen Sinne versehen hat. Aber was jetzt unter dem erweiterten Krisendruck ansteht, ist die Aufarbeitung dieser Erfahrung. Das geschieht noch nicht oder kaum, denn dazwischen lag der Kasinokapitalismus. Also diese Reagonomics-Thatcherism-Ära, der Spekulationsboom, dieses Strohfeuer, diese Scheinprosperität. Statt ihre Mißerfolge und ihr Scheitern im ersten Anlauf zu verarbeiten, haben sich in dieser Zeit auch die Linken und Alternativen mit dem Aktenköfferchen auf dem Marktwirtschaftstrip wiedergefunden. Dies wurde dann noch verstärkt durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus, der meiner Ansicht nach völlig falsch interpretiert worden ist: als Scheitern der Alternative. Diese Fehlinterpretation nahmen merkwürdigerweise zum Teil Leute vor, die nie etwas mit dem Staatssozialismus zu tun und diesen als Linke sogar kritisiert hatten. Und jetzt zeigt sich immer deutlicher, daß dieser Marktwirtschaftstrip wirklich ein Horrortrip ist, den man nicht durchhalten kann und dessen Versprechungen sich für die Allermeisten als Schaum enthüllt. Ich denke, daß in den nächsten Jahren auch neue Bewegungsabläufe kommen werden. Interviewer: Heißt das, daß sich eine Krisentheorie, die gerade die Aufhebungspotentiale im Blick haben möchte, verstärkt der Lebenswelt zuwenden muß? Kurz: Ja, unbedingt. Ich denke auch, daß man das Weitertreiben dieser Wertform- und Arbeitskritik und die Weiterentwicklung der Krisentheorie verbinden muß mit einer Hinwendung zu den lebensweltlichen Prozessen. (Auf diese Weise geht man auch in Tabubereiche hinein, die Leute wie Beck oder Habermas in ihrer Analyse meiden.) Die Hinwendung zur Lebenswelt sollte nicht nur Gegenstand der Untersuchung sein, sondern sie sollte auch, soweit es möglich ist, aktive Teilnahme implizieren. Es muß Ausschau gehalten werden nach dem, was es denn in der Gesellschaft gibt. Die ist ja nicht tot wie die Wüste Gobi. Es gibt schon allerhand Aufhebungspotentiale - nur ist das nicht im Blickfeld der Sozialwissenschaften. Diese Potentiale sollten nun wenigstens ins Blickfeld einer kritischen Aufhebungstheorie geraten. SYSTEM UND LEBENSWELTInterviewer: Kann man denn überhaupt System und Lebenswelt gegeneinander stellen? Letztendlich sind es ja die Systeme, die die Lebenswelt der Individuen prägen. Kurz: Ich denke, daß man diese Gegenüberstellung in der Vergangenheit noch machen konnte, jedoch negativ. (Letztendlich speiste sich aus diesem Gegeneinander auch der phänomenologische Ursprung des Lebensweltbegriffs; späterhin folgte die diesem Argumentationsfeld entsprechende Begriffsverwendung bei Habermas.) Die Lebenswelt war ja nichts weiter als die Restbestände der vormodernen Reproduktionsformen. Sie wurde von all den Bereichen gebildet, die nicht über Geld organisiert waren, sondern noch eigene Reproduktionszusammenhänge darstellten. Es gehört dabei auch zu der emanzipatorischen Seite der Modernisierung, die Systemimperative auf die Lebenswelt auszuweiten. Die andere Seite der emanzipatorischen Potentiale des Prozesses der Verwissenschaftlichung, der Monetarisierung, der Verrechtlichung der Lebenswelt setzt sich jedoch zusammen aus Systemzumutungen und die Auslieferung bzw. die Selbstauslieferung an einen unbeherrschbaren Zusammenhang. Ich denke, daß man heutzutage in der Tat nicht mehr von einem Widerspruch zwischen System und Lebenswelt sprechen kann. Denn zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten sind die einst getrennten Bereiche fast deckungsgleich geworden. Aber jetzt kommen die Widersprüche in dem Sinne zum Tragen, daß sich im Prozeß der Krise so etwas wie Lebenswelt wieder neu konstituiert. Dies geschieht zwar auch wieder negativ, aber in einer neuen Weise, nämlich jetzt als Leiderfahrung: Man kommt mit den Systemerfahrungen nicht mehr zurecht, weil der Systemprozeß nicht mehr gelingt. Solange man eben zur Arbeit gehen kann, sein Geld verdient, seine Freizeit und seinen Spaß hat, scheint alles zu funktionieren, gleichwohl dabei vielleicht die Umwelt zerstört wird. Jetzt kommen aber die Einbrüche von allen Ebenen her: Die Umweltzerstörung ist weit fortgeschritten und die basale Verwandlung von Arbeit in Geld gelingt nicht mehr, was immer mehr Leute erleben. Damit sind ja nicht nur diese Grundprozesse angesprochen, sondern gleichzeitig auch sehr subtile sozialpsychologische Prozesse, die die Form von Auflösungsprozessen annehmen. Dazu gehören auch Erscheinungen wie die Punks am Bahnhof, die Bettler, die Kinder, die auf der Straße leben, und die Mitglieder irgendwelcher Jugendcliquen und Banden. Es gibt tausend Erscheinungsformen der Krise. Genauso zähle ich auch dazu Leute, die in den Slums (diesen verbrannten Gebieten der Marktwirtschaft) so etwas wie die people economy versuchen. Das alles sind Formen von negativer wie positiver Rekonstitution von Lebenswelt unter dem Krisenprozeß. Es geht also darum aufzuzeigen, wie Menschen auf die Unhaltbarkeit der Totalisierung des Systemprozesses reagieren und dabei vielleicht auf neue Weise so etwas wie eine Konstitution von Lebenswelt bewerkstelligen. Die Reaktion kann auch barbarisch sein, sie kann auch die Form von Bandenkriegen annehmen. Aber auch ein Bandenkrieg ist nicht mehr unbedingt direkt systemfunktional. Interviewer: In diesem Zusammenhang haben Sie auch schon von der Aufhebung des alten fordistischen Sozialsystems gesprochen. Creydt hatte Ihnen daraufhin - in einem Artikel - vorgeworfen, daß Sie Becks Individualisierungstheorie auf eine Revolutionstheorie zurechtstutzen. Bis zu einem gewissen Grad beziehen Sie sich nun sicherlich auch auf Beck und andere Theorien, die diese Individualisierung hervorheben. Inwieweit bilden diese Individualisierungstheorien wirklich elementare Voraussetzungen der Krisenwirklichkeit ab, damit die Systemwidersprüche sich auch in eine systemtranszendierende Kraft verwandeln? INDIVIDUALISIERUNGKurz: Die an mich gerichteten Vorwürfe von Altmarxisten, die selber noch an dieser Klassenkampftheorie hängen, sind einfach gegenstandslos. Vom Standpunkt dieser alten Klassenvorstellungen und damit auch der Arbeitsontologie kann man überhaupt keine Gesellschaftskritik mehr leisten. Mir ist es einerlei, daß ich mit meinen Aussagen irgendwelche marxistischen Paradigmen verletze. Die alte marxistische Paradigmenwelt hat keine Bedeutung mehr. Ich denke, man kann das so hochmütig sagen. Ich weise jedoch zurück, daß ich versuche, die Becksche Individualisierungsthese revolutionstheoretisch zu wenden. Wie soll man das auch unmittelbar machen? Das Individualisierungstheorem ist insofern von Bedeutung, daß es zunächst eine schlichte Faktizität ist. Wir erleben nun einmal den Prozeß der Individualisierung. Die Individualisierung findet dabei in der totalen Warenform und durch die Warenform statt. Der Klassenkampf, der meines Erachtens Speerspitze der Modernisierung innerhalb der Warenform gewesen ist, verfällt natürlich in dem Maße, wie er sein Ziel erreicht: alle Menschen in die Warenform einzubinden, beispielsweise als vollgültige Rechtssubjekte. Und dann setzt bei weiterer Ausdifferenzierung natürlich der Individualisierungsprozeß ein. In seinen negativen Erscheinungen ist er erst einmal Monadisierung, so weitgehend, daß alle Menschen durch Glaswände voneinander getrennt erscheinen. Die Ausbreitung von singles ist für mich - zumindest tendenziell - die abstrakte Individualität an ihr Ende getrieben. Wirklich aushalten kann diese Monadisierung kein Mensch. Dementsprechend erleben wir ja, wie Beck übrigens auch zeigt, einen durchaus fluktuierenden Prozeß. Dies kommt zum Tragen durch den schönen Begriff der seriellen Monogamie, mit dem der Wechsel der Lebensformen ausgedrückt werden soll: Single-Dasein, dann wieder Paar-Beziehung, darauf Wohngemeinschaft usw. Diese bestimmte Lebensweise ist unhaltbar in der Form selber, was noch nicht genügend im Blickfeld ist. Aber im positiven Sinne bedeutet diese Individualisierung die Abkehr von dem selber noch vom Modernisierungsprozeß konstituierten Kollektivbewußtsein, was nichts anderes ist als fetischistisches Gruppenbewußtsein und protestantisches Pflichtbewußtsein. All diese Unterwerfung unter eine Pflichtzumutung (ob sie sich nun qua Klasse oder qua Partei vollzieht) ist selber noch Teil dieses Modernisierungsprozesses und ein unabhängig vom eigenen Bewußtsein konstituierter, formbestimmter Zusammenhang. Die Individualisierung ist Voraussetzung, diese alten Formen von Zusammenschluß, die auch in den oppositionellen Bewegungen der Vergangenheit anzutreffen waren, zu überwinden. Positiver formuliert: Wenn sich individualisierte Menschen unter dem Kriseneindruck zusammenschließen, kann das nicht mehr geschehen unter einem vorausgesetzten Pflichtzumutungsbewußtsein, sondern nur noch unter einem kritischen Bewußtsein im Hinblick auf sinnliche Vernunft. Beispiele dafür sind Phänomene wie die Ökologiebewegung und zum Teil der Feminismus (auch wenn sich inzwischen dieser in einigen Teilen allmählich vermarktwirtschaftlicht). Dazu gehören auch viele Ein-Punkt-Bewegungen der 80er Jahre. Es entstehen also freiwillige Zusammenschlüsse von Individuen, die nicht mehr direkt von einer konstituierten Subjektivität ausgehen. Will sagen, daß die Individuen sich nicht als Klasse (als etwas, was sie an sich sind, wie das in der Hegelschen Terminologie so schön heißt) konstituieren, sondern Zusammenschlüsse rein aus dem Bewußtsein der Menschen gegenüber den Systemzumutungen oder den Krisenprozessen resultieren. Der Prozeß läuft auf eine neuartige Form von (wie man sagen könnte) organisierter Individualität hinaus, die sich jetzt gegen den Konstitutionszusammenhang in seinen negativen Aspekten wendet. Aber die Individualisierung kann auch zu weit getrieben werden. Es existiert ja nicht nur die Möglichkeit, daß der freiwillige, bewußte Zusammenschluß organisierter Individualität gegenüber Krisen und Systemzumutungen entsteht, sondern es kann auch Abträgliches resultieren: das Infantilwerden, das Lächerlichwerden, die Unernsthaftigkeit, das Durchdrehen, die Überindividualisierten, die zu gar keinem Zusammenschluß mehr fähig sind (noch nicht einmal zu einem geschlechtlichen). Ein Zustand, in dem alles in allem eigentlich gar nichts mehr geht. Ich fürchte, daß zumindest ansatzweise dieses Überschreiten der Individualisierungsschranke in unserer Gesellschaft schon stattgefunden hat. Insofern wäre, so paradox es auf den ersten Blick klingen mag, die Art und Weise wie im Osten, in Osteuropa, in Ostdeutschland die Systemkrise erlebt wird vielleicht ein Korrektiv. Ein Korrektiv, insofern (das ist alles noch nicht ausgegoren) zumindest die Überindividualisierung dort nicht mitgemacht wurde. Man kann jetzt natürlich sagen: Sie haben noch zu wenig Individualisierung, sie stehen noch unter diesem Pflichtzumutungszusammenhang. Der ist jedoch zum großen Teil weggeblasen und die Menschen stehen jetzt sozusagen im Regen. Nun habe ich selber schon die Erfahrung gemacht, daß Leute aus dem Osten auch mit einem unglaublichen Staunen vor dem Individualitätsschwachsinn des Westens stehen. Sie können gar nicht glauben, wie man so verrückt sein kann. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise ist die Ungleichzeitigkeit. Und wo jetzt diese Barriere der getrennten Systeme weggerissen worden ist, kommt diese Ungleichzeitigkeit zu seltsamen Mischungsformen. Der Vereinigungsprozeß und die historische Aufarbeitung der DDR bzw. des Staatssozialismus ließen sich nun der Möglichkeit nach auch kritisch wenden. Eine kritische Betrachtung des westlichen Prozesses der Individualisierung sollte dabei nicht vom Standpunkt der DDR-Vorvergangenheit, sondern vom Standpunkt der jetzigen Möglichkeiten aus formuliert werden. Es wäre die Frage zu stellen, wo sind die Umschlagspunkte. Interviewer: In "Honeckers Rache" gehen Sie noch sehr kritisch mit der gesellschaftlichen Verfasstheit der Ostgesellschaften ins Gericht. Sie sprechen von dem Fortwirken der preußischen Kasernentradition. Kurz: Ja, ja. Diesen Standpunkt vertrete ich auch ohne Abstriche nach wie vor, aber darin geht die Entwicklung nicht auf. Es würde beispielsweise heute selbst in Ost-Berlin keiner mehr im Stechschritt marschieren wollen. Auch in der Hinsicht hat es längst Zersetzungsprozesse gegeben, zum Beispiel in der Jugend. Es sind jetzt die alten Pflichtzumutungs- und Formzusammenhänge weg. Aber in der westlichen Individualisierungsform, die eben zum Teil schon über ihr Ziel hinausgeschoßen ist, befinden sich die Ostdeutschen auch nicht. Es geht also um zwei verschiedene Formen von Obsoletheit oder von Unhaltbarkeit, und die Frage ist, wie sich das jetzt weiterentwickeln wird? In Ostdeutschland ist die Vorausgesetztheit der Nation noch viel ungebrochener im Bewußtsein verankert als im Westen (unabhängig davon, ob jemand links oder rechts ist, antirassistisch oder rassistisch). Das wäre so ein Punkt, wo man sich vom Westen her kritisch verhalten und sagen müßte: Die kohärente Nationalökonomie könnt ihr euch abschminken; auf dieser Schiene kann man nicht weiterfahren. Umgekehrt, wie gesagt, könnte die westliche Subjektform vom Osten aus kritisch betrachtet und analysiert werden. Nur müßte in der Hinsicht ein bißchen mehr passieren. Ich habe den Eindruck, daß die Leute mit analytischen Fähigkeiten immer noch paralysiert sind. Aber ich glaube, daß an Stelle bisheriger Weinerlichkeit und Anpaßenwollens irgendwann auch mal Formen kritischer Reflexion treten werden. Interviewer: Eine Transformationsbewegung muß also nicht von der Bundesrepublik ausgehen? Kurz: Nein, auf keinen Fall. Nein das ... Interviewer: Es ist demnach nicht der unsrige Entwicklungsstand des Kapitals erforderlich, um ... Kurz: Nein, das wäre mechanizistisch. Ich denke, daß das Entwicklungsniveau eigentlich auf der ganzen Welt hoch genug ist. Es handelt sich ja bei den Gesellschaften der ehemaligen "Zweiten Welt" und der "Dritten Welt" nicht um irgendwelche Agrargesellschaften mit vormodernen Menschen. Diese Einschätzung stimmt noch nicht einmal mehr bezüglich der Amazonas-Indianer. Insofern muß auch in Ostdeutschland nicht der westliche Individualisierungsprozeß bis über die Schwachsinnsgrenze hinaus durchgemacht werden, damit dort mal eine grundlegende gesellschaftliche Kritik formuliert werden kann. ÖKOLOGISCHE KRISEInterviewer: Ulrich Beck insbesondere hebt hervor, daß die neuen ökologischen Risiken und Zerstörungen in der Gesellschaft eine ganz neue Konfliktlogik und Dynamik hervorbringen. Inwieweit könnte nun Ihrer Meinung nach die ökologische Krise Einfluß auf die soziale und politische Dynamik der Moderne nehmen? Kurz: Ja, die ökologische Krise hat natürlich einen Einfluß. Aber ich denke, daß Ulrich Beck hier systematisch das Ökonomische und Sozialökonomische ausklammert. Man kann nicht davon sprechen, daß jetzt die ökologische die ökonomische Krise bezüglich der Konstituierung des grundlegenden Problem- und Konfliktzusammenhanges ersetzt hätte; das Gegenteil ist vielmehr der Fall, insofern sich nämlich diese beiden Krisenprozesse zu überlagern beginnen. In diesem Kontext entstehen auch neue, mitunter aberwitzige Konfliktformen. Einerseits ist die ökologische Schranke sichtbar geworden und auch ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, und andererseits wird unter dem Systemdiktat der abstrakten Arbeit und des Geldverdienens der Naturzerstörungsprozeß sogar bewußt weitergetrieben. So werden gerade unter dem Eindruck der ökonomischen Krise selbst in einem bisherigen Weltmarktgewinnerland wie der Bundesrepublik die ökologischen Auflagen brutal heruntergefahren: zum Beispiel für die Bauindustrie, für den Tiefbau, für den Straßenbau. Gerade in Ostdeutschland sind viele ökologischen Schutzmaßnahmen ausgehebelt worden. Und das wird weitergehen. Man nimmt schlichtweg im Interesse der ökonomischen Standortfrage Zerstörungsproduktion in Kauf. Man muß beides zusammen denken: Diese fundamentale ökonomische Krise neuen Typs ist als Krise der Arbeitsgesellschaft - wenn man das wirklich ernst nimmt - zugleich die Krise des Geldes (und mündet damit auch in eine Krise der nicht mehr finanzierbaren und deswegen einem Abbau unterzogenen zivilisatorischen Höhe), und gleichzeitig führt der Versuch, der Krise zu entkommen und die Finanzierbarkeit wenigstens notdürftig zu erhalten, zu einer Beschleunigung der ökologischen Krise. Es gibt hier also eine Aufschaukelungs- und Eskalationsbewegung von ökonomischer und ökologischer Krise. Interviewer: Inwiefern kann man von einer ökologische Krise sprechen? Kurz: Es ist insofern eine ökologische Krise, weil die Naturgrundlagen zerstört werden. Die manifesten Erscheinungen (vor allem die rapide Zunahme von Naturkatastrophen) sind bereits an den Bilanzen der Versicherungskonzerne ablesbar. Weiterhin sind auch Rückkopplungen in der Gestalt zu verzeichnen, daß es mittlerweile nicht nur Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, sondern auch Ökoflüchtlinge gibt - die also aus Regionen fliehen, in denen die Naturzerstörungen sehr weit vorangeschritten sind. Und insofern, denke ich, kann man ohne weiteres von einer ökologischen Krise sprechen. Interviewer: Die auch eine gesellschaftliche Krise ist? Kurz: Ja, ja, eine gesellschaftliche Krise, die auch Konfliktlagen zusätzlich hervorbringt und die ökonomische Krise überlagern oder sogar verstärken kann. Beispielsweise wird in der ganzen Mittelmeerregion das Wasser knapp. Und in Spanien gibt es nun Bauernproteste, weil das ganze Wasser für die Touristengebiete verbraucht wird mit der Folge, daß die Einheimischen auf dem Trockenen sitzen und ihre Pflanzen verdörren. Das ist natürlich eine Konfliktlage. Aber ihr Charakter ist nicht ökologisch schlechthin, sondern es handelt sich gleichzeitig um eine ökonomische Konfliktlage - als Ausdruck der Konkurrenzlagen, die ökonomisch determiniert sind, die aber jetzt eine ökologische Komponente haben. Es sei nochmals betont: Es geht hier um einen Eskalationseffekt und nicht etwa um ein Ersetzen einer Konfliktlage durch eine andere. Interviewer: Wie kommt es, daß dieses Ökologiethema - gleichwohl es von seiner zentralen gesellschaftlichen Bedeutung her ein sehr brisantes Thema ist - kaum noch eine Rolle in Ihrer Theoriebildung bzw. in Ihrem Schrifttum spielt? Sie hatten 1987 noch eine ausführliche Auseinandersetzung mit ökologiekritischen Positionen und mit der ökologischen Bewegung geführt. Diese Auseinandersetzungsbereitschaft ist nun enorm zurückgegangen. Im "Kollaps der Modernisierung" gehen Sie nur auf zwei Seiten auf die ökologische Krise ein, obgleich Sie in diesem Buch die gegenwärtige Richtung des Gesamtprozesses der Moderne zu fassen versuchen. Kurz: Das liegt einfach an Überforderung. Das liegt nicht daran, daß ich die ökologische Krise für ein untergeordnetes Thema halte, im Gegenteil, ich will mich auch darum bemühen, diese Frage im weiteren Theoriebildungsprozeß verstärkt zu beachten. Es läßt sich schließlich auf derselben Ebene wie der Kritik der Arbeit und der Wertform auch die Kritik der Naturzerstörung abhandeln. Denn in dieser Realabstraktion (wie Sohn-Rethel das nennt) der Warenform gegenüber den sinnlichen Dingen der Welt liegt an sich schon das ökologische Krisenproblem begründet. Übrigens läßt sich das sehr leicht und sehr deutlich bereits im Ersten Kapitel des "Kapital" bei der Wertformanalyse zeigen. Da muß man nicht irgendwelche entlegenen Stellen bei Marx und Engels suchen, wo von der Zerstörung der Naturgrundlagen die Rede ist, sondern es liegt im Begriff der abstrakten Arbeit selber schon die Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt. Die Form, die sich selber zum Inhalt wird und deswegen auf den sinnlichen Inhalt keine Rücksicht mehr nehmen kann, ist auch in der Ökologiedebatte genau die Ebene, die systematisch ausgeklammert wird. Man möchte alles im Rahmen der Warenform, der abstrakten Arbeit, der Finanzierbarkeit haben und kommt dabei von einer Teufels Küche in die andere. Insofern gehört in die Kritik der Arbeit auch die Einbeziehung der ökologischen Krise. Interviewer: Herr Kurz, ich danke Ihnen für das Gespräch. |