Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Carsten Weber

Globale No-Go-Areas

Die immer weiter eskalierenden Krawalle islamistisch fanatisierter Massen im Nahen und Fernen Osten verweisen nicht auf archaische Regression, sondern auf die destruktive Entladung postmoderner Krisenideologie in einem bestimmten kulturellen Raum. Das vielleicht paradigmatischste Bild bieten die brennenden Botschaftsgebäude Dänemarks und Norwegens in der syrischen Hauptstadt Damaskus: während die MitarbeiterInnen die Gebäude geräumt und die dänische sowie die norwegische Regierung alle Staatsangehörigen aufgefordert haben, Syrien umgehend zu verlassen, tobt der rasende Mob seine Wut an Symbolen aus – zum Glück, denn der Gedanke, was geschähe, wenn dänische, norwegische oder französische StaatsbürgerInnen, nach denen Bewaffnete in Nablus bereits die Hotels durchsuchten, der ausflippenden Menge in die Hände fielen, ist nur allzu finster. Daß dennoch bei Demonstrationen in Afghanistan – in diesem Fall einheimische – Todesopfer zu beklagen sind, zeigt besonders drastisch, wie wenig Anlaß besteht, in irgendeiner Hinsicht Entwarnung zu geben.

Bemerkenswert ist dabei der Unterschied zur Reaktion der in der westlichen Hemisphäre lebenden Moslems. Hier ist zwar von Ärger und Unverständnis über die Veröffentlichungen der Mohammed-Karikaturen die Rede, gleichzeitig wird Gewaltanwendung aber verurteilt und allgemein zu Mäßigung und Besonnenheit aufgerufen. Die Demonstration in London, auf der Sympathien mit Osama bin Laden zum Ausdruck gebracht wurden, scheint bis jetzt ein Einzelfall geblieben zu sein, und die Teilnehmerzahl von 800 Personen ist in Anbetracht der Gesamtzahl der in London lebenden Moslems auffallend gering. Dies und die eklatante Untätigkeit der Regierungen sowie der Polizeikräfte in den von den Ausschreitungen betroffenen Ländern verweist auf eine strukturelle Entwicklung bezüglich des sozialen Zusammenlebens, die weitaus umfassendere Gründe aufweist als den unterschiedlichen Grad an religiöser Fanatisierung.

Schon oft ist von verschiedener Seite darauf hingewiesen worden, daß neben der immer dramatischer werdenden ökonomischen Auszehrung des größten Teils der islamischen Welt sowohl die Despotie der autokratischen Regime als auch die zunehmende Verwilderung und Verrohung des öffentlichen Lebens die Bevölkerung auf einen Zustand barbarisierender Verzweiflung zutreibt – bis hin zur (freilich schon seit Jahrzehnten etablierten) Adaption des spezifisch deutschen exterminatorischen Antisemitismus und bis hin zu exzessiven Formen frauenfeindlicher Gewalt, in der sich keine prämoderne Zurückgebliebenheit äußert, sondern im Gegenteil die allgemeine Krise moderner männlicher Identität mit einem bestimmten kulturalistischen Zuschnitt. Dies alles trifft mittlerweile zweifellos überhaupt auf den weitaus größeren Teil der bewohnten Erdoberfläche zu; allerdings mutiert die soziale Zerrüttung und allgemeine Gewalt im globalen Südosten durch den islamischen Fundamentalismus als zusätzlichen Agens zu einem Zustand, der die betroffenen Gebiete in eine Weltregion verwandelt, die von westlichen Personen bald nur noch in gepanzerten Fahrzeugen betreten werden kann – und auch das nicht gefahrlos; mit einem Wort: in eine globale No-Go-Area.

Was bisher nur punktuell auf bestimmte verelendete Vorstädte bzw. Slums in Nord-, Mittel- und Südamerika zutraf, droht mithin zum Paradigma eines ganzen Weltteils zu werden. Daß die Irakmission der USA und ihrer Verbündeten völlig gescheitert ist, verstärkt und beschleunigt nur diesen Vorgang, und der Wahlsieg der antisemitisch-mörderischen Hamas in den Palästinensergebieten ist der originär politische Ausweis. Der Rückzug des diplomatischen Personals Dänemarks und Norwegens aus Syrien dürfte nur der Vorschein für eine allgemeine Entwicklung sein; der islamische globale Südosten kann nicht mehr kontrolliert werden, weder von der letzten Weltmacht USA noch von den jeweiligen nationalen Regierungen, und wird folglich sich selbst überlassen, in letzter Konsequenz also dem Untergang preisgegeben.

Die Folgen für den Westen wären ebenfalls katastrophal. Die Ölzufuhr aus den wichtigsten Fördergebieten könnte dauerhaft nicht mehr gewährleistet werden; die ökonomische Krise und die strukturelle Massenarbeitslosigkeit würden in dramatischem Ausmaß zusätzlich verschärft. Die sozialen Sicherungssysteme gerieten unter immer größeren Druck, was der politischen Hetze gegen Arbeitslose zusätzlichen Auftrieb verschaffen würde. Dadurch würde in den besonders geschwächten Regionen ein soziales Klima entstehen, das sich dem der bisher bekannten No-Go-Areas gefährlich annäherte, und die kapitalistische Reproduzierbarkeit des Lebens würde in immer rasenderem Tempo zu einer minoritären Angelegenheit.

Solche Szenarien waren bisher der Science Fiction und dem Endzeitkino in der Art von „Mad Max“ vorbehalten. Da das Undenkbare nicht gedacht werden darf, begnügen sich konservative und liberale Autoren bisher damit, Demokratie und Marktwirtschaft die Kraft zuzuschreiben, solche Krisen zu einem glücklichen Ende zu führen, während gewissen Vulgärmarxisten zufolge lediglich ein, zwei größere Vernichtungskriege im Trikont benötigt würden, um dem periodisch krisenhaften Kapitalismus wieder auf die Sprünge zu helfen. Doch ebenso wie Geschichte sich nicht wiederholt, folgt sie auch nicht bereits bekannten Mustern. Die gegenwärtige Krise der globalen kapitalistischen Vergesellschaftung ist von gänzlich anderer Art als die aus der bisherigen Historie bekannten Krisen und läßt sich auch nicht mehr wie diese systemimmanent lösen.