Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo
in portugiesischer Sprache im Juli/August 2005

Robert Kurz

DER MOLEKULARE AUSNAHMEZUSTAND

Krisenbewusstsein und "theological turn" der Postmoderne

Die Postmoderne ist am Ende. Der Begriff war ohnehin schon immer eine Mogelpackung: Er sollte etwas gesellschaftlich Neues suggerieren und konnte doch gar keinen eigenen Inhalt angeben. Die Hohlheit der Selbstbenennung verweist darauf, dass die Postmoderne nichts anderes als der begriffslos gewordene moderne Kapitalismus in einer Spätform eitler Selbstbespiegelung war. Das entleerte Subjekt gefiel sich in einem Kult der Medialität und des "anything goes". Gesellschaftlich entsprachen dieser Virtualisierung seit den 80er Jahren einerseits in technologischer Hinsicht der Personalcomputer, die neuen Medien und Kommunikationstechnologien (insbesondere das Internet), andererseits in ökonomischer Hinsicht die spekulativen Finanzblasen auf den Aktien- und Immobilienmärkten.

Aber der harte Kern des Kapitalismus kann letzten Endes nicht simulativ weich gemacht werden. Zentral in diesem System ist die Kategorie der "Arbeit", die von ihrer Wurzel her als "männlich, weiß und westlich" bestimmt ist. Damit verbunden ist eine Abwertung der Frauen, an die alle von der "Arbeit" abgespaltenen, darin nicht aufgehenden Momente der sozialen Reproduktion delegiert wurden. Gleichzeitig ist in den Code der Disziplinierung für die Zumutungen der "Arbeit" eine Abwertung nicht-weißer Menschen als Urbilder der mangelnden Unterwerfung unter die Vernunft der Moderne eingeschrieben, während die inneren Krisen des Systems stets einer fremden subjektiven Macht zugeschrieben wurden, als die im Kontext der europäischen Geschichte "die Juden" identifiziert wurden. Sexismus, Rassismus und Antisemitismus sind daher schon seit der Aufklärung mit der Positivierung der "Arbeit" vermittelt, die in der Verwertung des Kapitals die Substanz bildet und nichts anderes als die von Marx negativ aufgefasste "abstrakte Arbeit" darstellt. Alle anderen Kategorien der modernen warenproduzierenden Gesellschaft (Markt, Staat, Nation, Politik etc.) sind von diesem wesentlichen Zusammenhang bestimmt. Indem der traditionelle Marxismus sich auf einen "Kampf um Anerkennung" im "eisernen Gehäuse" (Max Weber) dieser Kategorien beschränkte, musste er seinerseits die "abstrakte Arbeit" samt ihrer Disziplinierung anerkennen und zu einer transhistorischen "Ontologie der Arbeit" ideologisch überhöhen.

Aber durch die dritte industrielle Revolution macht der Kapitalismus erstmals selber die "Arbeit" obsolet. Diese historische innere Schranke der Verwertung wurde durch die Finanzblasen-Ökonomie der 90er Jahre überspielt, und in diesem Klima konnte der simulative Postmodernismus zu einer Mainstream-Ideologie aufsteigen. Die postmoderne Linke wollte sich dem Problem einer kategorialen Kritik an den gesellschaftlichen Formen des modernen warenproduzierenden Systems (einschließlich einer Kritik der "Arbeit") nicht stellen; deshalb blieb sie auch unfähig, die historischen und strukturellen Tiefendimensionen von Sexismus, Rassismus und Antisemitismus zu erfassen. Diese Linke ging nicht über den alten sozialen und nationalen "Kampf um Anerkennung" innerhalb der bürgerlichen Welt hinaus, sondern sie mogelte sich bloß am traditionellen Marxismus vorbei. Im Kontext der allgemeinen ökonomischen und kulturellen Virtualisierung machte sie mit bei der ideologischen Entwirklichung der Welt; auch die Kritik der politischen Ökonomie sollte "immaterialisiert" werden. Antonio Negri und Michael Hardt gaben dieser Tendenz mit dem Begriff der "immateriellen Arbeit" zuletzt einen scheinbar eleganten Ausdruck. Überhaupt wurden die Begriffe der gesellschaftlichen Analyse und Kritik nicht erneuert und weiterentwickelt, sondern bloß virtualisiert.

Die einst realen, längst Geschichte gewordenen Klassen- und Unabhängigkeitskämpfe reproduzierten sich als Simulationsprogramm. Die medial sozialisierte Linke begann zu glauben, sie würde gesellschaftliche Veränderungen bewirken, wenn ihre Inszenierungen im Fernsehen als bewegte Bilder erscheinen. Auf der Basis "immaterieller Arbeit" schien das Kapital unbegrenzt fiktiv per Finanzblasen akkumulieren zu können, wie es Jean Baudrillard in schwammiger philosophischer Terminologie schon Ende der 70er Jahre behauptet hatte; und die postmodernisierte Linke gefiel sich dementsprechend darin, ebenso fiktive und rein symbolische "Kämpfe" zu proben wie ein Schülertheater. Der Kapitalismus, so schien es, war auch nur eine Art "Film".

Mit dem Zusammenbruch der New Economy 2000/2001 hat sich das Konzept der "immateriellen Arbeit" blamiert. "Arbeit", auch so genannte geistige, ist immer materielle "Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn" (Marx). Die "abstrakte Arbeit" im Kapitalismus ist kein bloßes Gedankending, sondern es ist gerade die Abstraktion der Ökonomie vom konkreten Inhalt, die eine Reduktion auf die Auspressung menschlicher Energie als irrationalen Selbstzweck vornimmt. Nicht durch Blaupausen, "kreative" Ideen oder gar Maus-Clicks wird das Kapital verwertet, sondern nur durch reale Massen tagtäglich repetitiv angewendeter "abstrakter Arbeit". Die viel beschworene Wissensgesellschaft, in der die Menschen neben den Produktionsprozeß treten, wie Marx es vorausgesagt hat, ist in kapitalistischer Form nicht möglich.

Der Zusammenbruch ganzer Nationalökonomien seit Beginn der 90er Jahre, das Platzen der Finanzblasen in Asien und die Finanzkrisen in vielen Ländern haben dort in sozialer Hinsicht "verbrannte Erde" zurückgelassen. Die simulative Ökonomie des fiktiven Kapitals schien dennoch in den Metropolen weiter blühen zu können; in Kontinentaleuropa fühlte man sich durch den Welfare-Staat immer noch abgesichert; und überall wähnten sich die qualifizierten Schichten insbesondere der IT- und High-Tech-Branchen auf der sicheren Seite. Das Elend der "anderen" war für das postmoderne Bewusstsein auch nur ein "Film". Aber das Platzen der New-Economy-Blase hat eine große Anzahl von postmodernen "Wissenden" ruiniert und ihr Wissen entwertet. Die auch in den Metropolen um sich greifende Krise zerfrisst den europäischen Welfare-Staat mit unglaublicher Geschwindigkeit. Die neue Mittelklasse stürzt ab; plötzlich gibt es für viele einen Filmriß im eigenen realen Leben. Die Simulanten ihrer selbst werden damit konfrontiert, dass das Geld nicht auf den Bäumen wächst und dass man aus dem Internet kein Manna herunterladen kann.

Der Einbruch der negativen Realität in den virtuellen Raum der Simulation wird jedoch nicht kritisch, sondern regressiv verarbeitet. Angesichts der Härte der Ökonomie, von der es nun ereilt wird, scheint sich das kulturalistisch reduzierte Bewusstsein einer Art apokalyptischen Wende hinzugeben. Der transzendentale Nihilismus des Kapitals und seiner "leeren Form" wird mit großer Geste an die Wand gemalt, aber ohne analytische Vermittlung. Wie die Postmoderne generell dazu neigt, die Kontingenz überzustrapazieren und die Differenz zwischen Kritik und Affirmation verschwimmen zu lassen, so wird auch hier offen gelassen, was eigentlich gemeint ist. Die Entdeckung des nihilistischen Charakters der Ökonomie kann daher auch bedeuten: Die Postmoderne verliebt sich ins Nichts. Wenn schon sozial untergehen, dann stilvoll. Der realmetaphysische Charakter kapitalistischer Kategorien erscheint in der Reflexion nur als Gespenst. Die Benennung des "Mysteriums der Ökonomie" als "theologisch-ökonomisches Paradigma" bei dem italienischen Philosophen Georgio Agamben etwa bleibt so kryptisch, dass sie selber zur Mystifikation wird, statt die Demystifikation auf den Weg zu bringen. Das quasi-religiöse Moment des Kapitalismus, wie es Marx mit seinem Begriff des Warenfetischs angedeutet hat, wird nicht über Marx hinaus kritisiert, sondern theologisiert. Schon ist die Rede vom "theological turn" der Postmoderne.

Wenn Agamben, sein französischer Kollege Alain Badiou oder der slowenische Allround-Postmoderne Slavoj Zizek dabei allen Ernstes den Apostel Paulus als eine Art Lenin entdecken, so hat dies durchaus Methode. Natürlich gehen sie als gelernte Atheisten nicht brav in die Sonntagsschule von Papst Benedikt. Der 13. Apostel wird vielmehr gebraucht als Paradigma für die angeblich erfolgreiche Haltung, in der Krise einer Welt sich selbst allein durch die "unerhörte Geste" zum Kreator einer neuen Welt zu machen. Paulus habe die Methode entdeckt, mittels einer sich selbst setzenden "Wahrheitspolitik" das "alte Gesetz" aufzulösen, indem er das banale Sterben Jesu zum "Christusereignis" machte. Diese "Wahrheit" sei begründungslos, sie habe nichts mit Gesetzmäßigkeiten, Bedingungen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Und so soll auch heute die gesellschaftliche Lebenspraxis durch eine begründungslose Wahrheits- und Ereignispolitik aufgebrochen werden. Unter Missbrauch einiger Formulierungen Walter Benjamins verselbständigt sich gewissermaßen ein "messianisches" Moment des traditionellen Marxismus.

Natürlich ist das alles nicht mehr ganz neu. Die von den Postmodernen aufgenommenen Motive aus Heideggers Existentialismus werden nun in der real erlebten Krise ereignisphilosophisch zur "politischen Theologie" aufgerüstet. Die Vermittlungen werden endgültig durchgestrichen, an ihre Stelle soll der sich selbst zeugende Akt treten. Schon die Situationisten um Guy Debord wollten ihr Unbehagen an "abstrakter Arbeit" und Warenfetisch nicht theoretisch und praktisch konkretisieren, sondern "Situationen" erfinden, um die etablierte Ordnung überraschend wenigstens für Augenblicke außer Kraft zu setzen. Adorno bezeichnete solche Denk- und Vorgehensweisen als "falsche Unmittelbarkeit". In Wirklichkeit ist das Subjekt selber kapitalistisch vermittelt, und gerade deshalb kann es nicht begründungs- und bedingungslos eine andere Wahrheit setzen. Auch Paulus war zu seiner Zeit historisch-gesellschaftlich bedingt und kein Erfinder einer autopoietischen Wahrheitspolitik.

Es bedarf heute einer bewussten und zähen Gegenvermittlung, um die Geschichte der kapitalistischen Konstitution kritisch aufzurollen, die moderne Realmetaphysik als inneren Zusammenhang der politisch-ökonomischen Formen zu dechiffrieren und die eigene Verfaßtheit als bürgerliches Subjekt negativ in ihrem Gewordensein zu begreifen. Das gilt auch für die Praxis sozialen Widerstands; selbst die kleinste gewerkschaftliche Aktion kann nur durch einen komplexen Vermittlungsprozeß wirksam werden. Die "unerhörte Geste" als Ersatz für die kritische Gegenvermittlung ist ein miserabler Mythos, mit dem die Postmodernen ebenso billig wie großspurig davonzukommen hoffen. Am liebsten möchte das simulative Bewusstsein auch noch den sozialen Weltuntergang als Event konsumieren, um hinterher angeregt nach Hause zu gehen. Da aber die eigene reale Verarmung und soziale Degradierung nicht virtualisiert werden kann, nimmt die Theologisierung des Kapitalismus einen bösartigen Verlauf.

Agamben hatte in seinem Buch "Homo sacer" die Geburt und den Prozeß der Moderne mit dem Begriff des Ausnahmezustands erklärt und damit einen bedeutenden Beitrag zu einer neuen historischen Kritik geleistet. Indem er sich aber weigert, diese Erkenntnis mit einer konkreten kategorialen Kritik der politischen Ökonomie zu verbinden und die Moderne in dem Essay "Profanierungen" stattdessen rein assoziativ theologisiert, wird sein Denken offen für eine obskure und barbarische Interpretation. Die Umdeutung der sozialen Befreiung in die Ereignisphilosophie eines profanisierten eschatologischen Heilsgeschehens erweist sich als kompatibel mit der "politischen Theologie" des Rechtstheoretikers Carl Schmitt, der Hitlers Nationalsozialismus nahe gestanden hatte. "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", diese berüchtigte Formulierung Schmitts ist durchaus verwandt mit dem postmodernen "theological turn". Konnte Agamben in "Homo sacer" noch als kritisch gegenüber Schmitt verstanden werden, so macht sich nun eine unheimliche Konvergenz bemerkbar. Das Gemeinsame ist die ausdrückliche Begründungslosigkeit der "Entscheidung". Auch die soziale Befreiung bedarf des entschiedenen Willens, aber diese Entscheidung kann immer nur aus bewussten Begründungen und kritisch analysierten Bedingungen heraus gedacht werden.

Wenn das männlich-weiße, westliche Subjekt noch in seinem Verfall seine eigene Verfasstheit in der Bedingung durch die gesellschaftlichen Formen und durch die Abspaltung des Weiblich nicht wahrhaben will, sondern mit dem "Blitz der Entscheidung" begründungslose "Ereignisse" wahrheitspolitisch gesetzt werden sollen, dann kann sich in der Krise nur die kapitalistische Determiniertheit qualvoll reproduzieren. An den Grenzen des Systems der "abstrakten Arbeit" fehlt aber schon die Kraft zur gesamtgesellschaftlichen Verallgemeinerung. Während die staatliche Krisenverwaltung den sozialen Zusammenhang abwickelt, verfällt die fragmentierte Gesellschaft in den "molekularen Bürgerkrieg" (Hans Magnus Enzensberger). Die postmoderne Theologisierung des Kapitalismus arbeitet mit ihren Mystifizierungen der Barbarei zu; sie schlägt um in den destruktiven leeren "Willen, der sich selber will" (Hegel).

Die neo-existentialistische oder neo-situationistische Antwort auf den Nihilismus der Moderne entpuppt sich so als eine selber nihilistische. Die postmoderne "Individualisierung" (Ulrich Beck), die in den USA und in Deutschland am meisten fortgeschritten ist, wird schon wieder obsolet. Aber die atomisierten Individuen, die als Könige ihrer selbst im Reich des persönlichen Warenkonsums abdanken müssen, sind zunächst einmal nicht wieder gesellschaftsfähig. Das Resultat ist die kasuelle Zusammenrottung zum Mob. Nicht allein die rassistische und antisemitische Hetze hat unter den Krisenbedingungen der Globalisierung weltweit neue Konjunktur in vielfältigen Erscheinungsformen. Überall formieren sich diejenigen, die sich zu kurz gekommen fühlen, die ihren Ehrgeiz nicht mehr befriedigen können und die nicht mehr konkurrenzfähig sind; aber sie formieren sich nicht zur Solidarität, sondern zur ebenso unverbindlichen wie militanten Selbstbehauptung in mafiotischen Zusammenhängen, und zwar ganz unabhängig von jedem Inhalt.

Die Gesetze des kriminellen Milieus verallgemeinern sich in allen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen. Das ist mehr als bloß die traditionelle Korruption. Im Management, in den politischen Parteien, im Wissenschaftsbetrieb und sogar in linken Theoriezirkeln sind die Personalisierung der Probleme, die Intrige, die gegenseitige Pathologisierung und der inszenierte Skandal an der Tagesordnung. Auf der Ebene des Alltags schlägt der Krieg aller gegen alle um in den "molekularen Ausnahmezustand": Das "Ereignis" erscheint nicht als Aktion der Befreiung, sondern als Putsch und als Coup, um auf sozialen Terrains vom Format der Disney-World eine desperate, schon im Ansatz haltlose "Souveränität" aufzurichten. Im Zerfall der Moderne wiederholt sich ihre Gründungsgeschichte als Farce im mikrologischen Maßstab.

Die Krise männlicher Identität im Kapitalismus der dritten industriellen Revolution äußert sich als "Rache der kleinen Männer" an den "Prominenten", die zu Fall gebracht werden sollen; sie erscheint aber auch als neuer Sexismus. Nicht umsonst war der heilige Paulus, der angebliche Erfinder der Wahrheitspolitik, auch derjenige, der die Parole ausgegeben hat, dass die Frauen in der Gemeinde zu schweigen hätten. Jetzt wollen die entwerteten postmodernen Männer paradoxerweise sogar noch die besseren Frauen sein. Weibliche Positionen und Kreationen in der Gesellschaft sollen enteignet werden, um die männliche Suprematie zu retten. Paulus als "Lenin", das ist ein Paradigma der Selbstwertprobleme männlich-weißer, westlicher Subjekte in der Krise der "abstrakten Arbeit", die sich auch noch das abgespaltene Weibliche als "kulturelles Kapital" (Pierre Bourdieu) unter den Nagel reißen wollen. Das Karussell des "molekularen Ausnahmezustands" dreht sich in der begründungslosen Selbstbegründung deformierter Subjekte, die ihre Perspektivlosigkeit zur Ereignisphilosophie stilisieren. Abgerufen wird so die inhaltslose Heideggersche "Entschlossenheit": Sie sind immer entschlossen, wissen aber nicht, wozu.