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Robert Kurz

BARBAREI, MIGRATION UND WELTORDNUNGSKRIEGE

Zur Signatur der gegenwärtigen weltgesellschaftlichen Situation

Die heutige Situation der Welt ist sehr stark von zwei Erscheinungen bestimmt: Zum einen von den Weltordnungskriegen und globalen Polizeiaktionen des Westens unter Führung der USA, zum anderen von zahlreichen und weltweiten Migrationsbewegungen, wie es sie in dieser Größenordnung wahrscheinlich nie zuvor gegeben hat. Es existieren Versuche, diese beiden Phänomene ontologisch oder kulturalistisch zu deuten. Krieg, so hieß es schon in der Antike, sei der Vater aller Dinge. Aber Krieg ist keine für sich stehende anthropologische Konstante, sondern abhängig von den gesellschaftlichen Strukturen und ihren Widersprüchen. Die heutigen Weltordnungskriege können nicht aus transhistorischen Prinzipien erklärt werden, etwa aus einem angeblich kriegerischen "Wesen des Menschen", sondern nur aus einer konkreten Analyse der globalen gesellschaftlichen Entwicklung, die diese neue, spezifische Art von Kriegen hervorgebracht hat. Dasselbe gilt für das Problem der sozialökonomischen Wanderungsbewegungen. Auch die weltweite Migration ist kein aus sich selbst erklärbarer Prozeß, kein Phänomen eines bloß kulturellen Wandels, in dem sich etwa ein neuer nomadischer Charakter oder gar ein "eigentliches" nomadisches "Wesen des Menschen" zeigen würden, wie es einige postmoderne Philosophen behaupten. Die Migration ist ebenso wie der Krieg nur als Phänomen einer konkreten gesellschaftlichen Entwicklung zu erklären.

Dazu muß man erst einmal einen kritischen Begriff der Gesellschaft haben, in der sich diese Entwicklung abspielt. In der Moderne ist die gesellschaftliche Struktur bestimmt durch den Versuch, alles Menschliche der Verwertung des Kapitals unterzuordnen (egal ob in Formen des Konkurrenzkapitalismus oder des Staatskapitalismus). Die Logik des Kapitals besteht darin, durch die Anwendung menschlicher Arbeitskraft "abstrakten Reichtum" (Marx) zu produzieren, aus einem Dollar (oder Euro oder Real) zwei zu machen in einem endlosen Verwertungsprozeß als Selbstzweck. Erst diese Logik hat die Warenproduktion und damit den Markt zu einem universellen, die Gesellschaft dominierenden System gemacht. Die Ökonomie in diesem modernen Sinne, so könnte man ironisch sagen, ist heute die Stiefmutter aller Dinge. Wenn das "Ökonomismus" ist, wie die postmodernen Ideologen meinen, dann handelt es sich jedoch um einen gesellschaftlich realen und objektiven Ökonomismus; und als diese negative Realität ist er zu kritisieren, nicht wegzulügen und als bloße Ideologie zu verharmlosen.

Der kapitalistische Real-Ökonomismus geht zwar nicht auf, sein absoluter Anspruch ist uneinlösbar; und deshalb muß er alles, was er nicht vollständig erfassen kann, von sich abspalten und es minderwertig und zweitrangig machen (vor allem die den Frauen zugeschriebenen Momente des Lebens und der Reproduktion). Den strukturellen Kern der offiziellen Gesellschaft aber bildet die Ökonomie der Verwertung, und der Einsatz der gesellschaftlichen Ressourcen wird davon bestimmt. Die Politik kommandiert nicht diese Ökonomie, das war eine Illusion der Modernisierungsgeschichte, sondern sie ist nur eine sekundäre Sphäre der Bearbeitung von Problemen, wie sie aus dem Verwertungsprozeß resultieren; das gilt auch für den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln (Clausewitz).

In diesem Kontext eines zunehmenden "realen Ökonomismus" durch die globale Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise und durch das Eindringen des Weltmarkts bis in die Poren der Gesellschaft bilden sich die jeweiligen historischen Tendenzen heraus. Um Erscheinungen wie den Krieg neuen Typs und die massenhafte Migration neuen Typs verstehen zu können, ist es nötig, sie in ihrer Abhängigkeit von der Entwicklung des globalen Kapitalismus, seiner Ströme von Geld und Waren sowie seiner größeren oder geringeren Fähigkeit zur Anwendung von Arbeitskraft zu analysieren. Erst vor diesem Hintergrund sind beide Phänomene auch in ihrem inneren Zusammenhang zu erkennen.

Geschichte und Ursachen der globalen Migration

Migration spielte in der Geschichte der Modernisierung von Anfang an eine Rolle, wie ein kurzer historischer Rückblick zeigt. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert war die Herausbildung des Kapitalismus in Europa immer wieder von einer starken Binnenmigration in den einzelnen Ländern begleitet. Im 18. Jahrhundert war die "Vagabondage" eine Massenerscheinung; Rousseau gehörte in seiner Jugend zu diesen Vagabunden. Mit Beginn der Industrialisierung setzte die sogenannte Landflucht ein; die Menschen strömten aus den agrarischen Regionen in die industriellen Zentren, und die modernen Großstädte entstanden.

Die offizielle Ideologie behauptet, die große Attraktionskraft der kapitalistischen urbanen Zentren und der beginnenden Industriearbeit sei einem zivilisatorischen Fortschritt geschuldet; die Menschen hätten erkannt, dass sie sich im Rahmen der neuen Produktions- und Lebensweise besser stellen könnten. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In einem gewaltsamen Prozeß, den Marx als "ursprüngliche Akkumulation" bezeichnet hat, wurden die Menschen von Grund und Boden vertrieben (etwa durch die Verwandlung von Ackerland in Schafweiden der Großgrundbesitzer wie in England) und sozial entwurzelt. Auch die spätere Landflucht war bereits durch den "stummen Zwang" (Marx) kapitalistischer Entwicklung im agrarischen Sektor verursacht, nicht durch frei gewählte zivilisatorische Motive.

Schon im späten 18. und im ganzen 19. Jahrhundert gab es auch Migrationsbewegungen über die nationalen Grenzen hinaus; damals vor allem aus Europa nach Nord- und Südamerika sowie nach Australien. Erzeugt wurden diese Ströme der Migration nach Übersee durch die frühkapitalistischen europäischen Modernisierungskrisen: Pauperismus und absolute Verelendung, Folgen von Modernisierungskriegen in den europäischen Staats- und Nationsbildungen, aber auch der niedergeschlagenen bürgerlichen Revolutionen von 1848. Die damaligen Schübe der Migration über den Atlantik wurden genährt von der Hoffnung auf einen Neuanfang, um in den "jungfräulichen Zonen" der Wildnisse und der riesigen "freien Gebiete" der Neuen Welt ohne den gesellschaftlichen Druck der frühkapitalistischen europäischen Verhältnisse von Repression und Verelendung leben zu können. Aber die europäischen Migranten fanden einerseits überall Elemente des Kapitalismus schon vor, andererseits brachten sie diese Elemente in ihrer bürgerlichen Subjektform als Warenproduzenten und Geldsubjekte auch selber mit, ohne sich dessen voll bewusst zu sein.

Die verschiedenen Migrationsbewegungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert hatten noch keinen universellen und globalen Charakter; sie bezogen sich wesentlich auf die europäischen Gesellschaften der frühkapitalistischen Entwicklung. Die Binnenmigration folgte den ungleichzeitigen Schüben der Modernisierung in den einzelnen Ländern; die Migration nach Übersee folgte den europäischen politisch-ökonomischen Krisenkonjunkturen, Kriegen und anderen politischen Ereignissen. Das Grundmuster all dieser Prozesse bildete die innere und äußere Kolonisierung, die Zurichtung der Menschen für die "abstrakte Arbeit" (Marx) des Kapitalismus. Aus welchen einzelnen sozialökonomischen oder politischen Motiven von Großgrundbesitzern, Fürsten, Kolonialisten, Bankiers oder auch schlicht Abenteurern diese Prozesse auch immer in Gang gesetzt wurden, ihr Resultat war die "Freisetzung" von entwurzelten, zwangsweise mobilen Menschen, die von der sich ausdehnenden kapitalistischen Produktionsweise mit ihrem Hunger nach "hands" aufgesaugt werden konnten. Den Hintergrund all dieser einzelnen und sehr verschiedenen Migrationsbewegungen bildete also die Mobilisierung der "freigesetzten" Arbeitskraft für die kapitalistische Expansion.

Die heutige Migration hat im Vergleich dazu eine andere Qualität: Sie ist nicht mehr auf bestimmte ungleichzeitige Schübe der Modernisierung in einzelnen Ländern und Regionen beschränkt, sondern sie ist universell und global; sie findet nahezu überall gleichzeitig statt und zeigt sich in neuen Dimensionen. Der Grund: Die neue massenhafte Migration seit dem späten 20. Jahrhundert ist die Folge einer neuen sozialökonomischen Krise der 3. industriellen Revolution, die unmittelbar globalen Charakter hat. Mikroelektronik, Informationstechnologie und Globalisierung des Kapitals stellen über alle nationalen und kulturellen Schranken hinaus eine unmittelbare Weltgesellschaft her; aber nicht positiv als Errungenschaft, sondern negativ als Prozeß der ökonomischen Austrocknung: Immer mehr Menschen werden "überflüssig", weil sie ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können.

Viele große Fabriken und noch mehr kleine Betriebe fallen unter das vom Weltmarkt bestimmte Niveau der Produktivität, werden unrentabel und daher früher oder später geschlossen. An die Stelle eines flächendeckenden Systems von Lohnarbeit und Verwertung tritt ein insularer Kapitalismus: Überall schrumpft die kapitalistische Reproduktion auf "Inseln" oder besser "Oasen" der Produktivität und Rentabilität, um die herum ökonomische Wüsten entstehen. In der Folge brechen auch die Staatseinnahmen weg, große Teile der Infrastrukturen veröden ebenso oder werden auf die ausgedünnte "Oasen"-Produktion zugeschnitten. Diese "Oasen" verdichten sich in bestimmten Ländern und Regionen der kapitalistischen Zentren, während sie im Osten und Süden sehr viel dünner gesät sind und in manchen Weltregionen gar nicht mehr existieren. Die eigentliche Produktion von Waren hört auf, große Massen der globalen Bevölkerung zu integrieren. Die "Überflüssigen" werden in nachgeordnete Kreisläufe abgedrängt, sei es als Elendsunternehmer in der Zirkulation (Kleinhandel), als Sammler von Abfall, als billige Domestiken usw.; oder sie verfallen der absoluten Verelendung.

Dies ist die wahre Struktur der kapitalistischen Globalisierung, deren Dynamik die ökonomischen Wüsten ebenso wachsen lässt wie der parallele Prozess der ökologischen Krise die geografischen Wüsten ausdehnt. Die über den ganzen Planeten in unterschiedlicher Dichte verstreuten "Oasen" der restlichen Kapitalverwertung werden zu magnetischen Anziehungspunkten für eine Menschheit, die es verlernt hat, den Kapitalismus so radikal zu kritisieren, wie es nötig wäre. Aber heute folgt diese Attraktionskraft so wenig wie in der Vergangenheit einem zivilisatorischen Fortschritt oder frei gewählten Motiven, sondern ebenso blinden Prozessen der "Freisetzung" und Entwurzelung - diesmal jedoch in genau umgekehrter Richtung wie in der früheren Geschichte der Modernisierung. Die Menschen werden nicht aus agrarischen Verhältnissen zwangsweise "freigesetzt" für die "abstrakte Arbeit", sondern sie werden aus der "abstrakten Arbeit" selber herauskatapultiert. Den Hintergrund bildet nicht mehr die Mobilisierung der Arbeitskraft für den Kapitalismus, sondern im Gegenteil die weltweite Demobilisierung der Arbeitskraft in der 3. industriellen Revolution, die dem Kapital den Appetit auf "hands" verdorben hat.

Das Kapital selbst vagabundiert durch die globalen "Oasen" der Rentabilität, um das Gefälle der Kosten auszunützen. Umgekehrt entsteht ein enormer sozialer Druck zur globalen Vagabondage der Arbeitskraft, die massenhaft aus den wachsenden ökonomischen Wüstengebieten zu den schrumpfenden Oasen wandert.

Die Wanderungsbewegungen in vormodernen Epochen der menschlichen Geschichte waren stets durch Unbilden, Klimaveränderungen oder andere Gegebenheiten der "ersten Natur" bedingt. Die Menschen der Eiszeit zogen sich vor der Ausdehnung der Gletscher zurück, die Jäger folgten den Wanderungen des Wildes, die Viehzüchter mussten die Weiden wechseln. Die modernen sozialen Wanderungsbewegungen dagegen sind sozusagen durch die Unbilden und Klimaveränderungen der "zweiten (gesellschaftlichen) Natur" bedingt, die in blinden ökonomisch-politischen Prozessen erzeugt werden. Wie die kapitalistische Beherrschung der Natur zugleich Zerstörung der Natur ist, so ist sie auch identisch damit, dass die Menschen ihre eigene Gesellschaftlichkeit weniger denn je beherrschen. Die massenhafte sozialökonomisch erzwungene Migration seit dem späten 20. Jahrhundert ist ein starkes Indiz dafür, dass die blinde gesellschaftliche Dynamik des Kapitalismus endgültig ausser Kontrolle gerät; nicht zuletzt auch deswegen, weil sie als globale Demobilisierung der Arbeitskraft das Ende immanenter kapitalistischer Entwicklungsfähigkeit anzeigt.

Strukturen der universellen Migration

Die neue universelle Migration hat ihre eigenen Strukturen. Oft handelt es sich um Ströme der sozialökonomischen Wanderung innerhalb der einzelnen Länder aus den "herausgefallenen" und verödeten Regionen zu den jeweiligen nationalen "Oasen" der Rentabilität. Teilweise ist dies die Fortsetzung früherer traditioneller Binnenbewegungen aus der Geschichte der Modernisierung, ursprünglich im Zuge des Aufstiegs bestimmter nationaler Zentren, als die kapitalistische Ausdehnung der Warenproduktion noch den Horizont der Entwicklung bildete. Das bekannteste Beispiel in Westeuropa ist Italien mit seiner lang anhaltenden Binnenmigration aus dem Mezzogiorno in die norditalienischen Industrieregionen. Ein anderes Beispiel aus der kapitalistischen Peripherie ist Brasilien, wo die Migration aus dem Nordosten in die südöstlichen Gürtelzonen der partiellen Weltmarkt-Integration ebenfalls schon zur Geschichte der Modernisierung gehört.

Aber heute hat innerhalb dieser traditionellen Binnenmigrationen ein Bruch stattgefunden; sie spielen sich jetzt nicht mehr im Zuge von Perspektiven der Entwicklung ab, sondern unter den qualitativ neuen Bedingungen der globalen Krise und ihrer Erscheinungsformen in den einzelnen Ländern. Einerseits ist die relativ gebremste Migration der Entwicklung zur massenhaften, unkontrollierten Migration des Elends geworden; andererseits findet ein Großteil dieser Elendsmigration demobilisierter Arbeitskraft auch in den "Oasen" der Rentabilität keine reguläre Beschäftigung mehr. In der Folge haben sich innerhalb von kaum zwei Jahrzehnten seit Beginn der 3. industriellen Revolution nicht nur in Brasilien, sondern auch in vielen anderen Ländern an der Peripherie des Weltmarkts geradezu monströse städtische Agglomerationen einer Bevölkerung gebildet, die nicht mehr in das System der Warenproduktion integrierbar ist.

In demselben Zusammenhang der weltweiten Demobilisierung von Arbeitskraft gibt es auch zahlreiche ganz neue Ströme von Binnenmigrationen, die keine Tradition in der Geschichte der Modernisierung mehr haben, sondern überhaupt erst Resultate der neuen Weltkrise sind. Das gilt auch für Europa und inzwischen sogar für Deutschland. Die Einverleibung der DDR in die BRD war ökonomisch eine grosse Illusion, weil die zusammengebrochene Industrie der DDR unter dem monetären Mantel der westdeutschen Währung nicht rentabel reproduziert werden konnte. Diese Industrie wurde grossenteils stillgelegt. Die Folge ist ein anhaltender Strom der Binnenmigration von Ost- nach Westdeutschland, jetzt durch keine Mauer mehr aufgehalten. Ganze Städte und Regionen der ehemaligen DDR werden entvölkert und veröden. Völlig neu und in ihrer Grössenordnung furchterregend ist auch die massenhafte Migration innerhalb von China aus der unrentablen und durch die Integration in den Weltmarkt zunehmend bedrohten industriellen und agrarischen Binnenwirtschaft in die Sonderwirtschaftszonen der Exportindustrialisierung. Ähnliche Beispiele häufen sich auch anderswo.

Aber die Ströme der neuen Krisenmigration machen natürlich an den nationalen Grenzen nicht halt. Über die nationalen Binnenmigrationen hinaus tut sich auch die neue Dimension einer großen globalen, die Grenzen von Ländern und Kontinenten überschreitenden sozialökonomischen Massenmigration auf; und zwar weit über die traditionellen Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts aus Europa in die beiden Amerika oder nach Australien etc. hinaus. Die Wanderungen gehen von Ost nach West und von Süd nach Nord: Richtung EU aus ganz Osteuropa und Mittelasien über die Ostgrenze, gleichzeitig aus Nordafrika und den Gebieten jenseits der Sahara von Süden her über das Mittelmeer; und Richtung USA aus ganz Mittel- und Südamerika. Längst ist auch die Tendenz einer Re-Migration aus Lateinamerika in die romanischsprachigen Länder Europas festzustellen, etwa aus dem krisengeschüttelten Argentinien nach Italien. Aber auch innerhalb Ostasiens gibt es immer massenhafter Wanderungen Richtung Japan, Australien und in die südostasiatischen Zonen der Weltmarkt-Integration.

In ihrer sozialen Struktur entspricht die Migration ziemlich exakt den verschiedenen Graden der Krise oder sogar schon des ökonomischen Zusammenbruchs in den verschiedenen Ländern. Erstens handelt es sich, wenn auch bis jetzt noch zu einem geringeren Teil, um ausgebildete Spezialisten oder Studenten, für die es zuhause keine entsprechend qualifizierte Beschaeftigung mehr gibt, weil die Kapitalkraft nicht für genügend High-Tech-Industrien, Infrastrukturen, Institutionen der Bildung und Wissenschaft ausreicht. Zweitens sind es vorwiegend jüngere männliche Arbeitskräfte für schwere und niedrige Arbeiten in den Oasen-Zonen (Müllabfuhr, landwirtschaftliche Saisonarbeit, Gastronomie usw.), die jedoch neuerdings zunehmend Konkurrenz durch jeweils einheimische Herausgefallene befürchten müssen. Die Zeiten sind vorbei, in denen man solche Arbeiten zu Hungerlöhnen gern den Migranten überliess und sich auf das Arbeitslosengeld der Sozialversicherung verlassen konnte. Inzwischen üben die kapitalistischen Krisenverwaltungen überall im Westen Druck auf die jeweils nationale Arbeitskraft aus, selber solche Billigarbeiten anzunehmen, indem das Arbeitslosengeld immer drastischer gekürzt und zeitlich eingeschränkt wird. Drittens gehören zur Sozialstruktur der grenzüberschreitenden Migration auch viele jüngere weibliche Arbeitskräfte. Sie landen entweder gleich in der Massenprostitution oder als Haushaltshilfen und als Pflegerinnen in Kliniken, Altenheimen etc., wo sie einen Billiglohn-Puffer beim krisenbedingten Abbau der entsprechenden Infrastrukturen bilden. Auch hier verschärft sich allerdings die Konkurrenz durch billige inländische Arbeitskraft, wie sie von der Krisenverwaltung gerade unter der weiblichen Bevoelkerung erzwungen wird.

Ein Aspekt in dieser Konkurrenz, der ein Vorteil für die Migrantinnen und Migranten sein kann, ist das Gefälle der Wechselkurse. Wenn sie entweder nicht dauerhaft im Westen bleiben wollen, oder soweit sie ihre zu Hause gebliebenen Familien unterstützen, können sie konkurrenzlos billig sein, weil die Kaufkraft ihres Billiglohns, den sie in Deutschland oder in den USA erhalten, in Polen oder in Bolivien ein Vielfaches beträgt. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass Millionen von Familien in der kapitalistischen Peripherie, ja teilweise schon ganze Regionen und Länder gar nicht mehr auf eigene kapitalistische Rechnung leben, sondern inzwischen zu wesentlichen Teilen von den Transfers der Migrantinnen und Migranten abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist natürlich kein "Vorteil" der Globalisierung, sondern nur ein Indiz dafür, dass wachsende Teile der Welt ökonomisch nur noch "künstlich ernährt" werden und gar keine eigene kapitalistische Existenzfähigkeit mehr haben.

Die ökonomische Kausalität der Weltordnungskriege

Die neuen Weltordnungskriege gehören demselben globalen Zusammenhang an wie die massenhafte Migration. Es handelt sich nicht um klassische imperiale Kriege zwischen kapitalistischen Hegemonialmächten wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und auch nicht um weltregionale Stellvertreterkriege von den beiden Supermächten abhängiger Staaten wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der globalisierten Krisengesellschaft der 3. industriellen Revolution zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es nur noch eine Supermacht, die USA. Der Streit mit einigen Staaten der EU ist weder ernsthaft noch hat er eine ökonomische Grundlage wie die Rivalität im klassischen Imperialismus. Vielmehr hat die Krise der 3. industriellen Revolution einen politisch-ökonomischen Zusammenhang hervorgebracht, in dem die globale kapitalistische Verwertung, soweit sie noch stattfinden kann, also auch die Ökonomie der EU, in doppelter Hinsicht von den USA abhängig geworden ist.

Erstens ist das transnationale Kapital insgesamt auf die global verstreuten und sowohl in der EU wie in den USA relativ dichter gesäten "Oasen" der Rentabilität angewiesen. Es gibt kein Interesse an der vollen territorialen Kontrolle der peripheren Weltregionen mehr wie im klassischen Imperialismus, sondern nur noch ein Interesse am Erhalt und an der Sicherung dieser "Oasen" gegen die Massen der "überflüssigen", demobilisierten und herausgefallenen Bevölkerung. Dazu sind militärisch allein die USA in der Lage, alle anderen Staaten können nur noch Hilfstruppen stellen.

Zweitens ist gleichzeitig die gesamte "Oasen"-Produktion auch unmittelbar ökonomisch einseitig von der politischen Supermacht-Ökonomie der USA abhängig, und zwar paradoxerweise nicht durch deren Stärke, sondern durch ihre im Gegensatz zur militärischen Hegemonie stehende Schwäche. Wo überall sonst zusammen mit der Arbeit auch die Kaufkraft wegbricht, fließt überschüssiges und spekulatives Geldkapital aus der ganzen Welt in die USA, die damit bekanntlich nicht nur ihren Rüstungskonsum als letzte Supermacht finanzieren, sondern auch den Massenkonsum von Gütern aus aller Welt, die sie oft selber gar nicht mehr herstellen. Spiegelbildlich zum Fluß des Geldkapitals (Außenverschuldung) fließen die sonst nicht mehr absetzbaren Überschüsse aus den "Oasen"-Produktionen der restlichen Welt (Handelsbilanzdefizit) gleichermassen in die USA. Dieses ganze Konstrukt beruht darauf, dass die USA mit ihrer konkurrenzlosen Militärmaschine die globale Kontrolle ausüben können. Der High-tech-Militärapparat gilt als Garant des Dollar und der bloss noch fiktiven ökonomischen Potenz der USA; er steht für deren "Vetrauenswürdigkeit" als letzte Supermacht und für den weiteren Zufluß von Geldkapital.

Dieses Konstrukt ist jedoch ökonomisch äusserst labil, denn die blosse militärische Überlegenheit kann natürlich auf Dauer nicht die Außendefizite ausgleichen, von denen inzwischen die übrige Welt abhängt. Zweitens stellen die zunehmenden Krisen und Zusammenbrüche in der Welt des globalisierten Kapitals und die daraus resultierenden irrationalen Potentiale von Haß und Barbarei auch die Kontrollfähigkeit der US-Militärmaschine in Frage, bis hin zum terroristischen Angriff auf das US-Territorium selbst (11. September).

Die Weltordnungskriege sind also nicht vulgärmaterialistisch zu erklären, etwa als Kampf um Öl oder andere Ressourcen (die Sicherung der Ölreserven spielt nur eine sekundäre Rolle), sondern sie zielen gerade aus ökonomischen Gründen in erster Linie auf den "Beweis", dass die globale politisch-militärische Kontrolle als Garant für den weiteren Zufluss von transnationalem Geldkapital noch besteht. Vom Beweis dieser Kontrollfähigkeit hängt nicht nur der Glaube an die militärische Überlegenheit der USA ab, sondern in der Folge auch das ökonomische Defizit-Konstrukt, mit dem die kapitalistische Weltwirtschaft in der Krise der 3. industriellen Revolution noch mühsam aufrecht erhalten wird. Trotz vordergründiger Querelen gibt es also ein vitales Interesse aller kapitalistischen Mächte, auch der EU, an der Prolongation dieses Konstrukts. In demselben Masse, wie die offiziellen Illusionen über die Natur und den tiefgehenden Charakter der Weltkrise verfliegen und das globale Defizit-Konstrukt mit den USA im Zentrum zusammenzubrechen droht, drohen auch die Weltordnungskriege außer Kontrolle zu geraten. Von einer mässigenden Rolle der EU, gar vom Austragen einer politischen Rivalität, wird in einer solchen Situation keine Rede mehr sein können. Möglich ist dann eine "Flucht nach vorn" durch die USA mit neuen Angriffen auf Länder wie Syrien, Iran und Nordkorea, auch mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen, um dem jetzt schon im Irak sichtbar werdenden Kontrollverlust mit immer härteren Maßnahmen Paroli zu bieten.

Von der Kontrolle der Barbarei zur Barbarei der Kontrolle

Vor dem Hintergrund der kapitalistischen Weltkrise der 3. industriellen Revolution lässt sich nun zeigen, wie die neue Qualität der planetarischen Migrationsströme und die neue Qualität der Weltordnungskriege miteinander verschränkt sind. Die Migration ist ein wesentlicher Teil der kapitalistischen Sicherheits- und Kontrollprobleme im globalen Krisenprozeß.

Nur ein Teil der Migration lässt sich direkt aus der zwanghaften ökonomischen Anziehungskraft der Rentabilitäts-"Oasen" erklären. Ein anderer Teil der Migration ist zwar auch eine Folge des globalen sozialökonomischen Krisenprozesses, aber eine eher indirekte. Denn dieselbe ökonomische Verödung, die einerseits eine große Masse von Menschen dazu treibt, ihr Heil in der Wanderung zu den "Oasen" der Rentabilität zu suchen, treibt andererseits in den Gesellschaften der Zusammenbruchszonen ziellose Bürgerkriege hervor. Wer noch einen Rest von Reserven und Energie besitzt, hat die Wahl: er kann sich entweder auf den gefährlichen Weg über Gebirge, Ozeane und Grenzen machen, um irgendwo doch noch seine Arbeitskraft verkaufen zu können - oder er kann sich einem bewaffneten Clan, einer Terrorgruppe, einer Räuberbande, einer religiösen oder ethnischen Miliz anschließen. Diese beiden Optionen scheinen die einzige Hoffnung auf soziales Überleben zu bieten. Sozialökonomische Migration und neue Bürgerkriege sind die zwei Seiten derselben Medaille. Und aus diesen Kriegen, in denen ganze Staaten zerfallen, entstehen endlose Flüchtlingsströme. Die Flüchtlinge vor Terror, Massenmord und Plünderungen sind nur eine Fortsetzung der sozialökonomischen Migration in neuer Qualität. Beide Erscheinungen haben dieselbe Wurzel.

Der Kampf der USA und ihrer westlichen Verbündeten gegen den Kontrollverlust ist auch ein Kampf um die Kontrolle über Migration und Massenflucht. Ein "Imperialismus der Ausgrenzung" soll die zentralen Zonen verdichteter "Oasen"-Produktion gegen die Migrationsströme absichern. Zugelassen werden soll nur noch die kontrollierte, nicht mehr die "wilde" Migration. In Osteuropa, am Mittelmeer und an der Südgrenze der USA ist jeweils ein Kordon der Bewachung entstanden. Gleichzeitig handelt es sich um einen "Imperialismus der Sicherheit" und der weltpolizeilichen Interventionen verschiedenster Grössenordnung, um die dünn gesäten "Oasen" der Rentabilität in den ökonomisch schon größtenteils verödeten Weltregionen vor irrationalen Gewaltausbrüchen zu schützen.

Aber die mit solchen Interventionen verbundenen Versprechungen der Humanität und des "Wiederaufbaus" wie in Ex-Jugoslawien, im Irak oder in Afghanistan sind hohl und unglaubwürdig, Ideologie und keine Realität. Es gibt keine solche Möglichkeit einer Re-Integration in das globalisierte warenproduzierende System, weil massenhafte Migration, ethno-religiöse Bürgerkriege und Flüchtlingsströme ihre Ursachen nicht mehr in begrenzten politischen Widersprüchen oder Machtkämpfen haben, ebenso wenig in traditionellen kulturellen Gegensätzen, sondern wesentlich in der Krise der Weltökonomie selbst und in der damit verbundenen globalen Demobilisierung von Arbeitskraft. Es geht bei den falschen westlichen Versprechungen nur um die Kontrolle über die Folgen der sozialen Katastrophen, wie sie in immer dichterer Folge von der herrschenden kapitalistischen Produktionsweise ausgehen; es geht um die Kontrolle und Eindämmung der sozialökonomischen Migration, es geht um die Kontrolle über die Flüchtlinge.

Der Versuch, diese Kontrolle um jeden Preis aufrecht zu erhalten, schlägt genauso in Barbarei um wie die Reaktionsbildungen des ethnischen und religiösen Terrors in den ökonomischen Zusammenbruchs- und Wüstengebieten selbst. Es gibt hier keine zivilisatorische Seite mehr, für die im Namen der Befreiung und sozialen Emanzipation Partei ergriffen werden könnte. Wie das aktuelle Beispiel des Irak gezeigt hat, stehen die westlichen "Retter der Zivilisation" den untergehenden peripheren Diktaturen der Modernisierung und dem religiösen Terror an Grausamkeit und Foltermethoden in nichts nach. Von einer "Rettung der Zivilisation vor dem Terrorismus" durch die USA und ihre westlichen Helfer kann ebensowenig die Rede sein wie von einer "Verteidigung der eigenständigen nationalen Entwicklung und Souveränität" durch Regimes wie das irakische unter Saddam Hussein oder das gegenwärtige nordkoreanische. Auf dem Boden des modernen warenproduzierenden Systems gibt es keine Zivilisation und keine nationale Souveränität und Entwicklung mehr. Befreiung ist nur möglich, wenn das Ziel einer anderen Produktions- und Lebensweise jenseits von Weltmarkt und Nationalstaat für die globalisierte Menschheit ernsthaft diskutiert wird.

Migration und soziale Bewegung in einer neuen Perspektive der radikalen Kritik

Auch für das Bewusstsein der sozialen Bewegungen der Migrantinnen und Migranten wird es nur eine Perspektive und eine Zukunft geben, wenn sie den kausalen Zusammenhang von Migration, Weltordnungskriegen und Barbarei an den historischen Grenzen des modernen warenproduzierenden Systems erkennen. Die globale Migration kann nicht mehr zu einer Emanzipationsbewegung auf dem Boden von Lohnarbeit und Warenproduktion werden, weil sie ja selber schon die Folge einer globalen Demobilisierung der Arbeitskraft ist. Die Tatsache, dass sich immer größere Teile der Menschheit auf der Flucht befinden, ist selber ein Ausdruck dafür, dass das Weltsystem von Lohnarbeit und Warenproduktion aus den Fugen gerät und nicht mehr politisch reguliert werden kann.

Der notwendige Kampf gegen Diskriminierung ist nicht zu stabilisieren im Sinne einer blossen Anerkennung als Subjekte der Warenproduktion. Wenn die Migrantinnen und Migranten nichts weiter wollen, als doch noch ihr Brot durch die Verwertung des Kapitals zu verdienen, wird ihr Zug ins Leere gehen. Die Bewegung der Migrantinnen und Migranten kann keine neue Arbeiterbewegung sein, die nichts anderes will, als mit ihren Interessen in der bestehenden Ordnung anerkannt zu werden. Umgekehrt fallen auch nicht-migrantische Teile der "überflüssigen" Bevölkerung aus der Anerkennung ganz oder partiell heraus. In der ganzen Welt bricht die materielle und ökonomische Voraussetzung einer formalen Anerkennung weg, nämlich die Fähigkeit des Kapitals zur neuen Absorption von Arbeit im großen Maßstab. Ein Kampf um Anerkennung ist nur noch provisorisch denkbar, etwa als Bleiberecht für die "Illegalen", die Menschen "ohne Papiere". Aber dieser Kampf ist nur als Übergangsforderung im Rahmen einer grundsätzlichen neuen Systemkritik möglich. Die soziale Bewegung der Migrantinnen und Migranten im Sinne einer Bewusstwerdung kann nur als Bestandteil einer umfassenderen transnationalen sozialen Bewegung verstanden werden, die antritt, um das warenproduzierende System des modernen Kapitalismus abzuschaffen.