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Das Bürgerrecht auf Folter

In ihrem in EXIT! Heft 2 im März 2005 erschienen Artikel hat Petra Haarmann deutlich gemacht, dass diese Diskussion so neu nicht ist, sondern zur Konstitutionsgeschichte der Moderne gehört: "Die heute auch im westlichen Basislager der Vernunft (wieder?) alltägliche Folter erweist sich keineswegs als ein Rückfall in frühmoderne strafrechtliche Erkenntnisverfahren, sondern steht in der Kontinuität einer Rationalität, die von magischer Angst getrieben das ihr einzig gesicherte Herrschaftsmittel schwingt: das Schwert." (EXIT! 2, Editorial)

Aus aktuellem Anlass dokumentieren wir an dieser Stelle zwei Auszüge aus dem Text.

EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Heft 2, 53 – 82
Zwei Auszüge aus

Petra Haarmann

DAS BÜRGERRECHT AUF FOLTER

Zur Geschichte des Verhältnisses von Marter, Wahrheit und Vernunft

In den Zentren westlich kapitalistischer Vergesellschaftung, vor allem in Westeuropa, galt die Tortur von Personen im staatlichen Gewahrsam bis vor nicht allzu langer Zeit als längst überwundenes Übel vordemokratischer Zustände, dem durch die Errungenschaften des Rechtsstaats endgültig und nachhaltig Einhalt geboten worden war. Die Nichtanwendung von Folter war geradezu ein Gradmesser dafür, ob und inwieweit ein Staat der Zweiten oder Dritten Welt auf seinem "Entwicklungsweg" bereits vorangeschritten und damit als Qualifikant für den erlauchten Kreis derer zu betrachten war, die als wahre demokratische Nationen das "Reich des Guten" von Recht, Freiheit und Vernunft bereits geschaffen zu haben behaupteten. Die Grenzen dieses neuen Paradieses wurden zwar zum "Schutz der Freiheit" scharf bewacht, jedem "im Außen" gelegenen Staatswesen aber prinzipiell in Aussicht gestellt, zum ideellen Paradies Zutritt zu erhalten, wenn, ja wenn, es sich zu einem bestimmten Normenkatalog bekenne, der gemeinhin als der "westlichen Wertegemeinschaft" zugehörig bekannt ist. Der Weg zur modernen Verheißung ist also mit unverzichtbaren Normen gepflastert, deren Beachtung über das Wohl und Wehe des Aspiranten entscheidet; ein Resultat, das sich aus demokratischen Grundsätzen nicht unmittelbar erschließt, denn aus der postulierten grundsätzlichen Verhandelbarkeit von allem und jedem ließe sich ebenso folgern, dass der "demokratischen Prozess" prinzipiell ergebnisoffen abläuft.

Riefen die Nachrichten und Bilder aus Guantanamo Bay und später aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib denn auch öffentlich zunächst fast einhellig Abscheu und Ablehnung vermischt mit einem gewissen Erschrecken hervor, zumal es sich bei den "verantwortlichen Tätern" um Soldaten des Gralshüters westlicher Werte, der USA, handelte, so wurden nach dem Verstreichen einer Scham- und Schreckperiode doch auch schnell Stimmen laut, die das Folterverbot als unantastbare Norm gerade unter Berufung auf den Rechtsstaat abgeschafft sehen wollten:

Ganz unbemerkt von der größeren Öffentlichkeit war das Problem der unantastbaren Verbotsnormen jedoch schon länger Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion gewesen. Und niemand anderem als dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann war es vorbehalten gewesen, sie in Gang zu setzen. Seinen Vortrag (1992) mit dem Titel "Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?" beginnt er nach Juristenmanier mit einem fiktiven Musterfall:

Mit dem zuvor dargestellten Musterfall hebt Luhmann auf das wechselseitige Einwirken der seiner Auffassung nach funktional von einander getrennten Systeme Recht und Moral ab und demonstriert eine der durch die Selbsterzeugung bewirkten möglichen Anpassungen des sozialen Systems am Schluss seiner Ausführungen:

Das Luhmannsche Unterfangen, durch Vorgabe eines zynisch inszenierten Falles die Unmöglichkeit der Verrechtlichung aller Lebensvorgänge darzulegen, um damit seinen Kommunikationsbegriff der interagierenden Funktionssysteme zu untermauern, rief sogleich die kantianisch geprägte Rechtswissenschaft auf den Plan, die als subjektideologische Gegenposition den Fall sehr "ernst nahm" und ihn "innerrechtlich" zu lösen versuchte. Damit ist nicht die Abprüfung nach positivem Recht (Polizeigesetze, Grundgesetz, Menschenrechtskonventionen) gemeint, die zügig zum Ergebnis des absoluten Folterverbots führen würde, sondern jene juristische Fachdiskussion, die diese Konsequenz aus juristischen Gründen gerade vermeiden will, ohne ihr eigenes a priori der (praktischen) Vernunft in Frage stellen zu müssen.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der von Luhmann vorgelegte Musterfall, der die Rechtswissenschaft bis in die Fragestellungen bei Hausarbeiten- und Klausuren bereits zu Anfang der 1990-er Jahre so sehr in Unruhe versetzte, nicht etwa die Umstände eines strafrechtlichen Erkenntnisverfahrens zur Erzwingung eines Geständnisses zwecks nachheriger, sogenannter angemessener, Bestrafung problematisiert, sondern in der allgemeinen Gefahrenabwehr, also im Polizei- und Ordnungsrecht, situiert ist. Es geht um die Frage der Aufrechterhaltung und damit Verteidigung der öffentlichen Ordnung (d.h. nicht der normierten Rechtsordnung), gegen einen als dämonisch und widernatürlich wahrgenommenen Feind, dessen Beweggründe nichts zur Sache tun und dem bei evidenter Gefahrenlage im Wege der praktischen Vernunft (jus necessitatis) schlicht Einhalt zu gebieten sei. Unter fortwährendem Kopfschütteln darüber, dass die positive Gesetzeslage zur Zeit hier missverständlich ist bzw. kontrafaktische Ergebnisse produziert, berufen sich die Befürworter einer Anwendung der Folter auf eine sogenannte Wertungslücke, die es dem Polizeirecht als Träger des unmittelbaren Zwanges gewissermaßen unmöglich mache, seine Kernaufgabe der Gefahrenabwehr wahrzunehmen. Die Maximen des Polizeirechts, und hierüber besteht in der Rechtswissenschaft Einhelligkeit, sind zum einen, dass es effektiv zu sein habe, will heißen den Störer endgültig an der Störung hindert, zum anderen, dass das Polizeirecht als Präventionsrecht gegen drohende Rechtsverstöße den Störer in die "Grenzen des Rechts" zurückdrängen können muss (vgl. für viele andere Hans Lisken/Erhard Denniger mit weiteren Verweisen).

Solange der Störer schlicht zu beseitigen ist, besteht hier kein Problem, denn in das Recht auf Leben darf nach einhelliger Dogmatik, beispielsweise durch finalen Todesschuss, eingegriffen werden, weil der Störer hier etwas lediglich passiv hinzunehmen habe. Die Wertungslücke ergibt sich vielmehr daraus, dass durch die Anwendung der Folter zwecks Aussagenerpressung dem Störer etwas Positives abverlangt wird, was den innersten Kern seiner sogenannten Würde angreift, nämlich die Brechung seines Willens. Und dies ist kein Minus gegenüber der Hinnahme des eigenen Todes, sondern ein schärferer Zwang, nämlich die Aberkennung und Vernichtung seines Status als vernünftiger Mensch, der in Freiheit seinen Willen bekunden und ausüben darf. Es kommt zu einem Wertungswiderspruch zwischen "absolut" zu respektierender Würde des Störers und "absolut" zu schützender Würde der "Gestörten", die eben bei Ausführung der Tat nicht nur am Leben gehindert würden, sondern vor allem an der Ausübung des ihnen zustehenden Willens in Freiheit, den die akademische Bewegung zur Legalisierung der Folter dahingehend "entscheidet"- der Anklang an den Dezisionismus kommt nicht von ungefähr- , dass die Rechtsordnung den Vorrang habe und der Störer in die Schranken des Rechts vermittels Folter zurück zu zwingen sei. Damit ist die Pflicht zur Folter durch Polizeiorgane bereits gewonnen, und es bleibt nur noch ein kleiner Schritt zu tun, um über die sogenannte Schutznormtheorie nun ganz befreit und methodisch blütenrein zum Anspruch eines jeden Bürgers auf die ordnungsrechtliche Vornahme solcher Folterungen, sei es durch die Polizei, sei es durch die bewaffneten Streitkräfte, zu gelangen. (Brugger 2001, 4-9)

Der ganze Argumentationsgang wird dabei mit viel beifallsheischendem rührseligem Pomp um Schuldige und Unschuldige unterlegt, wobei, wer die aufgenötigten Tränen der Betroffenheit sich aus den Augen zu wischen vermag, leicht feststellt, dass hier Schuldige und Unschuldige nach streng juristischem Verständnis bestimmt sind, also danach, ob sie dem positiv, und damit von Juristen nicht näher zu erläuterndem, Sollen Genüge tun oder nicht. Im Ergebnis wird die Welt in Gut und Böse, in vernünftige Gerechte und dämonische Ungerechte, aufgeteilt. Letzere sind nicht nur wie eh und je zum Abschuss freigegeben, sondern können nötigenfalls darüber hinaus vom "vernünftigen Subjekt" (Rechtssubjekt) zum Erkenntnisobjekt degradiert werden, zum Material für die Folterbank im Sinne eines Francis Bacon, auf dass man ihnen dort "ihre Geheimnisse entreiße". Derweil sitzen die unschuldigen, weil vernünftigen, will heißen den rechten Gebrauch der ihnen von der Rechtsordnung gewährten Freiheit machenden "Gestörten" pflichtgemäß zur Überwachung vor dem Fernsehgerät und zelebrieren ihre Betroffenheit über so viel "Böses". Schützt dieser Fetisch der Distanzlosigkeit - hier stehe ich, ich kann nicht anders (Martin Luther) - sie doch vor der Erkennntnis, dass die Rollen bei dieser Aufführung lediglich nach formalen Gesichtspunkten verteilt sind und nur ihr eigenes zufälliges Ich als letztes Bollwerk gegenüber der ihm fremden und unverständlichen Welt dem Geschehen einen ebenfalls zufälligen Sinn verleiht. Wohl bleibt allerdings das Gefühl einer diffusen Beklommenheit, denn die Voraussetzung dieser ihrer existentiellen Teilnahme und Teilhabe, ihr eigenes Leben, kann leider nicht garantiert werden.

Solche Betroffenheit ist genau das Gegenteil eines Mitleidens mit anderen oder gar eines Leidens an der Welt. Gefragt wird nicht, was die Voraussetzungen des eigenen Standpunkts ausmacht. Vielmehr wird dieser verabsolutiert und sodann eine dem Inhalt nach beliebige Entscheidung getroffen, die irgendwo in der Bandbreite zwischen Zufügung höchster körperlicher und seelischer Qual oder gutmenschlichem bloßen Zureden angesiedelt ist. Die Folter reduziert sich auf das Phänomen der Marter, über deren Statthaftigkeit man je nach Geschmack geteilter Meinung sein kann, und die Frage nach ihrem Sinn, ihrer Funktion, der hiermit zu produzierenden Wahrheit sowie der Anordnung von Vernunft und unvernünftigem Bösen kann aufatmend darüber entsorgt werden, dass es so etwas ja schon immer gegeben hat. Märtyrertod und Feuerprobe, Ketzerverbrennung und die peinliche Befragung der Hexen, die Bedrohung des von-Metzler-Entführers in deutschem Polizeigewahrsam und der Horror von Abu Ghraib fallen in eins und versichern dem dabei wohlig erschauernden Erkenntnissubjekt moderner Prägung geradezu, dass es doch immerhin auf der "besseren" Seite stehe.

Auf diesem bereiteten Boden tritt schließlich Kant, der spiritus rector der deutschen Rechtswissenschaft, als oberster Dunkelmann auf. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen mag sich nun erschließen, warum er großes Aufhebens um die Unmöglichkeit jeden Gottesbeweises macht. Geht es doch schließlich darum, eine Vernunft, die sinnlich in dem Sinne ist, dass sie das im Marxschen Sinne "Übersinnliche" bisheriger menschlicher Sozialität überwindet, ins unerkennbare Jenseits zu verweisen. Ist dieser Brückenkopf gewonnen, stellt er fest, dass die Ansammlung der vielen Individuen, die je nach ihrer FaÇon selig zu werden ein gottgegebenes "Recht" haben, dadurch keineswegs ein Ganzes bilden. Doch dreht man die Perspektive um und betrachtet das Szenario vom Friedensstifter, dem Staat, aus, so ist die Lösung des Dilemmas letztlich einfach. Von dieser Warte betrachtet ist nämlich nur zu konstatieren, dass es eine verbindliche Wahrheit nicht mehr gibt und nach den positiven Voraussetzungen der Aufklärung auch nicht mehr geben kann. Die Individuen sind "frei" und schaffen sich Wahrheit, jeder ganz für sich allein, nur an jenem inneren Ort, den Luther den durch das Gewissen abgesicherten Glauben nannte - heute sattsam bekannt als Ideologie. Der Schnittpunkt zwischen Staat und Individuum, der gleichzeitig ihre Differenz ausmacht, ist von oben betrachtet leer. Zur Verhinderung von willkürlich aufeinander einschlagenden - je souveränen - Menschen, ein Carl Schmitt hat die Logik später - grausam affirmativ - auf die Spitze getrieben, bleibt nur ihre Festschreibung in der leeren Form. Die freiheitsverträgliche Freiheit Kants entpuppt sich damit als abstrakt-universelle und leere, staatlich garantierte Gefängniszelle, die der eiserne Käfig und das von jedem beliebig dekorierbare, ganz individuelle Paradies des räsonierenden, aber gehorsamen und keinesfalls über sich selbst hinaus denkenden oder hinausgreifenden Menschen ist. Ein Gefängnis, in dem die Insassen sich als Richter, Ankläger, Verteidiger und Vollzugsbeamter gleich selbst überwachen, denn hier wird ein jeder gebraucht: zur Aufrechterhaltung einer sinnentleerten Ordnung ohne eigenen Zweck, die immer wieder mit neuen Inhalten des nämlichen aufgefüllt werden muß, weil ihr Leerlaufen, ihr Zusammenbruch, das Chaos einander zerfleischender MWWs heraufbeschwören würde.

Das und nicht mehr ist das durchaus morsche Holz der Planke, auf dem, um Kants Metapher zu verwenden, die Subjekte der aufgeklärten Vernunft auf dem großen stürmischen Meer der Unordnung dahin schlingern. Stoßen sie einander herunter, weil die Form der Planke sie nicht in Gänze fasst, so sind sie ent-schuldigt (vom Sollen entbunden); Rassismus und Misogynie sind zwar nicht rechtens, aber zur Zähmung der ersten Natur leider unvermeidlich - Schwamm drüber. In meinem Ausgangsfall, übersetzt auf den Plankenfall, befinden sich die zwei Personen schon auf der rettenden Planke des Rechtsstaats und jetzt kommt ein anderer, der Rechtsbrecher, angeschwommen und will sie herunterstoßen. ...[dann muß] eben ein Rechtfertigungsgrund [für die Personen auf der Planke] vorhanden sein (Brugger 2001, 10). Denn der "andere" ist ein "Anderer", weil er außerhalb der Form ist und das beseitigt alle infrage kommenden positiven Tatbestände der Verletzung von Leib, Leben oder sogenannter Würde und macht ihn zum zu vernichtenden Objekt, dem von der Planke aus gesehen keine (formale!) Menschlichkeit mehr zukommt. Wenn Brugger mit der Feststellung schließt, dass egal wie Sie Kant lesen, ob mit dem Freiheitspinzip oder dem Notrecht, er würde ... die Folter zulassen (a.a.O., ebenda), so kann das nicht mehr verwundern. Und auch in diesem Fall, wie schon zu Beginn der Moderne bei den Hexenprozessen, geht es nicht um die Entlockung eines Geheimnisses oder gar einer Wahrheit, die es nicht geben kann, weil man sie nicht wissen darf, damit sich das Heil dann schließlich dennoch irgendwie (ganz hintenherum und unbemerkt) einstellt, sondern um die Erzeugung, die Produktion, um das unter den Begriff bringen einer einst durch verdunkelnde Säkularisierung gewonnenen positiven Vorannahme: Das Leben des auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts - und nichts anderes - ist die beste aller im nominalistischen Sinne denkbaren Welten. Die Schutznormtheorie samt ihrer ausnahmsweise gewährten subjektiv-öffentlichrechtlichen Ansprüche des Bürgers auf Ingangsetzung der Staatsorgane, jener so sorgsam gehütete Edelstein des öffentlichen Rechts, entlarvt sich als Recht der staatlich organisierten Monaden darauf, dass sich an ihrer Verfasstheit nicht ändert. Die von der juristischen Lehre gezogene Konsequenz des Bürgerrechts auf Folter kann methodisch ganz sauber und schlüssig über ihr bisher niedergelegtes Ergebnis hinausgetrieben werden, das längst offenbar ist: Das Bürgerrecht auf Folter der eigenen Person, das Recht nämlich, durch jedwedes adäquate Mittel in die Schranken der eigenen Formkonstitution, nämlich der des Rechtssubjekts, zurückgetrieben zu werden.