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aus: Folha Dezember 2002

Robert Kurz

ARGENTINIEN ALS VERLIERERMODELL
Wie viele Krisen kann sich das globale Finanzsystem noch leisten?

Manchmal könnte man meinen, daß die Geschichte sich nur noch im Kreis dreht. Argentinien zum Beispiel samt seinem scheinbar unverwüstlichen Peronismus taucht periodisch in den Schlagzeilen der Weltpresse auf: mal im düsteren Licht von Diktatur und politischer Kriminalität, mal als Soap-Opera des Präsidenten-Ehepaars unter der Rubrik "Rosenkrieg"; mal als ökonomischer Hoffnungsträger, dann wieder als Krisengespenst. Diesmal freilich ist die Lage ernster als je zuvor. Der dramatische Staatsbankrott, der dem Land globale Aufmerksamkeit sichert, markiert möglicherweise eine neue Qualität der Finanzkrisen, wie sie sich schon seit den 80er Jahren in immer dichterer Folge abspielen.

Bisher konnte das jeweilige Desaster stets durch konzertierte Aktionen des IMF, der Regierungen und des transnationalen Bankensystems aufgefangen werden. Die argentinische Krise ist jedoch derart gravierend, daß es als zweifelhaft erscheinen muß, ob auch diesmal der Rettungsanker geworfen werden kann. Gerade deshalb tut man so, als handle es sich um einen großen Ausnahmefall. Plötzlich weiß die Wirtschaftspresse (insbesondere natürlich die westliche), daß Argentinien alles falsch gemacht hat. Es sind dieselben Kommentatoren, die noch vor wenigen Jahren ebenso genau wußten, daß Argentinien alles richtig macht. Jetzt auf einmal entdeckt man lauter subjektive Mängel. Nicht mit einem Systemversagen haben wir es zu tun, so heißt es, sondern mit rein moralischen und kulturellen Defiziten. Und natürlich findet sich auch im Fall Argentiniens ein einheimischer Intellektueller als Kronzeuge, der in Gestalt des gegenwärtig viel zitierten Publizisten Marcos Aguinis eine spezifisch "argentinische Krankheit" diagnostiziert. Genau das will die Welt hören. Schlimm, diese Argentinier! Jetzt gibt es einer ihrer Vordenker selber zu!

Und worin soll die exotische Krankheit bestehen, die sich auf diesen einen Staat beschränkt? Man höre und staune: Argentinien, so hat Aguinis herausgefunden, leide an einer "Kultur der Korruption", niemand halte sich an die Gesetze, das Bildungssystem befinde sich im Niedergang und die Bevölkerung lasse eine Neigung zum Fatalismus erkennen, statt die Probleme tatkräftig anzupacken. Die ökonomischen Weisen dieser Welt nicken dazu bedeutungsschwer mit den Köpfen und ergänzen den Befund: Das kulturell falsch programmierte Argentinien habe sich überhöhter Haushaltsdefizite und überhaupt einer unsoliden Finanzpolitik schuldig gemacht. Jetzt wissen wir also endlich, was an Argentinien anders ist als überall sonst.

Es darf gelacht werden. Jedes Kind weiß, daß diese "argentinische Krankheit" auf der ganzen Welt ungefähr so selten ist wie der Schnupfen, die Ratte und der Dollar. In allen fünf Kontinenten ertönt genau dieselbe mißtönende Klage, wie sie Aguinis für Argentinien formuliert hat. Es handelt sich um die grassierende intellektuelle Mode einer "kulturalistischen" Interpretation aller gesellschaftlichen Erscheinungen. In Deutschland zum Beispiel ist nach vielen Finanzskandalen der letzten Zeit ebenfalls von einem "Zeitgeist der Korruption" die Rede. Da jedermann ganz ohne Skrupel das Finanzamt betrügt und sich nach Möglichkeit unberechtigte Vorteile erschleicht, beklagen konservative Kulturkritiker seit Jahr und Tag die neue deutsche Mentalität, solche Vergehen als "Kavaliersdelikte" zu verharmlosen. Und nachdem die so genannte Pisa-Studie dokumentiert hat, daß deutsche Schüler im internationalen Vergleich eher auf den hinteren Plätzen rangieren, ist das Geschrei über die Krise des Bildungswesens groß. Ist Deutschland also Argentinien? Was vollends die Klage über zu große Defizite des Staates, der Provinzen und der Kommunen angeht: in welchem Land wäre sie nicht ein Evergreen der öffentlichen Debatte?

Die angebliche "argentinische Krankheit" ist in Wahrheit eine Weltkrankheit, und weniger eine Krankheit als vielmehr bloß ein Symptom. Deshalb ist damit auch gar nichts zu erklären. Argentinien ist kein Sonderfall, sondern bloß der aktuellste Fall einer fortschreitenden Weltkrise. Der Kern des Problems besteht seit Anfang der 80er Jahre darin, daß im Prozeß der dritten industriellen Revolution die Realökonomie und die abgehobenen Finanzmärkte nicht mehr zur Deckung gebracht werden können. Bekanntlich sind in dieser Zeit zwei globale Finanzblasen entstanden: Zum einen wurden die Aktienwerte spekulativ aufgebläht, zum andern entstand eine exorbitante Verschuldung von Privaten, Unternehmen und staatlichen Körperschaften durch Kredite und Anleihen. Beide Prozesse bedingen sich gegenseitig: Die einen leihen den anderen das Geld, das sie nicht real (sondern nur spekulativ) haben; und die anderen finanzieren damit Privatkonsum, Staatskonsum und unrentable Unternehmen, während sie die Schulden durch immer neue "Umschuldung" mit Geld zurückzahlen, das sie ebenfalls nicht real haben.

Der Anspruch der Gläubiger an die Schuldner figuriert im System der Buchungen als positives Guthaben: als Geld, mit dem man alles kaufen kann, obwohl es längst anderswo ausgegeben worden ist. Dieser mit der Verzinsung stetig anschwellende papierene Anspruch der Gläubiger hat die naive Vorstellung erzeugt, daß doch heute auf der Welt "genug Geld da" sei. Die Fiktion muß jedoch früher oder später kollabieren. Das Geld, das nur in Form von Ansprüchen der Gläubiger existiert, löst sich bei einer absoluten Zahlungsunfähigkeit der Schuldner in Luft auf - ebenso wie bei einem Rückgang oder Crash der Aktienmärkte jenes Geld spurlos verschwindet, das aus nichts als der spekulativen Aufblähung der Aktienwerte besteht.

Die doppelte globale Aufblähung von unbezahlbaren Schulden einerseits und fiktiven Aktienwerten andererseits muß zwangsläufig an Grenzen stoßen. Je mehr sie an der Last der Verzinsung ersticken und je weniger sie mit dem geliehenen Geld kapitalistisch produktiv wirtschaften können, desto näher rückt den Schuldnern das Schreckgespenst der Zahlungsunfähigkeit. Seit der Asienkrise 1997/98 ist kein Jahr mehr vergangen, ohne daß eines der großen Schuldnerländer der Peripherie endgültig klamm zu werden drohte. Nach den Tigerstaaten, Mexiko, Rußland und der Türkei ist jetzt Argentinien "reif" geworden. In den Zentren des Weltmarkts hat die Schuldenkrise zwar noch nicht die gesamtstaatliche Ebene erreicht, aber hier sind es einige Etagen tiefer vielerorts die kommunalen Finanzen, die schon kollabieren. So steht peinlicherweise die deutsche Hauptstadt Berlin, die von Finanzskandalen geschüttelt wird, vor dem Bankrott. Die Staaten der Peripherie und die Kommunen des Zentrums bilden die schwächsten Kettenglieder des Systems, die zuerst reißen. Insofern sind die "schweren Fälle" Argentinien und Berlin durchaus vergleichbar, auch wenn es sich um verschiedene Ebenen handelt. Die offizielle Öffentlichkeit will nur wie üblich nicht zusammen denken, was zusammen gehört.

Es gibt mehrere Gründe, warum der argentinische Crash als jüngste Schuldenkrise schwieriger aufzufangen ist als die früheren. So hat sich Argentinien in der Ära Menem noch viel rigoroser als andere Länder von der neoliberalen Ideologie leiten lassen, wofür es damals großes Lob gab (übrigens auch für die strenge Bindung des Peso an den Dollar als angebliches "Wundermittel" gegen die Inflation). Das Resultat war jedoch eine derartige Deindustrialisierung des Landes, daß im Export immer weniger Devisen verdient werden konnten, um die Schulden zu bezahlen. Deswegen stieg das Volumen der Schulden auf Rekordhöhe, so daß heute praktisch keine neue Umschuldung mehr möglich ist. Das ist zwar tatsächlich eine Besonderheit Argentiniens, aber nur ein gradueller Unterschied zu anderen vergleichbaren Schuldnerländern.

Die anderen Gründe für die zunehmende Schwierigkeit der Krisenbewältigung haben jedoch gar nichts mit Argentinien zu tun, sondern mit der allgemeinen Entwicklung des globalen Finanzkapitalismus. Inzwischen hat sich nämlich die Quelle der aus dem spekulativen Prozeß scheinbar unendlich sprudelnden Liquidität in den Zentren erschöpft: Seit dem Frühjahr 2000 befinden sich die Aktienmärkte in den USA und Europa auf dem absteigenden Ast. Während die "neuen Märkte" bereits ihren Crash erlebt haben, dümpeln die Standardwerte weit unter ihren historischen Höchstständen vom Ende der 90er Jahre. Das bedeutet, daß sich der Spielraum der "Anleger" bereits erheblich verengt hat. Wenn die spekulative Liquidität schrumpft, muß auch die Möglichkeit geringer werden, neue Schulden zu machen oder die vorhandenen Schulden "umzuschulden". Die Schere der globalen Finanzkrise beginnt sich also zu öffnen: Auf der einen Seite wächst die globale Verschuldung bis an den Rand des Bankrotts oder darüber hinaus (wie im Fall Argentiniens), auf der anderen Seite löst sich das spekulative Geldkapital der westlichen Aktienmärkte sukzessive in Luft auf.

Damit verringert sich die Kompetenz des globalen Finanzsystems zur Eindämmung von Krisen, weil die Diskrepanz zwischen Finanzmärkten und Realwirtschaft noch weiter auseinanderklafft als bisher schon. Als (uneingestandene) Folge von Stagnation und Rückgang der westlichen spekulativen Dynamik ist die US-Konjunktur bereits eingebrochen und damit die Lokomotive der Weltkonjunktur zum Stehen gekommen. Plötzlich wird ein Teufelskreis sichtbar: Die US-Konjunktur springt nur an, wenn sich die Blase der Aktienwerte wieder aufbläht; die Finanzwerte ihrerseits können im erforderlichen Ausmaß nur ansteigen, wenn die reale Konjunktur das Signal dafür gibt. Das heißt nichts anderes, als daß gewaltsam das "normale" Verhältnis von Realwirtschaft und Finanzkapital wieder hergestellt wird, das über mehr als ein Jahrzehnt auf den Kopf gestellt schien. Das Resultat ist die zu beobachtende Kontraktion sowohl der Realkonjunktur als auch der Finanzmärkte.

Aus dieser Situation heraus ist es nur allzu begreiflich, warum so getan werden muß, als handle es sich bei der argentinischen Krise um einen bloßen Einzel- und Ausnahmefall. Bei der Asienkrise gab es ebenso wie bei der Rußlandkrise noch eine Kettenreaktion und eine allgemeine Flucht des Geldkapitals aus den "Emerging Markets", weil die westlichen Finanzmärkte mit ihrer stetigen Aufwärtsbewegung ein "sicherer Hafen" waren. Jetzt aber ist die spekulative Dynamik der kapitalistischen Zentren selbst erloschen. Wohin soll das Geldkapital flüchten? Die Liquidität ist zwar durch Crash und Stagnation der westlichen Aktienmärkte geschrumpft, aber es ist immer noch so viel übrig, daß Anlagefelder benötigt werden. So müssen die Analysten jetzt eine aufgesetzte "Gelassenheit" an den Tag legen, um das Problem Argentinien zu isolieren, während man die Anleger dazu treibt, ihre Finanzmarkt-Investments (sowohl Aktien als auch vor allem Anleihen) in Brasilien, Mexiko, Südostasien usw. sogar noch zu steigern.

So fließt das "heiße", nach Anlage suchende Geldkapital jetzt im Vergleich zur Asienkrise 1997/98 in die umgekehrte Richtung. Aber die realwirtschaftliche Grundlage der "Emerging Markets" hat sich durch die Kontraktion der US-Konjunktur dramatisch verschlechtert. Die Absurdität der Situation zeigt sich exemplarisch in Südkorea: dort sind im vergangenen Jahr die ausländischen Direktinvestitionen um fast 25 Prozent zurückgegangen, während der Zufluß für Aktien und Anleihen in ungefähr demselben Ausmaß gestiegen ist. Die linke Hand des Kapitals weiß nicht, was die rechte tut (oder gibt sich zumindest den Anschein, als wüßte sie es nicht). Diesmal kann freilich die Krise der Realökonomie viel schwerer finanzkapitalistisch kompensiert werden. Wenn die US-Konjunktur nicht rechtzeitig wieder anspringt, werden die Exporte sämtlicher Schuldnerländer in Asien, Lateinamerika und anderswo einbrechen; mit der Folge neuer Finanz-und Währungskrisen. Damit droht ihnen allen früher oder später die Zahlungsunfähigkeit nach dem Muster Argentiniens, das eben letzten Endes doch kein Ausnahmefall ist.

Was wird geschehen? Entweder die unhaltbar gewordenen Schulden müssen irgendwann annulliert (nicht bloß durch ein Moratorium aufgeschoben) werden, wie es der Gesetzgeber Solon im antiken Athen verfügte: Dann sind die Gläubiger enteignet und das wunderbare Geld der Anleihen ist plötzlich ebensowenig mehr "da" wie das durch fiktive Aktienwerte repräsentierte Geld nach dem Absturz der Kurse. Diese Enteignung droht allerdings keineswegs bloß einigen wenigen großen Finanzkapitalisten, sondern auch vielen Millionen von Kleinanlegern, Sparern, Altersrentnern usw. Es sind heute (vor allem im Westen) große Teile der Bevölkerung, die nur noch die Wahl haben, in welcher Form sie unter die Räder kommen: ob als Schuldner oder als Gläubiger, weil sie direkt oder indirekt beides zugleich sind. Im Unterschied zu Solons Athen ginge deshalb nach einer Entschuldung nicht das normale Leben weiter, sondern die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung müßten in Frage gestellt werden. Das ist der hauptsächliche Grund, warum von einer Annullierung der Schulden heute im kapitalistischen Weltsystem so wenig gesprochen werden darf wie vom Strick im Hause des Gehenkten.

Oder, und das ist die andere Möglichkeit, der Anspruch der Gläubiger wird gnadenlos durchgezogen: dann müssen die Kosten aus den Rippen der Bevölkerung in den Schuldnerländern geschnitten werden. Diese Schnitte gehen umso tiefer, je geringer die Möglichkeiten zur Umschuldung durch die internationalen Finanzinstitutionen sind. Schon bei den bisherigen Krisen in Asien, Mexiko, Rußland, der Türkei usw. konnte die Fassade der finanzkapitalistischen Normalität nur um den Preis wieder aufgerichtet werden, daß Millionen von Menschen mit ihrer sozialen Existenz auf der Strecke blieben. Der Fall Argentinien scheint eine neue Qualität dieser bitteren Konsequenzen zu bringen: Im Prinzip müßten große Teile der Bevölkerung für einige Monate das Essen und Trinken einstellen, damit die Ansprüche der Gläubiger befriedigt werden können. Die Lage droht ausweglos zu werden: Entweder kapituliert das Finanzkapital oder eine bisher beispiellose soziale Katastrophe nimmt ihren Lauf. Argentinien ist ein Präzedenzfall für die globale Entwicklung der kommenden Jahre.