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Jörg Ulrich

Die Gespenster der Krise manifestieren sich

Es ist wie in einer riesigen Geisterbahn. Kein Licht am Ende des Tunnels, und die Gespenster der globalen Krise tanzen ihren Totentanz. Die einst von Marx als „objektives Skelett“ der kapitalistischen Produktion bezeichnete Maschinerie ist zur Weltmaschine geworden, die mit ihren um den Selbstzweck der Geldvermehrung rotierenden Knochen rasselt und alle diejenigen ausspuckt, die für diesen einzigen und alleinigen Zweck nicht mehr zu gebrauchen sind – ins soziale Nichts bestenfalls, in die physische Vernichtung schlimmstenfalls. Arbeitslosigkeit und soziale Prekarisierung in den Metropolen, massenhaftes Sterben in den vom Weltmarkt abgekoppelten Regionen der Erde.

Das einzige Gespenst, das nicht mehr umgeht, ist das „Gespenst des Kommunismus“, wie es von Marx und Engels am Anfang ihres berühmt gewordenen „Manifest der Kommunistischen Partei“ einst beschworen wurde.

Stattdessen nimmt die Manifestschreiberei derzeit selber gespenstische Züge an. Selbst abgesehen von dem „Manifest“ der unsäglichen Kampagne „Du bist Deutschland“ fördert bereits die nur oberflächliche Recherche im Internet einige Dutzend Manifeste verschiedener Art und Herkunft ans Licht, zuletzt das mit großem Aufwand publizistisch verbreitete „Potsdamer Manifest“ von Hans-Peter Dürr, Rudolf zur Lippe und Daniel Dahm, das „Manifest des evolutionären Humanismus“ von Michael Schmidt-Salomon sowie das „Manifest der Geisteswissenschaften“, mit dem einige Philosophieprofessoren um die Anerkennung ihres zur immer bedeutungsloser werdenden Einzeldisziplin herabsinkenden Metiers kämpfen. Die geistigen Krisenreaktionskräfte des warenproduzierenden Patriarchats marschieren: dumpf und esoterisch wabernd die „Potsdamer“, triumphal und aufklärerisch-rationalistisch auftrumpfend Schmidt-Salomon, wissenschaftlich seriös die Hüter des philosophischen Geistes. Wo so viel sich manifestiert, dürfen die Schriftsteller natürlich nicht fehlen und legen nach mit einem „Manifest des relevanten Realismus“, in dem wieder einmal mehr „gesellschaftliches Engagement“ der Literaten gefordert wird.

Damit sind längst nicht alle Manifeste genannt, sondern nur die mit der größten Publizität. Gemeinsam ist indes allen der große Gestus des Rettens. Irgendetwas muss immer gerettet werden, daran scheint auf allen Seiten kein Zweifel zu bestehen. Nur die Wege zur Rettung unterscheiden sich scheinbar: reflexionsloses Niedersinken in die Arme einer allgütigen, allverbindenden „Mutter Natur“ hier, rationalistisch aufgeblähtes Beschwören der „westlichen Werte“ und der „Freiheit der Christenmenschen“ gegen die nicht durch die „Dompteurschule der Aufklärung“ (Schmidt-Salomon) gegangenen Fremden dort. Oder: Rettung der Orientierungsfunktion der Geisteswissenschaft hier und Beschwörung der gesellschaftlichen Verantwortung der SchriftstellerInnen dort.

Alle genannten Manifeste sind so gesehen gekennzeichnet von jener „protestantischen Apologetik“, die Adorno einmal Kant vorgeworfen hat, dem großen Vorbild immer dann, wenn es um die Positivierung der heillosen Verwirrung, Verkehrung und Verdrehung des bürgerlichen Bewusstseins geht. Da steigert sich „die Begierde des Rettens“ (Adorno) ins schier Unermessliche. Und alle, die etwas auf sich halten, müssen natürlich dabei sein, ob Physiker, Sozialwissenschaftler, ob Philosophen oder Schriftsteller. Im Kern geht es durchweg um das hilflos zappelnde Festklammern an der bürgerlichen Form des Bewusstseins und seines Subjekts.

Gewiss, die Wirklichkeit der Krise und die Gefahren werden wahrgenommen, aber eben verkehrt interpretiert, als Folge eines „falschen Denkens“ oder als Missachtung an sich unkritisierbarer und ewig gültiger „Werte“. Ob ein naturseliges „Alles fließt“ propagiert wird, oder die „Werte“ der Aufklärung wie die Mauern einer „festen Burg“ vor der Krise aufgebaut werden – jedes Mal steht am Ende die ontologische Zementierung des blind vorausgesetzten Formzusammenhangs. Es ist, wie es ist: die Menschen machen nur innerhalb eines als quasi absolut und unüberwindbar betrachteten Ganzen Fehler, die durch „Umdenken“, „Besinnung“ oder „Rückbesinnung“ angeblich wieder ausgebügelt werden können.

Genauso wie schon der Aufruf am Ende des „Manifest der Kommunistischen Partei“ an die Proletarier, sich zu vereinigen, um „eine Welt zu gewinnen“, vom aufklärerischen Pathos des männlichen, westlichen und weißen Subjekts getragen war (Die Welt gewinnen = Die Welt beherrschen) und an den „freien Willen“ des „freien Mannes“ appellierte, hier in seiner Gestalt als Proletarier, so reflektieren die gerade aktuell herumgereichten Manifeste kein Stückchen weit den Formzusammenhang der Wertabspaltungsgesellschaft. Und genau aus diesem Grund haben sie Konjunktur: Der quasi heroische Rettergestus wird allgemein, wenn die Gefahr wächst. Aber sie wächst aus derselben Wurzel wie die Ideen, mit denen die Manifestschreiber nun zu ihrer Überwindung antreten. Die Einheit von Produktivität und Destruktivität kapitalistischer Vergesellschaftung wird nicht gesehen. Es geht immer nur um „Fehlentwicklungen“, „Auswüchse“ oder „falsches“ Verständnis an sich „richtiger“ Grundlagen auf der Oberfläche, also gewissermaßen, um im Bild zu bleiben, in den Ästen und Zweigen des Baums. Was durchgehend fehlt, ist eben die radikale Kritik, die an die Wurzel selber geht, aus der das alles sprießt. Die angesichts des Mangels an solcher Kritik allenthalben zu beobachtende Ratlosigkeit im Hinblick auf die sich immer weiter zuspitzende Krise weckt das Bedürfnis nach Rezepten und nach „klugen Menschen“, die diese Rezepte ausstellen und uns allen sagen, was zu tun sei. Diese aus der Gefangenschaft in der Form bürgerlicher Subjektivität resultierende Ratlosigkeit verlangt also wieder nach einem Subjekt der Krisenüberwindung und ruft sie damit geradezu herbei, die Ideologen und Menschheitsbeglücker mit ihren Rezepten von gestern und vorgestern.

Insofern handelt es sich bei der aktuell zu beobachtenden Manifestflut keineswegs um eine Zufalls- oder bloße „Modeerscheinung“, sondern um den manifesten Ausdruck einer nicht mehr zu steuernden Krisendynamik mit dem direkten Aufruf an jedes einzelne Subjekt, sich gewissermaßen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen: „Du bist Deutschland“ – „Du bist die ganze Welt“...

Auch der oberlehrerhafte bis autoritär auftrumpfende Gestus, mit dem die Manifeste oftmals daherkommen, verrät, dass hier das moderne Subjekt als MWW einen verzweifelten Abwehrkampf führt gegen seinen eigenen Niedergang und sein eigenes Elend als einsam, orientierungslos und wahrhaft armselig vor seinem in der Krise über ihm zerbrechenden Spiegelbild steht.

Tatsächlich wollen die Manifestschreiber gar nicht „die Welt“ retten, sondern nur diejenige, welche sie sich allein als einzige und „beste aller möglichen“ vorstellen können, damit aber letztlich sich selbst als die Form Subjekt, die ihnen als unhintergehbar erscheint und innerhalb der ihnen das den Menschen natürlicherweise zukommende Leben überhaupt nur möglich – und wenn alles in Scherben fällt... Ordnung muss schließlich sein!

Die ideologische Verbissenheit und subkutane Bösartigkeit manch eines Manifestlers werfen ein Licht auf die Bösartigkeit der Krise.

Mit weiteren Manifesten muss gerechnet werden...