Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in der Wochenzeitung „Freitag“
am 10.02.2006 in einer leicht gekürzten Fassung

Robert Kurz

DAS ENDE DER NORMALITÄT

Erst jetzt wird die Tiefendimension einer allgemeinen Reproduktionskrise sichtbar

Auf Godot wartet niemand mehr. Alle wissen es: Vollbeschäftigung ist zur objektiven Unmöglichkeit geworden, unter allen noch denkbaren ökonomischen und politischen Bedingungen des transnationalen Kapitalismus. Und die Rationalisierungspotentiale von Mikroelektronik und Globalisierung sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Im Januar ist die Arbeitslosenzahl der BRD entgegen allen  Prognosen wieder über die gefürchtete Marke von 5 Millionen gesprungen. Es ist unglaubwürdig, diesen Tatbestand mit dem Verweis auf saisonale Sonderfaktoren herunterreden zu wollen. Tatsächlich handelt es sich um eine langfristige strukturelle Entwicklung. Darauf deutet auch das inzwischen zugegebene Scheitern der Hartz-Reformen hin, an den Tag gebracht durch die von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegebene Mammut-Analyse von acht Wirtschaftsinstituten. Zur Erinnerung: Im Sommer 2002 wurde mit den Hartz-Vorschlägen noch die offizielle Erwartung verbunden, die Arbeitslosenzahl von damals 4 Millionen könnte innerhalb von vier Jahren halbiert werden. Das Resultat sehen wir jetzt.

Es geht auch nicht um eine hausgemachte Sonderentwicklung der BRD, wie von den neoliberalen Wirtschaftsideologen immer wieder behauptet wird. In Wahrheit ist die Beschäftigungskrise eine globale, unabhängig von divergenten nationalen Mustern der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Ebenfalls im Januar gab die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in ihrem jährlichen Report bekannt, daß die weltweite Zahl der Arbeitslosen 2005 einen historischen Höchststand erreicht hat. „Wir stehen vor einer riesigen globalen Jobkrise“, so der ILO-Generalsekretär Juan Somavia. Dabei erfasst der Anstieg der Arbeitslosenzahl auf fast 200 Millionen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Beschäftigungslosigkeit. Fast überall wird die Statistik durch Herausrechnen immer neuer sozialer Kategorien manipuliert (in den Niederlanden etwa erscheint eine unglaubwürdig große Zahl von Menschen als „invalide“). In vielen Ländern der Peripherie bezieht sich die Statistik überhaupt nur noch auf eine Minderheit der Bevölkerung.

Die politische Klasse scheint auf das strukturelle Desaster mit einem zunehmenden Realitätsverlust und sozialen Autismus zu reagieren, während gleichzeitig die Krisenverwaltung der Apparate die systemischen Widersprüche bürokratisch exekutiert. Münteferings Vorstoß für eine vorgezogene Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre bereits ab 2029 bzw. 2023 und damit für eine Verkürzung der Anpassungszeit von 24 Jahren auf 18 oder sogar 12 Jahre besagt im Klartext, daß die Hoffnung auf eine grundsätzliche Wende am Arbeitsmarkt langfristig aufgegeben worden ist. Welch absurde Logik dieser Maßnahme angesichts der immensen Produktivkraftentwicklung innewohnt, kommt nicht mehr zu Bewußtsein. Abgesehen davon ist es unwahrscheinlich, daß damit die Rentenkassen saniert werden können. Für die meisten der über 60-Jährigen stehen gar keine Jobs zur Verfügung. Nach Angaben der deutschen Rentenversicherung sind gegenwärtig nur noch 39 Prozent der 55- bis 64-Jährigen beschäftigt. Der reale Effekt kann nur eine drastische Senkung der Rentenbezüge und eine Explosion der Altersarmut sein, die offenbar schon einkalkuliert ist.

Aber auch innerhalb der Beschäftigung selbst hat sich eine dramatische Verschiebung vollzogen. Die Zahl der Geringverdiener in Teilzeit- und Mini-Jobs, Scheinselbständigkeit oder anderen prekären Arbeitsverhältnissen ist noch stärker gestiegen als die der Arbeitslosen. Auch diese massenhafte Unterbeschäftigung ist ein weltweites Phänomen. In der BRD gibt es heute zwischen 6 und 7 Millionen weniger voll versicherte Normal- oder Vollzeitarbeitsverhältnisse als Anfang der 90er Jahre; derzeit werden im Schnitt täglich 1000 sozialversicherungspflichtige Stellen abgebaut. Auf diese Weise potenzieren sich die negativen Auswirkungen der geplanten Rentenreform. Auch den anderen Sozialversicherungsträgern brechen die Einnahmen weg. Erst jetzt wird die Tiefendimension einer allgemeinen Reproduktionskrise sichtbar, die von der systemkonformen Politik dauerhaft nicht mehr zu bewältigen ist. Das in der Nachkriegsgeschichte aufgebaute Gefüge der Normalität in den industrialisierten Ländern, das den Entwicklungshorizont der Peripherie markiert hatte, löst sich mit wachsender Geschwindigkeit auf.

Nicht wenige Stimmen in der Linken behaupten, der Kapitalismus kehre nach der Aufkündigung des sozialen Kompromisses nur zu seiner eigentlichen asozialen Normalität zurück. Aber die Destruktion der in mehr als 100 Jahren entwickelten Systeme der Sozialversicherung zeigt, daß mehr auf dem Spiel steht als die Gratifikationen aus der Zeit der fordistischen Prosperität. Der frühkapitalistische Pauperismus konnte durch die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts absorbiert werden. Die relative Armut auf dem Boden des Industriesystems war innerhalb der Massenbeschäftigung angesiedelt und bot Spielräume für sozialstaatliche Reformen; die Arbeitslosigkeit bildete eine „industrielle Reservearmee“ (Marx) für den jeweils nächsten Zyklus, während die Reproduktion noch bis 1945 durch Elemente von Subsistenzwirtschaft und familiale Gemeinschaften abgefedert war. Die heutige strukturelle Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung dagegen hat keine erkennbare immanente Entwicklungsperspektive mehr. Der Vergesellschaftungsgrad von Individualisierung und Globalisierung ist zur Akkumulationsbedingung des Kapitals selbst geworden. Deshalb gibt es kein Zurück in die Vergangenheit. Die Grenzen der sozialen Reproduktion sind identisch mit den Grenzen des planetarisch vereinheitlichten Systems. Wenn die Paralyse der offiziellen Politik nicht zur Paralyse des sozialen Widerstands werden soll, muß die alte Frage der Systemkritik nach dem Ende des staatsbürokratischen Sozialismus neu gestellt werden.