Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in einer leicht geänderten Fassung
in der Wochenzeitung „Freitag“ am 18.11.2005

Robert Kurz

DIE ABWICKLUNG DES BINNENMARKTS

Es ist besiegelt: Der Koalitionsvertrag von Rotschwarz garantiert nicht nur neue Gegenreformen; er liefert auch die Richtlinien dafür, die desaströsen Resultate der bisherigen antisozialen Abwicklungspolitik von Rotgrün auf derselben sozialdarwinistischen Linie zu verwalten. Hartz IV hat einen Schub millionenfacher Verarmung bewirkt, gleichzeitig aber die Staatskasse durch bürokratischen Aufwand unerwartet stark belastet. Das Abschiedsgeschenk des sozialdemokratischen Superministers Clement an die unter seiner Ägide Deklassierten bestand deshalb darin, sie in einer Hetzkampagne als „Parasiten“ und „Sozialbetrüger“ zu denunzieren. Die geplante Verschärfung der Vorschriften beim Arbeitslosengeld II reicht der neuen Administration aber nicht. Sie will die Kostenexplosion der Sozialapparate durch eine drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 2007 kompensieren. Damit werden die Weichen für den Übergang in eine neue Dimension der Krisenverwaltung gestellt: Während die Masseneinkommen weiter sinken, schnellen die Preise für die meisten Gebrauchsgüter in die Höhe. Der direkte Sozialabbau wird multipliziert durch den indirekten.

Für die anschwellende Masse der Empfänger von bereits zusammengestrichenen Transferleistungen ist das eine existentielle Katastrophe. Die tatsächliche Lebenshaltung von Arbeitslosen, Rentnern, alleinerziehenden Müttern, Kranken und Behinderten droht durch diese Maßnahme unter das bisherige Existenzminimum zu sinken. Der Wintermantel, das neue Paar Schuhe, der Gaststättenbesuch werden unerschwinglich. Und dabei wird es nicht bleiben. Nachdem das fiskalische Instrument einer Erhöhung der Verbrauchssteuern einmal gegriffen hat, gibt es kein Halten mehr. Soll der ermäßigte Satz von 7 Prozent Mehrwertsteuer für Lebensmittel vorerst weiter gehen, so ist auch in dieser Hinsicht ein weiteres Anziehen der Schraube absehbar. Wer im Zuge von Hartz IV in eine Billigwohnung umziehen und sich mit ein paar hundert Euro abspeisen lassen musste, dem wird schließlich auch noch buchstäblich die Butter vom Brot genommen. Rotschwarz ist offenbar gewillt, das stumme Massenelend einer breiten Unterschicht nach dem Vorbild Großbritanniens und der „Reformstaaten“ Osteuropas in Kauf zu nehmen.

Im Wahlkampf hatte man noch versprochen, die erhöhten Verbrauchssteuern sollten zu 100 Prozent in eine Umfinanzierung fließen, um die Lohnzusatzkosten und Einkommenssteuern zu vermindern. Selbst wenn es so wäre, würde dadurch nur die soziale Spaltung zwischen Noch-Beschäftigten und Transferabhängigen vertieft. Aber auch dieses zweifelhafte Versprechen ist schon jetzt gebrochen worden: Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass die Einnahmen aus der erhöhten Mehrwertsteuer zu zwei Dritteln dafür verwendet werden, die klaffenden Haushaltslöcher zu stopfen, statt eine Senkung der Sozialabgaben zu finanzieren. Damit wird jedoch die kapitalistische Reproduktion als Ganzes getroffen und die Spirale der längst vergessenen Stagflation erneut ein Gang gesetzt. Sobald der Handel die erhöhten indirekten Steuern in Form von Preiserhöhungen weitergibt, kehrt das Gespenst der Inflation zurück. Gleichzeitig wird die ohnehin seit Jahren stagnierende Konsumnachfrage weit über die bisherigen sozialen Einschnitte hinaus abgewürgt.

Nach Schätzungen der Osnabrücker Gesellschaft für wirtschaftliche Strukturforschung ist ein Rückgang des privaten Konsums um 30 Milliarden Euro zu erwarten. Das Resultat wären mindestens eine halbe Million zusätzliche Arbeitslose in Handel und Industrie. Kein Wunder, dass sich schon im Vorfeld der Bundestagswahl führende Vertreter des Groß- und Einzelhandels vehement gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgesprochen hatten. Jetzt gehören auch sie zu den Verlierern. Rotschwarz gibt faktisch den Binnenmarkt auf; er wird jetzt genauso abgewickelt wie die Sozialleistungen. Die kopflos gewordene politische Klasse exekutiert nur noch die schreienden systemischen Selbstwidersprüche des Kapitalismus.