Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 25.11.2005

Robert Kurz

DIE WEIBLICHKEIT DER ÖFFENTLICHEN ARMUT

Dass Kapitalismus auf allen Ebenen ein Widerspruch in sich ist, zeigt sich auch am Gegensatz von bürgerlicher Privatheit und bürgerlicher Öffentlichkeit; nicht nur in der Ideologie, sondern auch in der materiellen Reproduktion. Einerseits erfordert die zunehmende Vergesellschaftung und Verwissenschaftlichung ein wachsendes Aggregat von öffentlichen Diensten, andererseits erscheint dies als Abzug vom eigentlichen Zweck der privaten Mehrwertschöpfung. Die öffentlichen Infrastrukturen stellen keinen selbständigen Teil der gesellschaftlichen Reproduktion dar, sondern müssen aus der Realakkumulation alimentiert werden. In der dritten industriellen Revolution ist auch dieser Aspekt des „Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ (Marx) reif geworden. Die relative öffentliche Armut im Verhältnis zum privaten Reichtum droht zu einer absoluten zu werden. In demselben Maße, wie die Realakkumulation und die Realinvestitionen versiegen, flüchtet sich das Kapital in den zirkulativen Finanzüberbau und wird nihilistisch gegenüber den öffentlichen Diensten, obwohl diese zu seinen eigenen Existenzbedingungen gehören.

Die Krisenverwaltung löst diesen Widerspruch nicht, sondern exekutiert ihn nur. Sukzessive werden die Infrastrukturen mangels „Finanzierbarkeit“ geschleift; besonders in den Bereichen von Bildung, Kultur, Gesundheitswesen und Pflege, deren Daseinsrecht nur als Luxus-Abfallprodukt einer (jetzt nicht mehr ausreichend) gelingenden Verwertung anerkannt wird. Ein Moment dieses systematischen Abbruch-Unternehmens ist die Dequalifizierung der öffentlichen Dienste. Die Kommunen ersetzen immer mehr reguläre Stellen durch billige Ein-Euro-Jobs, die von der Sozialverwaltung durch Zwangsverpflichtungen rekrutiert werden. Im Schnellverfahren angelernte oder gänzlich unqualifizierte Hartz-IV-Opfer treten an die Stelle ausgebildeter Kräfte. Was in der Kinderbetreuung, Behindertenarbeit, Alten- und Krankenpflege begonnen hat, setzt sich im gesamten Bildungsbereich fort. Es ist absehbar, dass der Lehrermangel in Zukunft ähnlich verwaltet wird: Qualifizierte Lehrkräfte bleiben „Eliteschulen“ vorbehalten, während im deklassierten öffentlichen Schulwesen zunehmend billig anqualifizierte „Barfuß-Lehrer“ eingesetzt werden.

Diese Dequalifizierung betrifft wesentlich das bürgerliche Geschlechterverhältnis. In den letzten Jahrzehnten hatten in den westlichen Ländern die Frauen in den Bildungsabschlüssen mit den Männern gleichgezogen, ja sogar eine höhere Quote erreicht. Aber die weibliche Berufstätigkeit konzentrierte sich überproportional gerade auf jene öffentlichen Bereiche, die jetzt heruntergefahren werden. Deshalb sind es in der Mehrzahl Frauen, die eine Entwertung ihrer Qualifikationen in Bildung, Betreuung und Pflege erleben. An ihre Stelle treten wiederum überproportional viele Frauen als Billigkräfte. Denn es sind gerade alleinerziehende Mütter, die im Zuge von Hartz IV besonders hart herangenommen und für „unfinanzierbare“ öffentliche Tätigkeiten zwangsrekrutiert werden. Ihre Kinder sollen sie tagsüber in Einrichtungen abgeben, in denen hauptsächlich noch billigere osteuropäische Migrantinnen tätig sind. Es ist ganz offensichtlich: Die Krise der öffentlichen Dienste wird in jeder Hinsicht auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. Die private Armut ist vorwiegend weiblich, so hieß es in den Zeiten des beginnenden Sozialabbaus, als die desolate soziale Lage von alleinerziehenden Müttern und Rentnerinnen ruchbar wurde. Jetzt wird noch eins draufgesattelt: Auch die öffentliche Armut ist vorwiegend weiblich. Die Rede vom Ende des Patriarchats in der postmodernen Individualisierung erweist sich als schlichte Lüge.