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Jörg Ulrich

Das moderne Subjekt als gewalttätige Null

Bemerkungen zum Verhältnis von Erkenntniskritik und Wertabspaltung

Vom Ende her lässt sich der Anfang erschließen. In der Anatomie des Menschen liegt der Schlüssel zur Anatomie des Affen (Marx). In der Phase des in seinem Niedergang sich vollendenden Kapitalismus fällt das aufgeklärte moderne Subjekt (MWW) dem Zwang zur Herrschaft über eine Welt der Objekte zum Opfer, indem es zugleich seine Selbstobjektivierung zur bloßen Funktion eines übergeordneten abstrakten Systemzusammenhanges auf die Spitze treibt.1

Wir alle haben in der Logik einer nach Subjekt und Objekt aufgespaltenen Welt zu denken gelernt, haben dieses Denken gewissermaßen mit der Muttermilch eingesogen und stehen nun mehr oder weniger ratlos vor den Ergebnissen des Handelns jenes "automatischen Subjekts" (Marx), das, Voraussetzung und Ergebnis unseres eigenen Handelns und Denkens, die materielle Welt ebenso wie die je konkreten Menschen als seine Träger, seine Exekutoren, aufzufressen sich anschickt. Dieses Selbstmordprogramm scheint sich mit einer unbezwingbaren Logik durchzusetzen, "Politik" ist nicht einmal mehr die Farce im Verhältnis zu etwas, das, wie Marx sagte, einstmals eine Tragödie war, sie ist zur Einheit von Tragödie und Farce zusammengeschmolzen, zur tragikomischen, paradoxen Inszenierung der Illusion, das katastrophale Ganze ließe sich immanent auf irgendeine Weise noch steuern, reformieren2 oder verbessern. Doch "(w)as als Resultat paradox scheint", so wiederum Marx, "liegt schon in der Voraussetzung selbst"3, nämlich in dem blinden Zwang zur Verwertung der vorhandenen Werte, der mit der Durchsetzung des Kapitals als Prinzip der Vergesellschaftung gegeben ist und mit seiner gigantischen Produktivität gegenwärtig an seine Grenze stößt. "Die Selbstverwertung des Kapitals wird schwieriger in dem Maße wie es schon verwertet ist."4 Auf dem Höhepunkt schlägt sie, nunmehr deutlich sichtbar, in jene Selbstzerstörung um, die sie ihrem Begriff nach immer schon war.

Da sich aber das Kapital als gesellschaftliche Allgemeinheit der Verwertung des Werts nicht auf pure Ökonomie reduzieren lässt, sondern die mit ihm in einer widersprüchlichen Einheit stehenden abgespaltenen Bereiche sowohl als auch die entsprechenden Denkformen mit einschließt sowie soziale, kulturelle, psychologische usw. Gegebenheiten, muss die Kritik der Politischen Ökonomie immer auch zugleich als Wertabspaltungskritik, Kulturkritik, Sozialkritik, Erkenntniskritik usw. formuliert werden. Wer in dieser widersprüchlichen Einheit einer in sich selbst nicht aufgehenden Totalität zu denken sich bemüht, balanciert im Grenzbereich zwischen vielen metaphysischen Abgründen und muss auf der Hut sein, nicht in den einen abzustürzen, während er/sie sich bemüht, den anderen auszuleuchten.

Thema der folgenden Überlegungen ist die der Wertabspaltung wesentliche Subjekt-Objekt-Trennung, die Tatsache mithin, dass es seit der modernen "Revolution der Denkart" (Kant) so scheint, als habe es diese Trennung immer schon gegeben, als sei sie dem reflektierenden Geist wegen seiner historischen "Unterentwicklung" nur nicht zugänglich gewesen, so dass dieser sich in einem "bloßen Herumtappen" (abermals Kant) im Dunkel einer unerkannten Welt erschöpft habe. Hier wird die geschichtliche Befangenheit des vormodernen Denkens postuliert und im Vollzug ein und derselben Bewegung stillschweigend vorausgesetzt, dass das moderne Denken als überhistorisch gültiges aus eben dieser Befangenheit sozusagen ausgestiegen sei. "Das geschichtlich Bedingte verleiht sich die Fassung seiner eigenen Unbedingtheit."5 Die bis zum heutigen Tag immer wieder aufgestellte Behauptung, das moderne Denken sei ein sich selber reflektierendes und die Moderne insgesamt eine "reflexive Moderne" (Ulrich Beck) erscheint vor diesem Hintergrund höchst fragwürdig. Mag sein, dass dieses methodische, funktionale Denken, welches sein Modell an den mathematisierten Naturwissenschaften hat, sich in sich selbst reflektiert - auf sich selbst als spezifische Denkform reflektiert es eben gerade nicht. Und so gilt für das Denken in den Naturwissenschaften speziell ebenso wie für das moderne Denken allgemein folgendes: "Es gibt kein Kriterium, das außerhalb des methodischen Vollzugs der Wissenschaft stehend die Angemessenheit der Methode an den Gegenstand feststellen könnte, das aber zugleich den methodischen Kriterien der Wissenschaft selber Genüge leisten müßte. Entweder entspricht es dem Standard der Methoden, dann ist es selbst Methode, oder es liegt außerhalb des methodischen Vollzugs, dann ist es nicht wissenschaftlich."6 Gleiches lässt sich für das Alltagsbewusstsein konstatieren. Dieses muss zum Zweck der ontologischen Absicherung des jeweiligen Ichs immer mehr "methodische" Energie mobilisieren im Sinne der im allgemein herrschenden Diskurs geltenden "Wahrheiten", um sich vor dem drohenden Absturz in die Tiefen bewusst gewordener Sinnlosigkeit zu bewahren bzw. dem psychischen Zusammenbruch oder dem Irrsinn zu verfallen, wenn es nicht nach Maßgabe der "Religion des Alltagslebens" (Marx) denkt und empfindet.7 Im Zentrum dabei steht die Bewahrung der Denkform, der sich die Inhalte beliebig subsumieren lassen. Mit anderen Worten: Modernes Denken ist nichts anderes als die Reproduktion seiner Form als solcher und damit wesentlich tautologisch. Das so genannte Erkenntnisproblem ist ein spezifisch modernes und bezieht sich im Kern auf die Frage, wie denn das gewissermaßen in sich rotierende abstrakte Denken auf die Welt der Objekte zugreifen könne, um sie unter die bereits vorab theoretisch konstruierte Ordnung zu zwingen. Dies ist die Grundfragestellung in Kants "Kritik der reinen Vernunft". Die abstrakte Denkart in der als immer schon gegeben betrachteten Trennung des herrschaftlich sich der Objekte bemächtigenden Subjekts stellt alle mit ihr auftauchenden Probleme "jeweils nur immer wieder vor das eine selbe Problem: das Problem, welches sie ist"8 Was die aufklärerische Philosophie spätestens seit Descartes in immer wieder neuen Anläufen unternimmt, ist "die funktionale Denkform anzuwenden zur metaphysischen Konstruktion der Welt."9

Das Skandalon dabei liegt in der Tatsache, dass diese Konstruktion sich zunächst als radikale Negation und Angriff auf alle überkommene Metaphysik geriert und schließlich als ihre Überwindung durch positive Wissenschaft und ein insgesamt positives "Weltbild", indem diese Denkform nicht nur die Welt (Objekt) in die Form zwingt, sondern sich selbst als Form sozusagen formiert, womit sich die negatorische Kraft des aufklärerischen Denkens in sich selber noch einmal negiert, sich also dementiert und auf diese Weise in der Überwindung dem Überwundenen zu einem neuen Leben verhilft - als undurchschaubarer denn je gewordene metaphysische, fetischistische Weltkonzeption, die sich selbst als solche nicht weiß. Diese metaphysische Konzeption ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis der Subjekt-Objekt-Spaltung, Formkonstitution einer Realität, die mit der sinnlich wahrnehmbaren nichts zu tun hat, dieser aber gleichwohl übergestülpt bzw. aufgeherrscht werden kann. Der Kantsche Apriorismus der "reinen Formen der Anschauung" (Raum und Zeit, wobei Kant die inhaltsleere Zeit als die übergreifende, dominierende Form beschreibt) konstituiert eine in die Leere eben dieser Formen hinein verschwindende Objektwelt ebenso wie das strukturell männliche Subjekt dieser Erkenntnis als ein vom in allen Individuen gleichermaßen wirkenden transzendentalen Subjekt regiertes, rationales, der "Sachlichkeit" verpflichtetes (Un)Wesen, welches sich der Welt nicht trotz, sondern gerade wegen der Tatsache bemächtigen kann, dass es sie als konkrete, sinnlich erfahrbare Welt gar nicht wahrzunehmen in der Lage ist.10 Die "synthetische Leistung" des transzendentalen Subjekts bleibt zwar auf die empirischen Gegenstände verwiesen, weil es keine Wahrnehmung reiner Formen geben kann, diese Gegenstände wiederum sind aber nur als bereits geformte, vom Subjekt (qua "transzendentaler Apperzeption") als "Erscheinungen" konstituierte, erfassbar, weshalb nicht gesagt werden kann, was die Dinge an sich ausmacht, denn menschliche Erkenntnis kann diese nicht ihrer materiellen Existenz nach erschaffen, sonst wäre sie göttlich. In der transzendentalen Apperzeption gibt es solchermaßen eine apriorische Einheit von Subjekt und Objekt, allerdings um den Preis eines unerkennbaren Rests, des "Ding an sich" und eines Abdriftens ins Tautologische, denn in der Einheit der Form der Wahrnehmung mit dem Wahrgenommenen informiert die wissenschaftliche Methode sozusagen durchgehend nur über sich selbst, nicht aber über die von ihr in den Griff genommene Gegenstandswelt. Diese Gegenstandswelt erschließt sich als gesetzmäßige nur dem Abstraktionsapparat des entsinnlichten Erkenntnissubjekts und erscheint diesem eben nur unter den Voraussetzungen dieser Abstraktion. Das heißt aber, dass im Zwingen unter die abstrakte Form der Natur Gewalt angetan wird, indem ihr eine in ihr an sich nicht vorhandene Ordnung aufgezwungen wird durch das wie ein "bestallter Richter" (Kant) sie zum Wohlverhalten nötigende Erkenntnissubjekt. Dieses ist als das in und mit ihm wirkende transzendentale Subjekt ebenso selbst leere Form wie die, unter die es die Welt außer sich subsumiert, also gewissermaßen eine gewalttätige Null, ein Nichts, das jeglichem Etwas seine Bestimmungslosigkeit rigoros aufdrängt. Mit der Überwindung aller vormodernen Gewissheiten ergibt sich die Notwendigkeit, "die Natur [...] auf die Folterbank zu strecken."11 Bürgerliche Ordnung ist mithin niemals mehr eine immer schon gegebene und fraglos vorausgesetzte, sondern eine gegen die Unberechenbarkeit einer "verstockt schweigende(n) Natur" (Petra Haarmann) erst zu erzwingende.

"Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt."12 Ein geradezu lupenrein metaphysisches Verfahren. Die Welt wird auf eine höhere Ordnung zurückgeführt, bleibt aber als "Ding an sich" unfassbar und unbegreifbar. Damit scheint mir der Charakter der sich abstrakt "am Material" abarbeitenden und sich damit selbst erzeugenden bürgerlichen Gesellschaft deutlich hervorzutreten. Mit dem "Ding an sich", und hier mag man Hegels Kritik getrost einmal außen vor lassen, weil die bürgerliche Philosophie bis heute kaum über Kant hinausgekommen ist, wird diejenige Dimension der Wirklichkeit (und Wirklichkeit ist das, was wirkt, was "am Werke" ist) bezeichnet, durch die wieder einbrechen könnte, was bürgerliche Gesellschaft radikal zu überwinden angetreten war: Gott und das Chaos - denn fürchterlicher noch als einstmals die Gottesfurcht ist die bürgerliche Furcht vor dem Chaos.13 Wenn die Dinge in ihrer Erscheinung nichts von ihrem Wesen offenbaren, dann wird ihre nominalistische Reduktion zum Programm. Das "Ding an sich" aber repräsentiert das mit dem nach bürgerlichem Verständnis "unerforschlich Weiblichen" identifizierte Abgespaltene, das in der Abstraktion, letztlich in Zahlen, nicht aufgeht, aber gleichwohl dem Gesamtzusammenhang der Abstraktion untrennbar zugehörig ist. Anders ausgedrückt: Das abstrakt identifizierende Denken und das unerkennbare Ding an sich sind nur die zwei Seiten eines einzigen Zusammenhangs, der sich aber andererseits niemals vollständig zu einer ungebrochenen Totalität zusammenfügen kann, woraus sich unter anderem erklären lassen müsste, weshalb gerade in der Krise der Wertvergesellschaftung für immer mehr Menschen die Religion wieder zu zentraler Bedeutung aufsteigt und das strukturell männliche Aufklärungssubjekt neuerdings verstärkt bestrebt ist, seine "sanften", "natürlichen" und damit eben "weiblichen" Eigenschaften für den Verwertungsprozess fruchtbar zu machen, während die in der Krise sich gerade herausbildende "DienstbotInnen-Gesellschaft" (Frank Rentschler) gleichzeitig im Begriff ist, die "weibliche Natur" wieder auf den ihr vermeintlich alleine und "natürlicherweise" zukommenden sozialen Platz zu verweisen.

Im Kontext einer fetischistisch formierten Gesellschaft scheint es prinzipiell unmöglich zu sein, die Subjekt-Objekt-Spaltung und damit eben auch die Wert-Abspaltung zu überwinden. Die gleichwohl vorhandene Möglichkeit radikaler Kritik ergibt sich indes aus der erwähnten Unmöglichkeit des fetischistischen Ganzen, sich dem eigenen Herrschaftsanspruch gemäß zu einer wirklich in sich geschlossenen Totalität zu formieren. Gelänge dies, dann wäre Kritik in der Tat nicht mehr zu positionieren, und wir alle versänken im Dunkel eines nicht aufzuhaltenden Verhängnisses, das wir als solches gar nicht erkennen könnten. Da es aber nicht gelingt, kann radikale Kritik an den Inkonsistenzen des scheinbar übermächtigen Systems ansetzen und eingedenk der Tatsache, dass sie als Theorie selber noch und immer schon Teil jener Spaltung ist, gegen die sie antritt, die Reflexion auf den gewalttätigen Formzusammenhang ins Werk setzen, ohne die selbst die geringste Hoffnung auf seine Überwindung aufgegeben werden müsste.