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„Im Takt des Geldes“, 2. Durchgang

Fragen zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Wertvergesellschaftung

- Internes Diskussionspapier -

C.P. O.

Eske Bockelmanns Buch „Im Takt des Geldes“ (im Folgenden: TG) hat u. a. einen Beitrag zu einer Fragestellung geleistet, der ich mich in dem Text „Bewusstlose Objektivität“ (Krisis 21/22, im Folgenden: BO) zu nähern versucht habe, nämlich der nach der Genese der neuzeitlichen Naturwissenschaft aus der spezifischen Struktur der Gesellschaft, in der sie stattfindet, der bürgerlichen, durch das Geld bzw. die Warenform konstituierten. Die im folgenden gestellte Frage, worin dieser Beitrag besteht, wie weit er reicht und welche Probleme er ungeklärt lässt bzw. gar nicht behandelt, wird TG insofern nicht gerecht, als der Inhalt dieser Frage ausdrücklich nicht sein eigentliches Thema ist, das Buch hier also an Ansprüchen gemessen wird, die es gar nicht erfüllen will. TG identifiziert einen Teilaspekt der historisch spezifischen, der Neuzeit angehörenden und den Subjekten nicht bewussten Denkform, der hier TG folgend als „funktionale Denkform“ bezeichnet wird, am Taktrhythmus, weist seine Genese aus dem Geld – bzw. dem alltäglichen Umgang mit ihm zwecks Fristung des eigenen Daseins – nach und zeigt, wie er das moderne Denken in Naturwissenschaft und Philosophie beeinflusst.

Ich halte die in TG vorgetragene Argumentation im Wesentlichen für schlüssig. Daraus folgt aber nicht, jedenfalls nicht per se, dass damit Sohn-Rethel's Frage nach der Genese der Denkform aus der Warenform abschließend geklärt sei, sondern nur, dass der in TG aufgezeigte Zusammenhang hierfür eine wesentliche Rolle spiele. Wie wesentlich, wäre zu klären, und danach wird hier gefragt.*

„Ein dünner Faden von stählerner Kraft“

Es geht um eine Erklärung der Genese der (Natur-)Wissenschaft und ihres Denkens, die weder internalistisch (wissenschaftsimmanent, kognitiv) noch externalistisch (soziologisch) ist.  Wissenschaftsimmanente Deutungen können den Bruch – die Revolution –  nicht erklären, durch den Wissenschaft allererst in die Welt gekommen ist. Soziologische (auf Interessen, Institutionen oder außerwissenschaftliche Probleme rekurrierende) Deutungen können nicht erklären, was da in die Welt gekommen ist. Ein bloßes Zusammenwerfen beider Ansätze muss unzusammenhängend bleiben, und wäre daher ebenfalls nicht tragfähig. Zu erklären ist übrigens auch, wieso die Protagonisten der neuen Herangehensweise diese für völlig „natürlich“, auf der Hand liegend und klar halten, obwohl sie (so Koyré) in Antike und Mittelalter als „offenkundig falsch, ja absurd“ eingestuft worden wäre, was dann umgekehrt für uns nicht mehr nachvollziehbar ist. Damit verbietet sich aber auch jede Erklärung, die darin besteht (Sohn-Rethel), bestimmte mit dem Aufkommen des Geldes verbundene Vorstellungen (Tausch- und Geldhandlungen, unternehmerisches Kalkül) seien bewusst auf andere Bereiche übertragen worden. Wäre dem so, dann läge die Genese des modernen Denkens nicht in dem Dunkel, in dem sie tatsächlich liegt.

Unter Berücksichtigung all dieser Schwierigkeiten ergibt sich als (vermutlich) einzige Gestalt, die eine tragfähige Erklärung ihrer Logik nach nur haben kann:

Gesellschaftsform → Subjektform → Erkenntnisform ,

soll heißen: Die Gesellschaft konstituiert ihre Subjekte, die sich dieser ihrer historisch spezifischen Form aber nicht bewusst sind, sondern sie für natur- oder gottgegeben halten. Als Erkenntnissubjekte bringen sie wiederum die ihnen adäquate Erkenntnisform hervor als eine kognitive Leistung, deren Form –  als „natürlich“ empfunden –  unbewusst und deren Genese verborgen bleibt.

In diesem „Forschungsprogramm“ und seinen aufklärungskritischen Prämissen stimmen BO und TG überein und unterscheiden sich von fast allen anderen.# Die Unterschiede liegen in der inhaltlichen Ausführung, also darin, welche Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft, des bürgerlichen Subjekts und seiner objektiven Erkenntnisform besonders hervorgehoben und miteinander in Beziehung gesetzt, welche „Fäden“ zwischen Wissenschaft und Gesellschaft mithin gezogen werden. Ihre Tragfähigkeit ist jeweils zu prüfen.

TG verfolgt nach eigener Aussage unter diesen Fäden nur einen einzigen, den jedoch in aller Akribie und Genauigkeit. Gerade die Wucht der Argumentation macht es aber beim ersten Lesen schwierig zu erkennen, wo tatsächlich Verbindungen hergestellt werden können und wo nicht. Daneben gibt es Verbindungen, die von vornherein außer Betracht bleiben, als wichtigste die zwischen bürgerlichem Geschlechterverhältnis, geschlechtlicher Bestimmtheit der Subjektform und männlicher Dominanz in der (Natur-)Wissenschaft. Hier sind weitere „Fäden“ zu ziehen und miteinander zu „verweben“.

Gesetz – Experiment – Fortschritt

TG erklärt die allgemein anerkannte Charakterisierung von Wissenschaft (270) mit dem durch die Geldsynthesis hervorgebrachten funktionalen Denken.

Am überzeugendsten erscheint mir dabei die Erklärung der gesetzesförmigen Naturauffassung. Sie entsteht durch die unwillkürliche Übertragung einer Denkform, deren reflexhafte Anwendung für das Überleben in der durch das Geld vermittelten Gesellschaft erforderlich ist. Da dieses Denken unbewusst ist, erscheint es „natürlich“ (wie der Taktrhythmus) und muss deshalb in den Erkenntnisgegenstand selbst hineinprojiziert werden:

Muss aber für Experiment und Fortschritt nicht noch etwas hinzukommen? Zum Experiment: Es gibt ja Wissenschaften, die ganz im Geiste der funktionalen Denkform nach Gesetzen suchen, sich aber auf die nicht eingreifende Beobachtung beschränken müssen, weil Experimente ihnen nicht möglich sind, so etwa die Astronomie, die Klimaforschung, die VWL oder die Ökologie. Das heißt aber, dass sich das Experiment (als notwendiges Werkzeug) aus der funktionalen Denkform allein nicht zwingend ableiten lässt, sonst dürfte es solche Wissenschaften nicht geben.

Die Rolle des Experiments als für die neuzeitliche Naturwissenschaft konstitutiv soll damit nicht bestritten werden, im Gegenteil. Sie zeigt sich u. a. darin, dass sich die mathematisch-experimentelle Methode ihre Probleme nach der Möglichkeit ausgesucht hat, sie mit ihren Werkzeugen und insbesondere dem des Experiments zu traktieren (beginnend mit den allereinfachsten Problemen der Mechanik), und sich erst nach und nach auf immer neue Wissensgebiete ausgeweitet hat (als einzige Ausnahme bleibt die Astronomie, die von Anfang an dazugehörte).

Das Experiment ist ein mehr oder weniger gewaltsamer Eingriff in die natürlichen (soll heißen: ohne solche Eingriffe sich vollziehenden) Abläufe und soll dann merkwürdiger Weise Auskunft geben darüber, was auch ohne derartige Eingriffe immer passiert, ohne sie aber überhaupt nicht sichtbar wäre. Lässt sich diese „offenkundig falsche, ja absurde“ Vorstellung allein mit der funktionalen Denkform und ihrer Genese erklären? Oder zielt vielleicht von Anfang an die neuzeitliche Naturwissenschaft ihrer Struktur nach weniger auf Erkenntnis und mehr auf die technische Neuschöpfung der Welt (Bacon)? Die Art dieser Neuschöpfung ergibt sich wiederum aus der funktionalen Denkform, nicht aber das Ziel an sich, die ganze Welt nach deren Bild zu gestalten. Zu seiner Erklärung müssten evtl. andere konstituierende Elemente der bürgerlichen Gesellschaft herangezogen werden.

An diesem Ziel orientiert sich laut TG auch der Fortschritt, mit dem immer mehr Teile der Wirklichkeit immer besser an das Ideal der funktionalen Denkform angepasst werden. Von Bacon, Hobbes, Descartes usw. als ein Versprechen aufgefasst, kann es heute nur noch als Drohung angesehen werden. Auch bei der Idee des Fortschritts stellt sich die Frage, ob sie allein aus der funktionalen Denkform folgt oder andere Strukturelemente der Moderne hinzu kommen. Zu denken ist hier insbesondere an die Selbstverwertung des Werts mit der Tendenz, letztlich alle Inhalte in seine Form zu bringen. Ein weiterer, mit dieser Beschreibung der Fortschrittsauffassung noch nicht erfasster Aspekt ist die Vorstellung von der Wissensakkumulation, der zufolge objektives Wissen nie verloren geht, sondern allenfalls im fortgeschritteneren Wissen aufgehoben wird, das seinerseits auf früherem Wissen aufbaut. Auch hier die Frage: Lässt sich diese Vorstellung von Wissenschaft als Gebäude allein mit der funktionalen Denkform erklären? Die Analogie zur Akkumulation von Geld/Kapital springt ins Auge, aber ist es mehr als nur eine Analogie?

„Die natürliche, die handgreifliche Evidenz“

Das Koyré-Zitat

erscheint als eines der immer wieder auftretenden Leitmotive von TG (und darauf nimmt auch BO positiv Bezug, Koyré ist einer der wenigen gemeinsamen Quellen beider Texte).  Damit werden Bilder vermittelt, als habe das Geld gewissermaßen einen Schalter im Denken umgelegt bzw. den Menschen die rosa Brille des Mittelalters abgenommen und die blaue Brille der Neuzeit aufgesetzt, sodass sie fortan dieselbe Wirklichkeit in völlig anderem Licht sehen. Derartige Metaphern sind nicht falsch, und hinsichtlich der Nicht-Vermittelbarkeit des naturwissenschaftlichen Weltbildes anderen Epochen gegenüber dürften sie sogar den wesentlichen Punkt treffen.

Dass aber die Auffassungen der mathematischen Naturwissenschaft modernen Menschen per se als „natürlich“ und „evident“  erscheinen, lässt sich empirisch nicht halten, andernfalls bedürfte es nicht der Bildungsinstitutionen, die diese Auffassungen ihren SchülerInnen und Studierenden erst einbläuen müssten, mit eher mäßigem Erfolg. Das Schulfach Mathematik gilt vielen als unzugänglich und ist an den Hochschulen immer noch das Selektionsinstrument. Ebenso wäre es, wenn es denn gelehrt würde, mit dem Fach „Mathematische Naturwissenschaft“ (was in den Schulen tatsächlich gelehrt wird, sind so genannte naturwissenschaftliche „Tatsachen“, weitgehend unter Absehung von der Methode, mit der sie produziert wurden), das den Blick auf die Welt durch die „mathematische Brille“ zu vermitteln hätte („Mathematische Modellierung“ in moderner Terminologie).+

Anders als der Taktrhythmus, der jeder und jedem Einzelnen scheinbar „im Blut“ liegt, stößt das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken auch heute noch auf den Widerstand des „gesunden Menschenverstands“, weil Naturgesetze wie

  • die Erde dreht sich um ihre eigene Achse und die Sonne,
  • alle Körper fallen gleich schnell,
  • ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, bewegt sich ad infinitum geradlinig gleichförmig weiter

den alltäglichen Erfahrung in einer Weise widersprechen, dass ihre „handgreifliche Evidenz“ erst der naturwissenschaftlichen Bildung bedarf, also „von Staats wegen“ in den Köpfen verankert werden muss. Allein der Umgang mit Geld reicht dazu offensichtlich nicht aus, und auf der individuellen Ebene gibt es meines Wissens hier auch keinen nachweisbaren Zusammmenhang im Sinne einer Korrelation zwischen naturwissenschaftlichem Verständnis und der Fähigkeit, mit Geld umzugehen.

Das ändert nichts daran, dass erst die Geldvergesellschaftung das naturwissenschaftliche Weltbild hervorgebracht hat und dieses ohne jene nicht wäre. Der Wert ist die Bedingung der Möglichkeit der neuzeitlichen Wissenschaft und der zu ihr gehörigen Denkform, doch wie gelangt der Wert in die Köpfe? Offenbar gibt es hier ein Vermittlungsproblem, das auf der „individualpsychologischen“ Ebene nicht zu lösen ist und sich vermutlich für den Taktrhythmus anders darstellt als für die Wissenschaft und wieder anders für die Philosophie.

Anzumerken ist (wieder eine bloße Analogie?), dass auch der Kapitalismus seinen Leuten erst gewaltsam aufgeherrscht werden musste (vgl. „Schwarzbuch Kapitalismus“), von denen die meisten ihn alles andere als „natürlich“ angesehen haben düften.

Moderne vs. Neuzeitliche Wissenschaft

Die in TG und BO in den Blick genommene „Revolution der Denkart“ (Kant) bezieht sich auf eine Mathematik und Naturwissenschaft, die heutzutage als „klassisch“ gilt. Wenn dagegen von „moderner“ Mathematik oder Physik die Rede ist, so ist die des 20. Jahrhunderts gemeint. Vorbereitet durch im 19. Jahrhundert auftretende Probleme und Inkonsistenzen hat es ziemlich genau um 1900 wissenschaftliche Revolutionen im Kuhn'schen Sinne (Paradigmenwechsel) gegeben, von der aber in voller Breite verschiedene Fächer erfasst wurden:

  • Die Physik verabschiedet sich mit der Quantenphysik (Planck 1900) und der Relativitätstheorie (Einstein 1905) vom mechanistischen Weltbild (nicht allerdings vom Bild der Welt als einer mathematischen bzw. auf diese Weise adäquat beschreibbaren Maschine).
  • Galileis Vorstellung vom „Buch der Natur, das in der Sprache der Mathematik geschrieben“ sei, wird ersetzt durch den instrumentellen Einsatz mathematischer Modelle (Hertz 1894). Es kann fortan für denselben Wissensbereich mehrere konkurrierende oder sich ergänzende Modelle geben, und diese brauchen auch keine „anschauliche“ (mechanische) Bedeutung mehr zu haben, sodass es unterschiedliche (und umstrittene) „Deutungen“ ein und desselben mathematischen Modells geben kann (so etwa die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie).
  • Die Mathematik konstituiert sich als Fach eigenen Rechts (Hilbert 1900), indem sie ihre Probleme nicht mehr nur aus den Realwissenschaften bezieht (Auftrennung in „reine“ und „angewandte“ Mathematik) und sich von allen Inhalten ablöst. Mathematische Sätze sind nicht mehr „wahre Aussagen über die Natur“, vielmehr weicht der mathematische Wahrheitsbegriff auf: eine mathematische Theorie gilt fortan genau dann als „wahr“, wenn sie widerspruchsfrei ist.
  • Mathematische Modelle werden in der Folge (Biologie) oder auch schon vorher (Ökonomie) zunehmend in anderen Wissenschaften eingesetzt, es bilden sich Fachrichtungen wie „Mathematische Wirtschaftstheorie“, „Mathematische Ökologie“, „Mathematische Psychologie“ aus, in denen die „mathematisch-naturwissenschaftliche“ Methode eingesetzt wird, aber ohne das Instrument des Experiments auskommen muss.

Diese Entwicklung könnte deutlich machen, dass die Mathematik nicht im Erkenntnisgegenstand liegt, sondern Teil des Erkenntnis-Instrumentariums und damit des erkennenden Subjekts ist. Sie erleichtert auch uns (TG und BO) damit die Kritik. Auf der philosophischen Ebene jedoch werden vom Positivismus zugleich bestimmte, als „metaphysisch“ denunzierte Fragestellungen als sinnlos, unlösbar und nicht zur positiven Wissenschaft gehörig abgeschnitten und nicht mehr gestellt, gerade damit aber eine ihren Verfechtern nicht bewusste Metaphysik kreiert, ein universeller Fetischismus, der die mathematische Gesetzmäßigkeit endgültig zu einer Eigenschaft der Dinge selbst erklärt.

Wie ist diese neuerliche wissenschaftliche Revolution zu erklären? Handelt es sich um eine oder mehrere, nur zeitgleiche, aber nicht zusammenhängende? Reicht zur Erklärung die Kuhn'sche „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ aus? Lassen sich Beziehungen zur Entwicklung des Kapitalismus herstellen? Es handelt sich hier – anders als die Revolution von 1600 – tatsächlich um eine innerwissenschaftliche Revolution und nicht um eine Neukonstitution, im Rahmen des Fortschrittsparadigmas werden die „klassischen“ Vorläufer nicht verworfen, sondern aufgehoben (das jedenfalls die Sichtweise der „modernen“ Wissenschaft). Dennoch ist die Umwälzung derart umfassend und tiefgehend, wie es das seit 1600 nur dieses eine Mal gegeben hat. Die Frage nach dem Charakter dieser Revolution stelle ich hier deswegen, weil TG dazu einige Andeutungen enthält, die allerdings auf spätere Ausarbeitungen verweisen. Danach wären bestimmte Vorstellungen der modernen Physik (Teilchen-Welle-Dualismus der Quantenphysik, Schwarze Löcher, Urknall) nur der konsequente Ausfluss dessen, was bereits 1600 in die Welt gesetzt wurde. Ich möchte daran ein paar Zweifel anmelden.