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Jörg Ulrich

Die heilige Diskursgemeinschaft

Oder

Paulus als Habermas des frühen Christentums

In "Jungle World"1 hat Doris Akrap kürzlich mit einem bemerkenswerten Artikel darauf hingewiesen, dass in der neueren postmodernen Philosophie nach dem viel zitierten "linguistic turn" nun auch ein "theological turn" zu beobachten sei. Insbesondere bei Alain Badiou, Slavoj Zizek und Giorgio Agamben finde sich unter Berufung auf den Apostel Paulus ein "dezidiert gesellschaftskritisches Interesse an der politischen Theologie [...], die das ideologiekritische Potenzial des Christentums mobilisieren soll" (S. 1)2. Mit Paulus, so führt die Autorin aus, werde es den genannten Philosophen möglich, die postmoderne Auflösung aller Wahrheiten beizubehalten, dieser aber zugleich eine universelle Wahrheitstheorie zur Seite zu stellen, indem der Zugang zur Wahrheit individualisiert und kommunikativ vermittelt wird.

Der "linguistic turn" und der "theological turn" werden indes bei intensiver Betrachtung als zwei Seiten ein und derselben Medaille erkennbar, nämlich als Hilfskonstruktionen zur kommunikationstheoretisch-theologischen Bewältigung der zum Prozess verflüssigten Metaphysik der Moderne, also der nunmehr zur Realmetaphysik gewandelten vormodernen Metaphysik. Paulus erscheint so eben gerade nicht als der "neue Lenin" bzw. dessen postmoderne "Wiedergeburt", sondern er erweist sich als eine Art Kreuzung zwischen Jesus Christus und Jürgen Habermas, christlicher Eschatologie und postmoderner Sprachspielmetaphysik.

Die Begründung dieser These erfordert eine Beschäftigung sowohl mit Paulus selbst als auch mit der Art und Weise, wie dieser innerhalb der theologisch gewendeten Philosophie rezipiert und interpretiert wird.

Zu begründen ist in diesem Zusammenhang meines Erachtens die These, dass Paulus deswegen heute wieder "entdeckt" wird, weil er sich dem Problem der Weltverneinung innerhalb der christlichen Eschatologie stellt, indem er angesichts der Parusieverzögerung die Erlösungserwartung mit den Anforderungen der bestehenden Welt sozusagen versöhnt.3 Da nun der Kapitalismus ebenfalls seit geraumer Zeit seiner Überwindung harrt, die einfach nicht gelingen will, ja da die katastrophale Entwicklungen freisetzende kapitalistische Form der Vergesellschaftung selber zur weltimmanenten Religion geworden ist4, liegt es nahe und eben auch im allgemeinen Trend, sich auf die "alte Religion" und deren Krisenbewältigungsstrategien zurück zu besinnen. Genau dies scheint mir die im "theological turn" der Philosophie sich artikulierende, intellektuell anspruchsvollere Variante der allgemein grassierenden Religiosität, Bekehrungsanfälligkeit, Papsteuphorie usw. zu sein. Es ist kein gesellschaftlicher "Trend", der nicht in irgendeiner Weise seinen philosophischen Widerhall fände, das wegen der notwendigen Breitenwirkung unerlässliche Niveaugefälle mit eingeschlossen: und dieses reicht von Slavoj Zizek bis zu Matthias Horx, von Giorgio Agamben bis zu Norbert Bolz.

Warum bei den jeweils zuerst genannten sowie bei Badiou Paulus in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt wird, hat meines Erachtens etwas damit zu tun, dass Paulus eine in seiner spezifischen historischen Situation wirksame "Krisentheorie" entfaltet, die sich postmodern flott machen lässt, indem die zu Paulus’ Zeit bestehende Unsicherheit in Sachen heilsgeschichtliche Erwartung implizit mit der postmodernen Unsicherheit parallel geschaltet wird.

Die Unsicherheit, die Paulus bewältigen will, entsteht dadurch, dass die von Christus höchstselbst verkündete Naherwartung des baldigen Endes der Welt und damit der endgültigen Erlösung eine radikale Weltverneinung zur Folge hatte, welche mit "Verhaltenszumutungen" einher ging, "die nicht nur das Ende der bestehenden Weltordnung bedeuten, sondern zugleich die Vorbereitung des Gottesreiches."5 Wenn z.B. bei Matthäus (10, 9-10) zu lesen ist, der Herr habe gesprochen: "Verschafft euch weder Gold noch Silber noch Kupfermünzen in eure Gürtel, auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Röcke, weder Schuhe noch Stab", dann heißt dies, dass es nicht lohnt, sich mit irdischen Dingen zu belasten, da das Ende unmittelbar bevorsteht und die Nichtigkeit der Welt damit besiegelt ist. Angesichts der Parusieverzögerung allerdings wird diese radikale Weltverneinung problematisch. Es gilt, und exakt hier liegt das Problem des Paulus, die faktisch existierende Welt anzunehmen, und zugleich an deren Vergänglichkeit und dem Herannahen des Gottesreiches festzuhalten. Wenn also Paulus "die Spannung zwischen dem bestehenden Weltzustand und dem verkündeten Heilszustand erträglich gestalten will, dann kann er dies nur durch eine Entschärfung der Eschatologie Christi erreichen."6 Dies geschieht bei Paulus in der Weise, dass er die Welt einerseits als eine durch den Opfertod und die Auferstehung des Jesus Christus bereits erlöste begreift und als solche annimmt, andererseits aber als eine, der die endgültige Erlösung durch die Wiederkehr des Herrn noch bevorsteht. Aus dieser Perspektive treten die irdischen Angelegenheiten sozusagen in die zweite Reihe. Die Menschen müssen sich in der Welt einrichten und sich gleichzeitig vor ihr verschließen, um ganz auf die Erlösung orientiert zu bleiben. "Denn die Gestalt dieser Welt vergeht." (1. Kor. 7, 31) Diese Doppelung des Verhältnisses zur Welt erfordert eine schizoide Anthropologie in der Art der Teilung des jeweils einzelnen Menschen in einen homo apertus und einen homo clausus, einen in der Welt aufgehenden und sich zugleich von ihr abwendenden, sich ihr verschließenden, mit den Worten von Paulus in einen "inneren" und einen "äußeren" Menschen. "Wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, so erneuert sich doch unser innerer von Tag zu Tag." (2. Kor. 4, 16) Mit dieser Feststellung ist allerdings nicht gemeint, dass nun munter gesündigt werden dürfe, sondern mit ihr wird die Verantwortung gegenüber Gott individualisiert. Jeder Mensch wird dereinst an seinen Taten gemessen werden. "Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit ein jeder empfange für das, was er während des Lebens im Leibe vollbracht, sei es gut oder böse." (2. Kor. 5, 10)

Daraus ergibt sich die von Doris Akrap erwähnte Verhaltensstrategie des "Als ob". Man betätigt sich vielfältig in weltlichen Dingen, tut aber so, als ob die Welt schon überwunden sei. Als vergängliche Welt wird sie verneint, als Teil des göttlichen Heilsplanes bejaht. Und in der Tat vermitteln manche Passagen in den Paulusbriefen den Eindruck, hier werde eine gewissermaßen Baudrillardsche Kultur der Simulation beschrieben. Anything goes! Was die einzelnen Menschen allerdings daraus machen, liegt bei ihnen: "Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles frommt." (1. Kor. 6, 12) Vor allem die Versuchungen, die aus dem zur Sünde treibenden Leib erwachsen, frommen den Menschen nicht und sind streng zu kontrollieren. Ebenso gilt es, den weltlichen Mächten nicht zu trotzen, sondern sich ihnen unterzuordnen und Gehorsam zu leisten. Über die diesbezüglichen Ausführungen (Röm. 13, 1-7) schreibt Ernst Käsemann: "Jeder Satz läßt sich auch in einem Polizeistaat aufrecht erhalten..."7 Der von Akrap so genannte "Kern linker Beschäftigung mit dem heiligen Paulus", nämlich seine Ablehnung des Gesetzes, bezieht sich in diesem Zusammenhang ausschließlich auf das "alte Gesetz" der jüdischen Tradition, dem Jesus Christus sich widersetzt hatte.8 Das Gesetz besteht nur durch das, was es verbietet. Ein Gesetz, das voll erfüllt würde, hätte sich als solches selber überflüssig gemacht. In diesem Sinne versteht Paulus die Erlösung als den Zustand, in dem die Vereinigung des "inneren" und des "äußeren" Menschen tatsächlich stattgefunden hat, die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits aufgelöst und somit die Notwendigkeit des Gesetzes obsolet geworden wäre. Solange dies nicht geschehen ist, müssen sich die Menschen auf die bestehende Welt einlassen und zugleich ihre Überwindung vorwegnehmen. Dies geschieht in der Gemeinde als einer Art Diskursgemeinschaft zur Ehre Gottes. "Auch die Gemeinde als der Leib Christi hat jene Doppelstruktur, die schon bei der Unterscheidung des inneren und des äußeren Menschen auffällig war. Sie ist etwas, das unbestreitbar in der Welt ist; schließlich wird sie von Menschen gebildet, die in der Welt und in der Gegenwart leben. Aber sie ist zugleich mehr als diese Welt, sie steht auch schon im neuen Äon, der durch den Tod Christi angebrochen ist. Sie ist der Leib Christi, zwar nicht die unmittelbare Realpräsenz, aber in ihr entfaltet sich der neue Mensch in der neuen kommunikativen Gemeinschaft, die auf das Kommen Christi wartet und sich darauf vorbereitet."9

So überbrückt Paulus in der Tat, wie Akrap schreibt, die Lücke zwischen einer unerfüllten Gegenwart und der Zukunft der kommenden Erlösung. Eben dies ist die messianische Zeit, die Endzeit ohne Ende, weil das Ende (die endgültige Erlösung) noch nicht gekommen ist. Indem jeder einzelne Mensch auf das zugleich bereits stattgefunden habende "Ereignis" (Tod und Auferstehung Christi) bezogen ist und auf das "Ereignis", welches noch aussteht (die Parusie), muss die "universelle Wahrheit" nicht gesucht oder konstruiert, sondern schlicht nur bekannt werden - sie existiert einfach und gilt für alle, und zwar auch für diejenigen, die nicht bekennen. Diese aber werden eben gerade nicht, wie Akrab (S. 3) schreibt "gnadenlos von der neuen Gemeinschaft ausgeschlossen", sondern radikal eingeschlossen, d.h. ihr Ausschluss besteht just darin, dass sie eingeschlossen werden, d.h. in ihrem Eingeschlossensein schließen sie sich selber aus. Es erwischt sie spätestens vor dem "Richterstuhl Christi", denn: "Dies alles geschieht, um die später zu strafen, die nicht bei der Liebe zur Wahrheit, die sie retten sollte, geblieben sind." (2. Thess. 2, 9-12)

Wenn Badiou im Anschluss an Paulus von einer "Politik der Wahrheit" spricht, dann haben diese Politik und diese Wahrheit etwas durchgehend Ereignishaftes, Kontingentes, und eben aus dieser Kontingenz heraus ist die Wahrheit universell. Es geht also wieder einmal um die Quadratur des Kreises, sprich um die alte metaphysische Crux, den Gegensatz zwischen Einheit und Differenz, Wahrheit und Kontingenz, Besonderem und Allgemeinem zu überwinden. Indem Paulus das Scheitern an diesem Problem für dessen Lösung ausgibt, erweist er sich gewissermaßen als der Habermas des frühen Christentums. Und insofern ist der "theological turn" der Philosophie unter Berufung auf Paulus in der Tat nur die Kehrseite des "lingustic turn". Habermas schreibt:

Noch der "herrschaftsfreie Diskurs" also basiert auf einem "Nicht-Hintergehbaren", ergo auf einem Absoluten und ähnelt damit fatal dem Bild der paulinischen Gemeinde als einer Diskursgemeinschaft, in der "schon die Ethik der Liebe und der kommunikativen Freiheit untereinander und im Umgang mit den Heiden praktiziert werden soll."11 Hier wie dort gibt es allerdings auch solche, die "mit Lügenzeichen und Scheinwunder die Schwachen zum Abfall verführen" (2. Thess. 2, 9-12)12, ergo das Böse, dem durch "gute Werke" entgegenzuwirken ist.

Will Paulus die Vielheit durch die Einheit (Universelle Wahrheit) retten, das Besondere durch das Absolute, so Habermas die Einheit durch die Vielheit. "Das Moment Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist, ist kein Absolutes, allenfalls ein zum kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes."13

Die Diskursbegriffe stellen also erstens "fehlbare Wahrheiten" dar. Wenn Wahrheiten aber wahr sind, dann können sie nicht "fehlbar" sein, und wenn sie dies sind, dann sind es eben keine Wahrheiten mehr. Hinter solchen und ähnlichen Formulierungsungenauigkeiten lauert die Aporetik, der die kommunikative Vernunft nach Habermas angeblich entkommen ist. Zweitens soll in diesen so bestimmten Wahrheiten "das Moment Unbedingtheit" aufbewahrt sein. Das Moment, von lateinisch "movere", bezeichnet "das Bewegende" bzw. den "ausschlaggebenden Umstand". Das, was in den "Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit" also aufbewahrt ist, ist das sie Bewegende, das für sie Ausschlaggebende, und eben dies ist nach Habermas die Unbedingtheit. Unversehens steht Habermas also wieder vor der Klippe, die er diskurstheoretisch umschiffen wollte, nämlich vor dem Absoluten. Unter diesen Umständen bleibt dann nur noch das bloße Behaupten oder Bekennen, dieses Absolute sei gar kein Absolutes, sondern nur ein "zum kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes", wobei allerdings nicht einsichtig wird, warum ein flüssiges Absolutes den Charakter des Absoluten durch die Verflüssigung verloren haben sollte. Letztlich geschieht hier nichts anderes als die sprachlich etwas verquere Beschreibung des Übergangs von der christlichen Substanzmetaphysik zur modernen Prozessmetaphysik. Neu daran ist lediglich, dass die so ins Werk gesetzte Reproduktion von Metaphysik zu einem bloßen "Rest von Metaphysik"14 verkleinert wird, der nötig sei, "um gegen die Verklärung der Welt durch metaphysische Wahrheiten anzukommen."15 Mit anderen Worten: gegen Metaphysik hilft nur Metaphysik. Und dies wird Habermas hier nicht einfach nur unterstellt - er sagt es selber: nihil contra Deum nisi Deus ipse.16

Die gegen die traditionelle Aufklärungsphilosophie mit ihrer Verabsolutierung der Vernunft, die "klassische" postmoderne Philosophie mit ihrer Verabsolutierung der Differenzen und implizit auch gegen Habermas’ diskurstheoretische Philosophie gewendete Mobilisierung des Paulus bei Badiou, Zizek und Agamben ergibt nun eine weitere Fortschreibung des Problems durch die erneute Behauptung, dieses Problem sei an sich bereits seine Lösung. Die Wiederholung der Position der paulinischen Theologie, das Bestehen der gegenwärtigen Welt verbürge bereits die Möglichkeit einer besseren, und die "doppelte Wahrheit" des Paulus entziehe sich jeglichem totalitären Zugriff, dreht die Habermassche Gesprächsmetaphysik nur um. Sie setzt gegen den Prozess der Verständigung im "herrschaftsfreien Diskurs" ein grundlegend immer schon gegebenes bereits Verständigtsein, gegen das Habermas sich immerhin noch wehrt. Indem die bestehende Welt angenommen wird, ist die bessere sozusagen bereits realisiert - oder zumindest auf dem Weg. Wo hier ein "ideologiekritisches Potenzial" stecken soll, bleibt völlig unverständlich. Allenfalls das Wiederaufleben einer "politischen Theologie" à la Carl Schmitt, Doris Akrap deutet dies in ihrem zitierten Artikel an, und damit die Heiligsprechung des in der Postmoderne sich real und radikal individualisierenden Ausnahmezustands zum Normalzustand, könnte ein Ergebnis des "theological turn" sein: "Jede/r ist seines/ihres (Un)Glücks Schmitt".

Der Ausdruck "turn", ob "linguistic" oder "theological", verweist bereits darauf, dass hier nur Drehungen stattfinden. Die Herren Philosophen drehen sich im Kreis bzw. sie drehen das Rad wie der Hamster, der nicht vom Fleck kommt, aber gleichwohl meint, die ganze Welt drehe sich um ihn. Und so läuft denn der gepriesene paulinische Universalismus auch auf nichts anderes hinaus als auf die Empfehlung, "ein stilles Leben zu führen, die eigenen Angelegenheiten zu besorgen und mit euren Händen zu arbeiten [...], damit ihr den Außenstehenden gegenüber einen ehrbaren Wandel führt und auf niemanden angewiesen seid" (1. Thess. 4, 10-11) Wahrhaft schöne Aussichten, mit Paulus die heute in ihrem Zerfall gerade die Gebrochenheit ihrer eigenen Universalität demonstrierende Arbeitsgesellschaft als eine der Erlösung bereits teilhaftige auszugeben. "Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Wir haben nämlich gehört, daß einige unter euch einen faulen Lebenswandel führen, nichts arbeiten, sondern sich unnütz machen. Denen, die es angeht, gebieten und befehlen wir im Herrn Jesus Christus, daß sie in Ruhe ihre Arbeit tun und ihr eigen Brot essen." (2. Thess. 3, 10-12)

Angesichts der Tatsache, dass hier dem abgehalfterten abendländischen Universalismus in immer wieder neuen Anläufen zu einem neuen Leben verholfen werden soll, ja er gar zur Brutstätte revolutionärer Umwälzungen erklärt wird, für welche ausgerechnet der Name Paulus einsteht, gilt es die den Brüchen in der Universalität bzw. Totalität nachspürende Wertabspaltungstheorie noch viel ernster zu nehmen und weiter voranzutreiben, als dies bisher vielleicht geschehen ist.

Jeder Versuch, den Universalismus zu retten, läuft auf jene metaphysische Gewalttat hinaus, die seit jeher darin bestanden hat, das Besondere unter das Allgemeine zu beugen und alles sich dieser Beugung Widersetzende auszusondern und zu vernichten. Offensichtlich waltet hier nach wie vor das an die Gnosis erinnernde Leiden an der Gottverlassenheit der Welt. Und die Überwindungen dieses Zustandes fallen von Mal zu Mal ins Überwundene zurück. Die Geschichtsphilosophie, so hat es der Philosoph Odo Marquard einmal formuliert, sei "die Rache der zweimal überwundenen Gnosis an ihrer zweiten Überwindung",17 also die Rache an der Aufklärung. Mit der politischen Theologie des Paulus scheint nun die Rückwendung zur ersten Überwindung stattzufinden, da die zweite so offensichtlich versagt hat. Doch auch hier folgt die Rache auf dem Fuße. Mit der propagierten "Politischen Theologie" rächt sich die misslungene Überwindung der Religion an ihren Überwindern. Der sich selbst zur Religion gewordenen Gesellschaft wird der Heiligenschein aufgesetzt. Die heilige Diskursgemeinschaft quatscht vor sich hin, und am Ende sieht es dann wirklich so aus, als ob nichts gewesen wäre und auch in Zukunft nichts sein werde - außer dass alle ihr Tagwerk verrichten und "ihr eigen Brot essen". Ein sehr nahrhaftes Ergebnis für eine so große philosophische Anstrengung.