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Gerold Wallner

Wie es mit den Leuten der Geschichte weitergeht

Der Aufsatz „Die Leute der Geschichte“ aus Exit! 3 hat eine breite Palette von Reaktionen ausgelöst; Reaktionen, die mich einerseits nicht überrascht haben, entsprachen sie doch auch den Überraschungen und Momenten des Erstaunens und der Unsicherheit, die ich selbst beim Verfassen dieses Versuchs erlebt hatte, andrerseits gingen sie aber weit über das hinaus, was ich erwartet habe. Ich habe zunächst nichts anderes vorgehabt, als ganz schlicht das lange durch unseren Diskurs wesende Phantom, das sich Abfolge von Fetischverhältnissen nennt, dingfest zu machen. Ich wollte nichts anderes, als in kurzen Umrissen andeuten, wie wir uns so eine Abfolge denken können.

In Exit! 1 hatte Petra Haarmann in ihren Artikel „Copyright und Copyleft“ einige Passagen über einen anderen Fetisch als den der Moderne einfließen lassen, was mich auf eine verwandte Seele hoffen ließ und mich ermutigte, mit meinen noch fragmentarischen Überlegungen an sie heranzutreten. Robert Kurz hatte mich auf Jörg Ulrich aufmerksam gemacht, als ich ihm anlässlich meines und Heinz Blahas Bruch mit den „Streifzügen“ von meiner Beschäftigung schrieb. Jörg Ulrich also hatte auch schon das Thema Religion und Moderne an unser Publikum herangetragen. Angesichts dieser geöffneten Türen und der im Diskurs immer wieder verstreuten Hinweise auf eine Geschichte der Menschheit als Abfolge von Fetischverhältnissen machte ich mich daran, einen historischen Aufsatz zu verfassen.

In dieser Situation fand ich in Heinz Blaha, also in Heinz, einen aufmerksamen und kritischen Zuhörer, der mir immer wieder auf die Sprünge half. Ich möchte dazu nur sagen, dass es sich hier nicht um die üblichen Dankesbezeugungen handelt, wie sie am Schluss oder am Anfang von Büchern stehen. Vielmehr möchte ich euch erzählen, dass es da einen gibt, der sich der Mühe unterzieht, zu verstehen, was mir selbst noch nicht klar ist, der schneller weiß, worauf es hinausläuft, als ich selbst, der mir über begriffliche Krücken hinweg hilft und über Schwierigkeiten der Darstellung und der mir allzu bequeme Schludereien verwehrt. Wenn in eurer Umgebung auch so einer ist, wisst ihr, was ich meine, und das wollte ich nur einmal gesagt haben.

Also Abfolge von Fetischverhältnissen. Als ich das erste Mal, damals noch im Traum von einem opus magnum und gut durchsetzt mit den Omnipotenzphantasien eines schon gebildeten Studenten, mich mit diesem Thema befasste, war das noch ganz als riesiges Werk konzipiert oder phantasiert, ganz im Sinne der „Annales“ als Geschichte des Erkennens, ganz im Sinne der historischen Paradigmata als geschichtlicher Aufstieg zur heutigen wissenschaftlichen Welterkenntnis. Ich schreibe das hier nicht, um über mich zu reden, sondern um zu zeigen, welches sichere Terrain ich verlassen habe und auf welches Glatteis wir uns begeben, wenn wir den Diskurs weiter führen, wie es Petra und Jörg und andere vorhaben.

Fetischverhältnisse also: Ich habe im Mittelteil meines Aufsatzes dargestellt, mit welchen Brüchen wir es zwischen Moderne und Vormoderne zu tun haben und innerhalb der Vormoderne zwischen Religion und Magie. Es sind dies Brüche, die sich dem Zusammenbruch einer gültigen Welterklärung verdanken, es sind dies Brüche, die alles obsolet werden lassen, was vordem gültig war, es sind dies Brüche, die innerhalb von Generationen eine höchst kontingente Situation schaffen, die zu Ergebnissen führt, die schnell wieder verbindlich werden. Unter dieser Ansicht bekommt der Begriff der Epoche eine neue Bedeutung und wir können nur noch drei Epochen festmachen: die magische, die religiöse und die moderne (die materialistische). Verbunden stellen sich diese drei Formationen oder Epochen dadurch dar, dass sie alle drei auf einer Erklärung der Welt fußen, die, wenn auch inhaltlich grundverschieden und nicht voneinander ableitbar, einander darin ähneln, dass sie jeweils zwar menschliches Produkt sind, Produkt menschlicher gedanklicher schöpferischer Leistung, aber so behandelt werden, dass sie als von der Welt gewonnen (oder von Gott gegeben) erkannt werden, jedenfalls von einer nichtmenschlichen Instanz herrührend. So also trägt jede Erklärung der Welt in sich, dass die erklärte Welt zu einer menschlichen Welt erklärt wird, menschliches Produkt ist, eine Welt wird, die Menschen für sich gemacht und zurechtgelegt haben, andererseits die Welt als das vorgefundene Ältere die Autorität, die mit dieser Erklärung mitgeliefert wird, an sich zieht und mit dieser Autorität die Erklärung an die Menschen zurück gibt und unhintergehbar macht.

In dieser Darstellung, die an der Grenze der Vermutung (und wohl auch Zumutung, für wissenschaftliches Denken Spekulation) sich aufhält, finde ich nun die Grundlagen dafür, dass von Fetischverhältnissen überhaupt erst gesprochen und über vulgärmaterialistische Kritik hinausgegangen werden kann: Die Produkte der Anstrengungen der Leute, die Welt zu ordnen und reflektiert belebbar zu machen, erscheinen als mit eigenem Leben und mit eigener Kraft ausgestattet; was die Leute als soziale Ordnung in einer erklärten Welt einführen, erscheint ihnen als octroi von außen, dem sie sich nicht widersetzen können. Die Parallele zum Fetischkapitel im Kapital ist gezogen, gleichzeitig wird sie erweitert und ausgedehnt, als Denkfigur, die bei Marx noch auf die Ware bezogen war, Und es kann trefflich darüber gestritten werde, ob Marx nicht einfach – wie er übrigens schreibt – zu einer Analogie gegriffen hat, die erst von uns Späteren mit Inhalten aufgeladen wird, die so ursprünglich nicht gemeint waren, nun aber gleich die Grundlage aller Epochen menschlicher Existenz erhellen soll.

Dies habe ich in der Einleitung des Aufsatzes vorgestellt, bevor ich mich mit der kursorischen Beschreibung der drei Epochen befasste. Und gleichzeitig dazu habe ich angekündigt, dass die enge Verzahnung von Fetisch (in der Moderne der Wert) und von Abspaltung (in der Moderne das spezifische Geschlechterverhältnis, die Konstituierung des gesellschaftlichen Subjekts als männliches Geschlecht) ähnliche Parallelen in Religion und Magie zeitigen müsse, dass auch dort die Fetische mit jeweiligen Abspaltungen einhergehen dürften. Und siehe da, mir schien, als könnte ich auch hier fündig werden.

Fetischverhältnisse also. Im letzten Teil meines Aufsatzes musste ich einbekennen, dass nichts gewonnen war. Dass mir der geschichtliche Anspruch mit einer Sicht auf Epochen, die nur durch Brüche, nicht aber durch Übergänge miteinander verbunden waren, perdu gehen würde, war mir schon klar. Frech erklärte ich die Geschichte zum modernen Paradigma gehörig, zum Leitfossil der Moderne quasi. Wir können unseren Diskurs mit den Anekdoten darüber bereichern, was Geschichte und Quellenkritik bei uns bedeutet und was Berichte und Glaubwürdigkeit etwa für Tacitus, Thukydides und Vasari. Schlimmer war die Aporie, dass auch das Werkzeug, mit dem ich an die Untersuchung gegangen war, die Begriffe von Fetisch und Abspaltung, wie sie in unserem Diskurs entwickelt worden waren, für die historische Darstellung taugen mochten, aber für eine Durchdringung der Epochen vor uns versagen mussten, weil sie eben für die Moderne entwickelt wurden. Facit entweder eine historische Darstellung, die aus unserer Epoche selbst nichts Besonderes macht, bloß die Entwicklung des immer schon Dagewesenen, bei Licht betrachtet übrigens ein sonderbares Verständnis von Geschichtlichkeit zeigt ohne wirkliche Vergangenheit oder Zukunft und gleichzeitig die Werkzeuge stumpf macht, mit denen wir unsere eigene Gegenwart sezieren und kritisieren (eine Gefahr, auf die mich Roswitha Scholz von Anfang an hingewiesen hat) oder eine Kritik unserer eigenen Gesellschaft, die mit einschließt, dass das Historische seiner Allgemeingültigkeit entkleidet und als spezifisch moderne Vorgangsweise dechiffriert und kritisiert wird, dass wir über unsere Ahnen nichts sagen können und nichts tun können, außer ihren Berichten zu lauschen, dafür aber den tröstlichen Ausweg beigestellt bekommen, dass schon vor uns Welten zusammengebrochen sind, die auch nichts Richtiges über ihre Vorläufer zu erzählen wussten (und an dieser Stelle flüstert mir mein Dämon in s Ohr: „Oder gerade deswegen?“, aber das steht auf einem anderen Blatt).

Ich habe versucht, meinen Aufsatz zusammenzufassen, nicht als Inhaltsangabe oder Kurzversion, sondern als Zusammenfassung der entstehenden Probleme. Die genaue Lektüre wird dadurch nicht ersetzt, aber die folgende Diskussion des Aufsatzes erleichtert. Und das ist das Nächste, das ich hier noch vorlegen möchte, wieder ungeordnet, in s Blaue der Exit!-Homepage hinein.

Das Verlangen nach einer Darstellung der Geschichte der Menschheit als einer Abfolge von Fetischverhältnissen schien mir zunächst dem recht traditionellen Wunsch geschuldet, sich seiner selbst zu versichern: Wir können über uns (und unseren Diskurs der Gesellschaftskritik) nur gültig sprechen, wenn wir uns auch so verorten, dass wir unsere Fundamente und Grundlagen haben. Worauf beziehen wir uns, oder anders gefragt: Woher kommen wir und das Ganze? So erschien es als durchaus angebracht, wenn wir darnach trachteten, eine Gültigkeit unserer Aussagen auch aus der historischen Ableitung zu beziehen. Wenn wir die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen einer kritischen Betrachtungsweise unterziehen könnten, die unsere Aussage, es handle sich bei den Klassenkämpfen um Konflikte in einem Binnenverhältnis, geschuldet einer allen Klassen gemeinsamen Konstitution als konkurrente Subjekte, dann müsste es möglich sein, dies in historische Situationen zu übertragen. Und wir können da durchaus fündig werden.

Wenn wir nämlich uns auf das Paradigma etwa der Klassenkämpfe (ebensogut wäre es mit jedem anderen beliebigen historischen Paradigma möglich, etwa mit der Evolution) einlassen, dann entdecken wir sehr schnell, dass wir das Vergangene seiner damaligen Substanz berauben: wir lassen es nicht ruinös ruhen, sondern bringen noch sein damaliges Leben zum Absterben, um es dann – als tote Hülle historischer Existenz – auf uns legitimatorisch zu beziehen. So zeigt sich das Historische als Sichtweise der Moderne mit einem schemenhaften Doppelcharakter behaftet: Zum einen macht sich die Moderne auf, erstmals überhaupt einen chronologischen Rücklauf bis zum Anbeginn nachzuzeichnen, also die ganze „Geschichte, wie es war“, zu erzählen, andrerseits dementiert die Moderne ihre historische Errungenschaft im selben Atemzug, wenn sie all dies Geschehene als Vergangenes beschreibt, das nur zu uns selbst führen konnte, unser derzeitiger Zustand sich also nicht dem Wesen nach, bloß entsprechend einer fortgeschrittenen Differenzierung von anderen Zuständen unterscheidet – Geschichte als Topologie (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Topologie_%28Mathematik%29) der Gesellschaft quasi.

Wenn etwa die „Klassenkämpfe“ im alten Rom zwischen Plebejern und Optimaten ihre gemeinsame Grundlage in der Konstituierung der freien Bürger Roms als cives hatten und auf dieser Grundlage, die den Bestand von Rom und seiner Senatsverfassung nie infrage stellte, ausgefochten wurden, so lässt sich doch die frappierende Parallele zur operaistischen Beschreibung ziehen, die die Klassenkämpfe so darstellt, als würde das Proletariat in einem fort die Welt erobern und die Bourgeoisie dadurch dazu angestachelt werden, mit immer neuen Mitteln diese Aktivitäten zu verhindern und nutzlos zu machen. In beiden Perspektiven zeigt sich eine Perspektivlosigkeit, die daran erinnert, dass im Kommunistischen Manifest von einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft oder vom gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen die Rede ist; Perspektivlosigkeit insofern, als neue gesellschaftliche Formationen bis jetzt noch nicht als Ergebnisse von Revolutionen, also Siegen einer kämpfenden Klasse zu erfahren waren – eher sind die gemeinsamen Untergänge zu sehen und die Konstituierung eines Menschenschlags, der ganz anders als die vor ihm denkt und handelt.

Hier, scheint es mir, liegt eine Art Sachbeweis für unsere Kritik vor: Es erklärt sich, warum aus all den Anstrengungen der „kämpfenden Klassen“ nichts recht eigentlich Revolutionäres geworden ist, und wir finden immer nur more of the same. Aber die Sache reicht noch tiefer. Bleiben wir dazu noch ein wenig beim Klassenkampf. Wir beschreiben die Kämpfe und Auseinandersetzungen des europäischen Proletariats im neunzehnten und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts durchaus zutreffend als Teil der Durchsetzungsgeschichte der Moderne, als Teil der Konstitutionsgeschichte des Subjekts. Ich muss hier den Hinweis anbringen, dass diese Beschreibung ihre Entsprechung in der operaistischen Beschreibung der Klassenkämpfe findet, allerdings mit dem Unterschied, dass die operaistische Strömung noch immer an einem transzendierenden Charakter der politischen Aktionen des Proletariats festhält. Dennoch erscheint auch diese Beschreibung seltsam konsequenzlos, was darin gipfelt, dass der Kommunismus als schon existent postuliert wird; hier wird unser Sachbeweis untermauert.

Auch der „Kommunismus“ ist also hier als Teil eines Binnenverhältnisses zu dechiffrieren. Das kennen wir zwar schon von Lenin, aber daraus erklärt sich auch, warum die Klassenkämpfe als geschichtliches Movens in die Vergangenheit verlängert werden müssen. Wenn der Kommunismus nämlich jetzt ohnehin schon erreicht ist und zu seiner Entfaltung bloß noch ein Sieg im Klassenkampf fehlt, dann ist er kein Epochenbruch mehr (womit übrigens die revolutionäre Umgestaltung auch schon desavouiert ist), was es nur logisch macht, im Klassenkampf ein allgemeingültiges Prinzip zu sehen, da die Menschheit durch eine einheitliche Geschichte hindurch entlang dieser Kämpfe sich ohnehin von Entwicklung zu Entwicklung hangelt. Dann ist es auch schon logisch, wenn in der Zeitschrift „Autonomie Neue Folge“ seligen Angedenkens die Behauptung aufgestellt wurde, die Erreichung des Kommunismus wäre auch schon zu Zeiten der Bauernkriege möglich gewesen. Hier verbinden sich Voluntarismus und Objektivismus auf das harmonischste.

Wenn wir nun die Geschichte als Abfolge von Fetischverhältnissen darstellen wollen, dann dürfen wir nicht das nächste Paradigma aufmachen, das uns wieder nur eine Entwicklung vom Primitiven zum Differenzierten durch die Jahrhunderttausende anbietet. Wir müssen „Kommunismus“ als Symbol sehen für ein vollkommen anderes soziales Gefüge, für den Bruch mit unseren gesellschaftlichen Verhältnissen, mit Arbeit, mit Wert, mit Abspaltung, mit Subjektivität. Ich schreibe hier Symbol ganz bewusst, weil wir keine Beschreibung und keine Benennung für diese anderen Zustände kennen. Und wenn Marx sagt, dass die freie Entfaltung des Einzelnen Bedingung für die freie Entfaltung aller sein müsse, dann ist mir das zu ungenau im Hinblick auf das Wort frei.

Wir müssen bei unserer Darstellung darauf achten, dass wir den Bruch, der so ein „Kommunismus“ sein würde, in den Vordergrund rücken. Das bedeutet also, dass wir uns unvermutet vor einer Antinomie finden. Einerseits beziehen wir uns auf eine historische Rechtfertigung für unseren Diskurs, die sich der Mühe unterziehen muss, eine Geschichte von Brüchen darzustellen, um unsere Programmatik (um diesen Begriff hier an dieser Stelle zunächst unkommentiert einzuführen) mit dem Hinweis darauf zu unterfüttern, dass die Brüche das Übliche in der Geschichte der Leute waren; allerdings in einem ungeheuren Ausmaß, das über Palastrevolutionen, Regimewechsel und Lokomotiven der Geschichte weit und jeweils paradigmatisch hinausgeht – und dass ein solcher paradigmatischer Bruch auch die Voraussetzung, das Ziel und Ergebnis unserer Gesellschaftskritik sein wird. Wir stellen also unsere Argumente durchaus in einen historischen Rahmen.

Andererseits aber haben wir gerade diesen historischen Rahmen als diskursives Element der bürgerlichen Gesellschaft der Moderne denunziert. Dabei haben wir uns aber nicht darauf beschränkt, bloß zu sagen, die Geschichte kenne keine Kontinuität, sondern sei vielmehr eine Abfolge von Diskontinuitäten; wir haben es nicht damit bewenden lassen, dass wir Evolution nicht als kontinuierliche Entwicklung vom Primitiven zum Differenzierten und Elaborierten sehen, sondern als die durchgesetzten Überbleibsel aus hochkontingenten Situationen, wobei für das Schicksal des Nichtdurchgesetzten keinerlei Begründung wir anzugeben vermögen. Dies würde den Rahmen des historischen Diskurses noch nicht sprengen. Wir sehen vielmehr Geschichte als „Erfindung“ der Moderne selbst und wenn wir diese Erfindung anwenden, müssen wir uns dessen gewahr sein, dass sie entweder ein Eigenleben entfaltet oder uns unter der Hand zerrinnt. Wir nehmen der Geschichte ihre vorgebliche Objektivität, die wir als ideologisches Konstrukt der Moderne bezeichnen, und ersetzen sie dadurch, dass wir nichts anderes unternehmen, als den Berichten vergangener Epochen zu trauen, so wie uns überliefert sind. Das Ergebnis kann dann nur darin bestehen, dass wir unsere Ahnen nicht verstehen (was übrigens ein guter Grund – seinerzeit – für die Aufklärung war).

Was uns bleibt, ist die Aporie, dass wir, modern sozialisiert, subjektkonstituiert, historisch denken (weder müssen, noch können – wir tun es einfach) und dieses historische Denken gleichzeitig infrage stellen, weil es – paradoxerweise – nichts über die Vergangenheit erzählt und nichts über die Zukunft erhellt.

Geschichte also. Um nun zu Ende zu kommen mit diesem Beitrag zum Einstieg in eine Debatte, deren Zweck und Ende noch nicht absehbar erscheint, will ich noch einige Stichworte liefern. Geschichte hat wohl etwas mit Zeit zu tun. Es ist aber in diesem Zusammenhang wichtig, zu wissen, von welcher Zeit wir sprechen, mit welcher Zeit wir es zu tun haben. Robert Kurz hat in „Die Substanz des Kapitals“ im ersten Teil von der betriebswirtschaftlichen Raumzeit gesprochen. Er beschreibt sie als abstrakte Zeit, die nur noch gleichmäßige Intervalle misst, richtiger, als gleichmäßig gemessene Intervalle beschrieben wird (physikalisch definiert ist Zeit wie Raum der Abstand zweier Ereignisse voneinander). Diese abstrakte (betriebswirtschaftliche wie physikalische) Raumzeit zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie weder Anfang noch Ende hat (was Robert in seinem Artikel so nicht expressis verbis schreibt, was aber aus seiner Darstellung hervorgeht). Erst in dieser endlosen, also unendlichen Zeit entfaltet sich Geschichte; nachzulesen in Exit! 1.

Geschichte also, die sich in der Zeit entfaltet – eine Binsenweisheit, wäre da nicht die Bestimmung der Zeit als unendlich. Genau dies nämlich ist es, was uns mit einer Zeit operieren lässt, die es früher nicht gegeben hat. Die Zeit früher hatte nämlich sehr wohl Anfang und Ende, und dies alles war eingebettet in eine Ewigkeit, die außer der Zeit war. Und eine so gestaltete Zeit wurde auch nicht gemessen, sie war selbst das Maß der Dinge. Es gab eine Zeit aufzustehen und eine Zeit sich niederzulegen und diese Zeiten (es ist wohl richtig, von Zeiten und nicht von Zeit zu sprechen) differierten mit den Jahreszeiten (wurden diese Zeiten gemessen, waren die Stunden von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Winter kürzer als im Sommer, und die Stunden mechanischer Uhren kollidierten mit den Stunden von Sonnenuhren – es gab eben verschiedene Zeiten). Unnötig zu sagen, dass sich in diesen Zeiten keine Geschichte entfalten konnte.

Die überlieferten Berichte sprechen davon, dass Ereignisse geschehen sind, und überprüfen sie dahingehend, ob sie mit ihren Zeiten in Einklang stehen. Das äußert sich vor den Ereignissen in Orakeln, Opfern und Gebeten und nach den Ereignissen in den während der Ereignisse und nach ihnen quasi als Bestätigung und Zeichen der göttlichen Übereinstimmung sich vollziehenden und sie begleitenden wunderbaren Fügungen. So steht also bei dieser Art von „Geschichtsschreibung“ weniger eine zeitliche Abfolge von Ereignissen im Mittelpunkt, sondern dass die jeweiligen Ereignisse zur richtigen Zeit geschehen sind in Harmonie mit fatum oder Heilsplan. Wenn nun aber eine Unternehmung missglückt ist oder Katastrophen über die Leute hereingebrochen sind, so wird dies sofort als Zeichen für sündhaftes Verhalten, für Hybris oder Nichtbeachtung der religiösen Vorschriften angesehen. So war beispielsweise der römische Konsul Caius Flaminius dafür bekannt geworden, dass er böse Omina bei seiner Wahl und auch beim Aufbruch in s Feld frevlerisch missachtet hatte. Die Niederlage am Trasimenischen See gegen Hannibal war also verständlich.

Vasari wiederum berichtet in seiner Sammlung von Lebensbeschreibungen berühmter Bildhauer, Maler und Architekten nach dem nämlichen Schema. Dass ein Genie zur Welt kommt, ist eine Gnade Gottes. Und nach dem Tod Michelagnolo Buonarottis können wir das Folgende über die Begräbnisfeierlichkeiten in Florenz lesen, nachdem der Leichnam heimlich aus Rom geschmuggelt worden war, um der florentinischen Signoria und nicht dem Papst die Gelegenheit der letzten Ehre zu geben: „Der Protektor, der sich gemäß seines Amtes dort befand, beschloss, den Sarg öffnen zu lassen, überzeugt, dies werde vielen sehr lieb sein, und von dem Wunsche getrieben (wie er nachmals bekannte), den Anblick desjenigen wenigstens im Tode zu haben, den er lebend nie oder doch in so frühem Alter gesehen hatte, dass ihm keine Erinnerung davon geblieben war. Es geschah und während er und wir alle, die wir gegenwärtig waren, einen verwesten Körper erwarteten (denn schon war er fünfundzwanzig Tage tot und hatte zweiundzwanzig Tage im Sarg gelegen), fanden wir ihn in allen Teilen wohl erhalten und so ganz frei von jedem üblen Geruch, dass wir fast des Glaubens wurden, er liege in einem sanften und ruhigen Schlaf.“

Es ist vollkommen einsichtig, was hier geschrieben steht. Weder geht es um ein unerklärliches Wunder noch darum, dass die Balsamierungskünste derer, die Buonarotti für die heimliche Überführung zurecht gemacht hatten, verschwiegen werden. Es geht darum, dass das Gelingen dieser Balsamierung als Zeichen dafür genommen werden kann, dass die Entwendung des Toten und seine standesgemäße Aufbahrung in seiner Geburtsstadt rechtens und mit dem Segen des Himmels versehen war. Von daher ist es auch wenig verwunderlich, dass die Alten nicht nur eine andere Zeit hatten als wir, sondern auch ihre Berichte in dieser anderen Zeit anders sicherten. Es ging ihnen nicht um eine Kritik ihrer Quellen, sondern um eine Glaubwürdigkeit ihrer Quellen. Das ist umso einsichtiger, als es ja darum ging, darzustellen, dass, was immer sich ereignet hatte, in der richtigen Ordnung sich ereignet hatte. Das Medium dieser Überlieferung spielte dabei keine allzu wichtige Rolle; was immer Wunderbares berichtet wird – es kann berichtet werden, solange es glaubwürdig ist, also die Ordnung des Glaubens nicht stört (diese Glaubwürdigkeit hat also auch einen anderen Inhalt und nichts damit zu tun, wie wir mit kriminalistischer Skepsis Glaubwürdigkeit prüfen). Wir wollen noch einmal Vasari zum Zeugen nehmen, der seine Beschreibungen nach „Dokumenten und mündlichen Berichten“ darstellt und von Giotto Folgendes zum Besten gibt: „Giotto war, wie wir schon oben sagten, sehr fröhlich und führte gern witzige und scharfe Reden, die in Florenz in lebhaftem Andenken stehen; deshalb schrieb nicht nur Hr. Giovanni Boccaccio darüber, sondern auch Franco Sacchetti erzählt in seinen dreihundert Novellen viel Unterhaltendes von diesem Künstler und ich will einige dieser Novellen mit den eigenen Worten Francos hier beifügen, damit man samt dem Inhalt der Novelle auch die Redeweise jener Zeit erkennen möge.“

Ich bin an dieser Stelle etwas ausführlicher geworden, um darzutun, wie sehr sich unsere Geschichte, unsere Geschichtsschreibung von der unserer Vorfahren, von der der religiösen Epoche unterscheidet. Gemeinsam aber haben beide, dass die jeweils ihrer Epoche zu Grunde liegende Erklärung praktikabel ist (zum Begriff der Erklärung verweise ich auf den Aufsatz in Exit! 3), ja überhaupt nur im Rahmen dieser Erklärung angewandt werden kann. So müssen wir, wenn wir Aussagen über die Vergangenheit tätigen, immer im Auge behalten, dass unsere Aussagen etwa über Rom sich grundsätzlich von denen unterscheiden werden, die Rom selbst über sich trifft. Roms Geschichte ist durch fides, pietas und die Götter bestimmt; in unserer Geschichte kann gesagt werden, dass einstens die Dinosaurier die Welt beherrschten. Beide Aussagen werden getroffen, ohne dass es uns oder ihnen aufgefallen wäre; nichts wird dabei infrage gestellt.

Unsere Geschichte also: Ich habe schon darauf hingewiesen, dass sich unsere Geschichte – im wahrsten und doppeldeutigen Sinne des Wortes – in unserer Zeit entfaltet. Das bedeutet dann, dass wir, versteckt, verschwiegen, vermittelt nur von unserer Verfasstheit berichten, wenn wir Geschichte betreiben; verschwiegen, versteckt, vermittelt deswegen, da es aussieht, als würden wir uns den Anschein geben, ganz objektiv gar nicht von uns zu erzählen, sondern von der Welt selbst und von allem, was sich seit dem Urknall bis heute ereignet hat. Kolossal und unhintergehbar wie in der vergangenen Epoche die Schöpfungserzählungen stehen nun die Naturgesetze da; wir sind ihnen unterworfen und nichts kann uns die Freiheit geben, gegen sie etwas zu unternehmen. Auch selbst die Sünde der Hybris ist uns verwehrt.

Unsere Geschichte also: Wir können festhalten, dass wir über uns erzählen im Rahmen einer Erklärung, die unsere Welt zu toter Natur, zu abstrakter Materie, zu unhintergehbaren Naturgesetzen erklärt. Diese Welt ist unendlich, ohne Anfang und Ende (zur Illustration dessen verweise ich auf die Diskussionen über die „imaginäre Zeit“ in der Physik, einer Zeit, die sowohl nach vor als auch zurück verfließt, etwa bei Stephen W. Hawking. Eine kurze Geschichte der Zeit. Hamburg, Rowohlt, 1988). Innerhalb dieser Unendlichkeit wirken die Naturgesetze, was unsere menschliche Existenz bloß zu einem Sonderfall dieser Naturgesetze macht; wenn eins so will, drückt dann das „anthropische Prinzip“ bloß eine Unternehmung der toten Natur aus, Menschen herzustellen. Wir stehen also vor der Paradoxie der Moderne, dass wir aus der menschlichen Geschichte eine Naturgeschichte machen, wobei diese Natur schon tot ist.

Unsere Geschichte also: Gleichzeitig eröffnen wir einen neuen Diskurs. Wir bringen (und mit diesem Wir meine ich jetzt wirklich uns, liebe Leute, nicht das Wir der Subjekte der Moderne) diese Geschichte wieder zu uns und stoßen uns dabei von der bisher gültigen Erklärung ab. Was bleibt, ist aber dabei die Notwendigkeit einer höchst präzisen Beschreibung unserer Zustände, die nicht nur in einer Gesellschaftskritik münden, sondern darüber hinaus das Bewusstsein von einer möglichen Veränderung schärfen können. Dazu wird es nötig sein, was ich in meinem Artikel angerissen habe, mit einer Beschreibung zu ergänzen, die sich mit allen den konkreten Verwerfungen, Disparitäten, mit dem Weiterwirken tradierter, von der Religion übernommener Vorstellungen befassen.

Zwei Aufgaben stehen also an: die Beschreibung des modernen Ensembles (Kapitalismus, Abspaltung, Konstitutionsgeschichte des Subjekts inklusive Staat, Geschichte des europäischen und japanischen Sonderwegs) und die Revision der Datengeschichte mit dem Schwerpunkt auf dem paradigmatischen Bruch und der Kritik der Kontinuität. So hätte denn der Aufsatz über eine Abfolge von Fetischverhältnissen eine nette historische Legitimation bleiben können, wäre nicht mit dem Begriff des Historischen unversehens ein Angelpunkt entstanden, der die Geschichte wieder auf uns zurück wirft und uns zwingt, hinfort von uns zu erzählen: von unserer Konstitution und Durchsetzung der Moderne und von deren Verfall. Es wird sich uns die Frage stellen, ob nicht die Dechiffrierung des Historischen der Moderne auch auf andere wissenschaftliche Paradigmata anzuwenden sein wird, etwa auf die Physik, die ja in keiner Weise des Historischen enträt. Wir werden uns auch damit zurecht finden, dass wir diesen Standpunkt, den wir einnehmen können, wieder als eine Art Sachbeweis dafür nehmen, dass die Moderne, unsere Epoche und Welt, ihren Höhepunkt erreicht und überschritten hat, wenn es uns nun möglich wird, gegen das moderne Paradigma, gegen die Erklärung der Moderne zu denken. Der Begriff der Krise wird in diesem Zusammenhang seine Erweiterung finden: neben die ökonomische Krise ist in unserem Diskurs die innere Schranke getreten (die religiös-materiale Welt ist übrigens an eine äußere Schranke gestoßen); in Zukunft wird auch die Krise der Legitimation, das Brüchigwerden des gesellschaftlichen Konsenses in der Kritik der Wertabspaltung in Betracht gezogen werden.

Was bleibt, ist also die Anerkennung des bruchhaften und katastrophischen Verlaufs, wenn wir epochale Gliederung anhand dessen, was wir „Fetischverhältnisse“ nennen, vornehmen. Das eröffnet uns die Aussicht auf eine neue Epoche, die sich von unserer vollkommen unterscheiden wird und die den Namen des Neuen wirklich verdient, weil wir nun Zusammenbruch und Neuentstehung mit anderen Augen sehen. Insofern, als wir erst am Beginn dessen stehen, was so eine Transformation, so ein Epochenbruch bedeutet, als wir erst anfangen, gegen uns selbst zu denken, ist auch die Aussage aus dem Editorial von Exit! 3 bestätigt, dass „die Schwelle des realen Widerstands noch gar nicht erreicht“ sei. Darauf deutet auch hin, dass die Katastrophentheorie innerhalb der historischen Wissenschaft als Denkfigur schon mit guter Tradition eingeführt ist, unser Beitrag sich also zunächst nur darauf beschränkt, die Katastrophentheorie erstmals auf die menschliche Geschichte anzuwenden. Gleiches gilt für die Fragen, die mit Kontingenz verbunden und aufgeworfen sind.