Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Jörg Ulrich

"Der" Mensch und die Leute und die Religion und der Kapitalismus und so weiter

Bemerkungen zu Gerold Wallners "Die Leute der Geschichte" nebst einem Vorwort, die neuesten Ausführungen des Autors darüber betreffend, wie es mit den Leuten der Geschichte weiter geht

Der Mensch ist gut. Nur die Leut’ san a G’sindel

andere augen müssen den menschen
andere augen die blume ansehen

Vorwort

Der nachfolgende Beitrag wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als Gerold Wallners "Die Leute der Geschichte" erst als Rohentwurf vorlag, so dass einiges von dem, was er enthält, der ausgearbeiteten Fassung nicht mehr gerecht wird. Die Entscheidung, ihn dennoch unverändert und nur um dieses Vorwort erweitert stehen zu lassen, ergab sich mir aus der Überlegung, dass dadurch der Prozess unserer Theoriebildung einsichtiger und nachvollziehbarer gemacht werden kann. Zuvörderst haben mich die "Leute der Geschichte" dazu veranlasst, einige meiner Thesen aus dem Beitrag "Gott in Gesellschaft der Gesellschaft" (EXIT! 2) noch einmal zu überdenken. Vor allem die an Walter Benjamin anknüpfende These vom "Kapitalismus als Religion" ist vor dem Hintergrund der Überlegungen Gerolds differenzierter zu fassen, weil sie nahe legen, dass Religion, Metaphysik, Geschichte und etliche damit im Zusammenhang stehende weitere Begriffe spezifisch moderne Prägungen sind und nur aus der heutigen Sicht des bürgerlichen Subjekts (MWW) auf vormoderne Verhältnisse zurück bezogen werden. Die Theorie der historischen Brüche und Katastrophen, aus denen ein für die in der jeweiligen Umbruchphase lebenden Leute etwas unerhört Neues entsteht, eröffnet einen Blickwinkel, der nichts weniger als faszinierend genannt werden muss.

Mittlerweile hat Gerold einen zusätzlichen Text vorgelegt, der sich damit beschäftigt, wie es mit den Leuten der Geschichte weiter geht. Am Ende heißt es dort, dass der neue Blick auf die Geschichte, geboren aus dem Umstand, dass die Moderne an ihrer "inneren Schranke" angekommen ist, "die Aussicht auf eine neue Epoche" möglich macht, "die sich von unserer vollkommen unterscheiden wird und die den Namen des Neuen wirklich verdient, weil wir nun Zusammenbruch und Neuentstehung mit anderen Augen sehen."

Der nachfolgende Text betrachtet das Thema noch nicht ganz mit diesen anderen Augen. Vielleicht kann gesagt werden, dass hier erst ein anderes Auge beteiligt ist, während das zweite noch einer mehr oder weniger traditionellen Sichtweise verhaftet bleibt. Aber er beschreibt gerade deswegen den Weg, auf dem, durch die Ausführungen Gerolds angestoßen, die eigene theoretische Reflexion weiter geht.

Einleitung

Auffällig dabei ist zunächst, dass Wallner mit der auch heute noch in den Geschichts- und Sozialwissenschaften üblichen Sprachregelung bricht, nach der immer von "dem" Menschen die Rede ist, der sich in verschiedenen geschichtlichen Kontexten in ein jeweils bestimmtes Verhältnis zu "der" Natur setzt usw. Dass es sich bei diesem Sprachgebrauch um eine der bürgerlich-aufklärerischen Epoche zugehörige Abstraktion handelt, in welcher die Eigenschaften des männlichen bürgerlichen Vernunftsubjekts, Warenbesitzers und Staatsbürgers in Eigenschaften "des" Menschen schlechthin verkehrt werden, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben.1 In Abgrenzung dazu treten bei Wallner an die Stelle "des" Menschen "die Leute", die sich im Verlauf "der Geschichte" offenbar ganz anders verhalten und ganz anders empfunden haben, als ihnen dies die bürgerliche Geschichtsschreibung und auch noch die traditionsmarxistische Klassentheorie unterstellt.2

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die These, dass der historische Blick mit seiner "teleologischen Gerichtetheit" (Wallner) ein spezifisch moderner Blick sei, von dem man Abstand nehmen müsse zugunsten eines anderen, eben nicht teleologischen Blicks, der als solcher dann "zu einer Kritik unserer Gesellschaft beitragen" (Wallner) könne, indem er sich mehr auf die Brüche konzentriert, auf Kontingenzen und Eigenarten, als auf Kontinuitäten und Übergänge.

Fetisch, Wert, Abspaltung

Der Argumentation Wallners folgend muss in diesem Zusammenhang noch einmal gegen diverse pseudokritische Erklärungsansätze darauf hingewiesen werden, dass es sich beim Fetisch nicht um eine Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen handelt, was, wie der Autor betont, letztlich nur zu einer Verlängerung der sattsam bekannten Priestertrugtheorie in eine Kapitalisten- oder Bourgeoisietrugtheorie führt, sondern um das innere Organisationsprinzip der ganzen Gesellschaft, die sich damit als Ergebnis und zugleich Voraussetzung des Handelns der vergesellschafteten Menschen sozusagen selbst durchgehend immer wieder die Fesseln objektiver Zwangsverhältnisse anlegt, die als solche nicht wahrgenommen werden, gleichwohl aber das gesellschaftliche Leben in allen seinen konkreten Äußerungen abstrakt bestimmen und regeln. Fetischvergesellschaftung also ist Herrschaft der Abstraktion über alles sinnlich Konkrete sowie ebenfalls mit diesem Konkreten und gleichsam durch es hindurch, weshalb die platte Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Abstraktion bzw. das Ausspielen dieser gegen jene ("Wo bleibt denn da die Sinnlichkeit?") nicht ausreicht, um die in sich gebrochene Totalität des Gesamtverhältnisses herauszustellen.

Die Feststellung, dass es die vollständig und restlos "zur Totalität geschürzte Welt" (Adorno) nicht gibt und auch nicht geben kann, verweist auf die zentrale Bedeutung der von Roswitha Scholz in den letzten Jahren formulierten und ausgearbeiteten Abspaltungstheorie.3 Die moderne Warengesellschaft und ihr strukturell männliches (westliches, weißes) Subjekt konstituieren sich gleichzeitig und in einem inneren Zusammenhang mit den in der Wertförmigkeit nicht aufgehenden Elementen einer "Natur", die in der Doppelung von zu beherrschendem, berechenbarem Objekt und unerforschlich-mystischem Anderssein in Erscheinung tritt, konkret werdend im bürgerlichen Geschlechterverhältnis: "Der Wert ist der Mann" (Roswitha Scholz), und "die" Frau sowohl Teil und conditio sine qua non seiner Existenz von Ewigkeit zu Ewigkeit als auch Repräsentantin jener doppelten "Natur" als Objekt und unfassbares Anderssein, also ebenfalls Wertsubjekt sowie zugleich dessen "andere Seite" und vice versa.

Die Einheit von Wert und Abspaltung bildet den Kern der bürgerlichen Subjekt-Objekt-Trennung. Nach dem Tod des in der Immanenz-Transzendenz einer heiligen Ordnung die Einheit verbürgenden Gottes wandelt sich nun auch dessen Richterstuhl zu einem ganz irdischen Möbelstück, nämlich zum "Richterstuhl der Vernunft" (Kant), vor den jetzt die "in Einzeldinge zerfallene Natur" zitiert wird, um sie sogleich "auf die Folterbank" zu strecken und "die Wahrheit über ihre geheimnisvollen Kräfte bis hin zum Urgrund ihrer Existenz und ihres Zusammenhalts zu ermitteln."4 Es ist dies indes "nichts anderes als ein aus Not und Verzweiflung geborenes Verfahren des Krisenmanagements, das [...] die Aufklärung zum Festtagsornat der Weiterentwicklung zum ‚Höheren’ [...] affirmativ vergoldet"5, nachdem die vormoderne "Ordnung der Dinge" zerbrochen war.6 Mehr noch: Der abgespaltenen "Natur" wird sogar unterstellt, es sei sozusagen ihre "natürliche" Bestimmung als "Natur", sich dem herrschaftlichen Zugriff des modernen Vernunftsubjekts zu unterwerfen, nach der Auffassung Otto Weiningers etwa, eines der härtesten sexistischen, rassistischen und antisemitischen Ideologen des frühen 20. Jahrhunderts, offen zutage tretend im "Willen" "der" Frau, als Objekt "des" Mannes behandelt zu werden. "Es ist das Verhältnis von Mann und Weib kein anderes als das von Subjekt und Objekt. Es ist die Sache des Mannes [...], und will, trotz aller Bemäntelung, nicht anders genommen werden denn wie eine Sache. Das Weib sucht seine Vollendung als Objekt. Niemand mißversteht so sehr, was eine Frau wirklich will, als wer sich für das interessiert, was in ihr vorgeht, und für ihre Gefühle und Hoffnungen, für ihre Erlebnisse und innere Eigenart eine Teilnahme in sich aufkommen läßt."7

Höchst aufschlussreich in diesem Zusammenhang scheint mir die Tatsache zu sein, dass Weininger (die plumpesten Ideologen sagen oft am deutlichsten, worum es prinzipiell geht) auf seine Art und Weise das ganze Elend der bürgerlichen Gesellschaft in seiner Sicht des Geschlechterverhältnisses zur Sprache bringt, ohne natürlich zu wissen, wovon er überhaupt spricht. "Durchaus", so schreibt er, "ist das Weib nur der Gegenstand, den sich der Trieb des Mannes erzeugt hat als das eigene Ziel, als das halluzinierte Bild, das sein Wahn zu ergreifen sich ewig müht, es ist [...] die verkörperte Geschlechtlichkeit, seine Fleisch gewordene Schuld."8 Die in ihm selbst sowohl als auch im äußeren "Anderen" sich durchgehend geltend machenden Differenzen erscheinen dem auf Identität und Einheit ausgerichteten Subjekt als schuldhafte Verstrickung.

Weininger ist natürlich weit davon entfernt, die "Wert-Abspaltung als Formprinzip des warenproduzierenden Patriarchats" oder als die "andere Seite des Werts" (Roswitha Scholz) zu begreifen und er konnte auch noch nichts wissen von dem im wahrsten Sinne des Wortes wilden Durcheinander in den Zeiten der "Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats" (Frauen als Geld- und Wertsubjekte, "hausfrauisierte" Männer usw. bei gleichzeitigem Weiterbestehen des Grundverhältnisses im Stadium seines Zerfalls), sieht das ganze Verhältnis allerdings bereits als Wahnsystem und Schuldverhältnis, welche sich ihm (übrigens ganz ähnlich wie Schopenhauer) aus der halluzinogenen Triebvernebelung "des" Mannes ergeben, der hiermit an seine "Schuld"9 erinnert wird, selbst noch derjenigen "Natur" anzugehören, und ergo in seiner Bestimmung als Wert-Subjekt nicht aufzugehen, über die er sich als Vernunftsubjekt mit "freiem Willen" erhebt, sich durch die pure Existenz "der" Frau also durchgehend mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, "die" Natur nicht perfekt genug überwunden zu haben bzw. dies gar nicht zu können, weil diese "Natur" als das "Andere seiner selbst" schlicht nicht überwindbar ist, es sei denn durch totale Vernichtung und Selbstvernichtung.

Der Traditionsmarxist Werner Hofmann hat die Äußerungen Weiningers auf das "Männlichkeitsbild unseres engeren Kulturkreises" zurückgeführt und behauptet, solches Denken sei "tief in unserer christlichen Tradition verwurzelt"10, stehe also in einer Kontinuität mit vormodernen Verhältnissen. Aber wie geht das?

Gerold Wallner betont im Anschluss an Roswitha Scholz, dass die Wertabspaltung zwar an "einen durch verschiedene Epochen hindurch ausgeprägten sozialen Geschlechts- oder Genderdimorphismus" (Gerold Wallner) sozusagen "andocken", aber nicht in einer direkten Kontinuität mit vormodernen Verhältnissen stehen kann, weil es die Wertabspaltung dort nicht gegeben hat.

Mit dieser Feststellung kommt der Autor nun folgerichtig auf das Problem des Verhältnisses zwischen Kontinuität und Bruch zu sprechen und kündigt einen "historischen Eiertanz" an, den er im Anschluss auch eindrucksvoll vorführt.

Kontinuität, Bruch oder Einheit von Kontinuität und Bruch?

Von hier aus gewinnt auch das Marxsche Diktum "Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik" (MEW 1, 378) eine ganz andere Bedeutung, nämlich die, dass die der Religion unterstellte Orientierung am Übersinnlichen und die Kritik an dieser Orientierung überhaupt erst Bedeutung erlangen in einer Welt, in der das Übersinnliche durch positive (positivistische) Erklärungen komplett ausgeschlossen wird, gerade durch diese Ausschließung aber über alle Gegensätze hinweg überhaupt erst seinen Triumphzug in der Welt antritt. Ähnlich argumentiert Petra Haarmann, wenn sie schreibt: "Das Übersinnliche, sei es nun Gott genannt oder Gesellschaftlichkeit im Sinne Marxens, kann und darf Gegenstand gültiger Erkenntnis nicht sein. Nichtsdestoweniger ist der Mensch, genauer der freie Mann, transzendentaler Erkenntnis fähig (und damit über die Kausalität der Natur in Raum und Zeit herausgehoben), nämlich durch nichtempirische Erkenntnis der Empirie."12 Es geht fortan darum, die warenförmige, am Modell der mathematischen Naturwissenschaften sich bildende, eben "die funktionale Denkform anzuwenden zur metaphysischen Konstruktion der Welt"13 So gesehen sind nun Religion und Metaphysik streng zu unterscheiden, ihre Gleichsetzung enthüllt sich als ein Produkt jener von Bockelmann erwähnten "metaphysischen Konstruktion" und damit als Ausgeburt des bürgerlichen Geistes, der die eine in sich geschlossene Weltordnung verbürgende Religion (Vgl. Wallner) überwindet und sie der Orientierung am Übersinnlichen, Jenseitigen sowie der Irrationalität zeiht, während er sich zugleich der metaphysischen Bewältigung einer "Natur" zuwendet, die ihm in einem als pure Objektivität oder pures Ansich-Sein gilt und in einem als ins unvordenklich Zukünftige entgleitende Annäherung der Erkenntnis an eben diese Objektivität, die dem Erkenntnissubjekt zum Ideal wird.

In der Phänomenologie Husserls heißt dies der "unendliche Weg zur Allwissenheit". Das bürgerliche Subjekt, so Husserl, lebt "in der beglückenden Gewißheit eines von den Nähen in die Fernen, vom mehr oder minder Bekannten zum Unbekannten fortlaufenden Weges, als einer unfehlbaren Methode der Erkenntniserweiterung, in welcher vom All des Seienden wirklich alles in seinem vollen An-sich-sein erkannt werden mußte - im unendlichen Progressus. Dazu gehört aber ständig auch ein anderer Progressus: derjenige der Approximation des in der Lebenswelt sinnlich-anschaulich Gegebenen an das mathematisch Ideale"14, ergo ans Übersinnliche, an die Abstraktion, letztlich ans Nichts. Diese Art der Weltbewältigung betrachtet die empirischen, körperlich-leibhaften Menschen nicht einmal mehr als arme SünderInnen oder direkt voneinander und/oder von Gott abhängig. Sie eliminiert sie als solche gerade dadurch, dass sie das Subjekt als ein, wie Petra Haarmann sagt, über die Natur, den Raum und die Zeit sich erhebendes denkt. "Hinter dieser Entwertung des Körpers aber steht letztlich nichts anderes als eine Usurpation der absoluten Omnipotenz Gottes durch die sich entfaltende Wissenschaft."15 Und diese "radikale Desanthromorphisierung der Erkenntnis" (Stefan Breuer) wiederum überwindet die menschlichen Verhältnisse in ihrer Eigenschaft als Verhältnisse von Menschen untereinander zugunsten ihrer funktionellen Organisation, die "sämtliche bisher gültigen Formen der Wahrnehmung und der Gewißheitsverbürgung unter Verdacht stellt."16 Was hier also stattfindet, ist keineswegs der Übergang von der religiösen Weltbewältigung zur rational-wissenschaftlichen, sondern die Überwindung der Religion durch Metaphysik.

Kontinuität oder Bruch oder Einheit von Kontinuität und Bruch? Wallner optiert eindeutig für den Bruch ohne Kontinuität. Erst mit der Moderne und ihrem spezifischen Weltverhältnis werden die Menschen wirklich weltfremd. Diese Weltfremdheit kommt "erst dort zum Vorschein, wo Gott aus der Welt gestellt wird, durch die Aufklärung, durch eine neue Erklärung der Welt." (Wallner) Die Erklärung des "Kapitalismus als Religion" bleibt für Wallner vor diesem Hintergrund ein zutiefst aufklärerisches und damit ideologisches Unterfangen, wird der Kapitalismus hier doch nur über sich selbst aufgeklärt, indem ihm gesagt wird, er habe die Religion nicht wirklich überwunden und sei somit nichts anderes als eben nur eine neue Form der religiösen Weltbewältigung, die Aufklärung habe also sozusagen ihr Klassenziel nicht erreicht und müsse nun über sich selber hinausgetrieben und zur wahren Überwindung der Religion erst hingeführt werden. "Die Moderne entwickelt nicht unbegriffen das Instrumentarium einer religiösen Welterklärung weiter, sie erstellt eine völlig neue Welterklärung, die sie eine neue Welt vorfinden lässt." Wenn dem so ist, dann wäre die im Anschluss an Walter Benjamins Fragment "Kapitalismus als Religion" geführte Diskussion ein ganz und gar vom Geist der Aufklärung durchdrungenes pseudokritisches Scheingefecht auf einem Feld, welches Aufklärung und Moderne selbst längst verlassen haben, ohne sich dessen bewusst zu sein. So gesehen wären also alle KritikerInnen, welche die These vom "Kapitalismus als Religion" vertreten, selber noch so sehr in die moderne Denkweise verstrickt, dass sie die eigentliche "Leistung" dieses Denkens ins Gegenteil verkehrten, indem sie die Überwindung der Religion zu ihrer Fortsetzung unter anderen Bedingungen erklären. "(D)ie moderne Sichtweise selbst nötigt sie, Kontinuität zu sehen, wo keine ist. Gott hat ausgedient, wir leben nicht in einer Welt des fatum oder des Heils, wir leben in einer Welt andauernden Heilsversprechens, das wir selbst erfüllen müssen, die Schöpferkraft Gottes haben wir der Natur übergeben und seine Allmacht und Liebe haben wir an uns gezogen, diese erscheinen nun als menschliche Attribute, nicht mehr als göttliche, und als menschliche wiederum nur als subjektive. Da mag zwar der Fetisch unserer Verfasstheit seine Hand im Spiel haben, da mag uns der Wert vorgaukeln, was wir vermögen und aneinander wert finden, aber nicht mehr die Religion." (Wallner).

Aus dieser Perspektive könnte dann nur noch von einer in private Glaubensentscheidungen aufgelösten Religion im Kapitalismus die Rede sein, nicht länger aber vom Kapitalismus als einer Religion im Sinne Benjamins. Wenn der alte Gott also hoffnungslos obsolet geworden ist und die zu ihm gehörige Religion radikal individualisiert, kann der Bezug auf ihn nur noch die hilflose Geste einer "Krisenbewältigung" sein, welche die Ursachen und Gründe der Krise vor sich selber verbirgt. Diese Auffassung scheint mir konsensfähig. Sie fällt mit der von Roswitha Scholz formulierten These zusammen, der alte Gott werde in der Moderne sozusagen feminisiert und für die heilsbedürftigen Individuen zum Bild des Rettenden in der Gefahr oder gar der revolutionären Umwälzung gemacht.

"Mit der Krise der Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung wird [...] heute der in der Moderne zum Weib gemachte traditionell verstandene Patriarchen-Gott mit Bart und Halbglatze in seiner ganzen Obsoletheit angerufen, die dadurch umso deutlicher erscheint. Und so verwundert es auch nicht, dass der Apostel Paulus als Revolutionär neuerdings wiederentdeckt und ein ‚theological turn postmoderner Theorie’ (Doris Akrap) konstatiert wird."17

Die Frage, die sich hier stellt, scheint mir nun die zu sein, ob nicht beides zusammengedacht werden kann: das unbestreitbar gegebene Obsoletsein des traditionellen Gottes und die "Göttlichkeit" bzw. die Gottesfixiertheit" des modernen Fetischverhältisses gerade in und durch die mit ihm gesetzte Weltfremdheit als Depotenzierung des vormals real anwesenden Heils zum bloßen "Heilsversprechen" in der "unendlichen Approximation", wie Husserl es genannt hat, durch welche das gewusste Heil zur Option aufs Heil wird und damit der homo religiosus zum homo optionis, was ja nichts anderes heißt als das Absacken des Dezisionismus eines Carl Schmitt auf die Ebene der rein individuellen Entscheidungen im universellen Gegeneinander der Individuen in der Krise der Wertabspaltungsgesellschaft.18 Meine These, dass der moderne "Absturz Gottes in den Abgrund seines eigenen Begriffs" diesen Gott in seiner traditionellen Gestalt (Der Patriarchengott mit dem Bart und der Glatze) radikal abschafft, dieser aber gerade in jener Abschaffung und durch diese hindurch sich erhält, nur anders, nicht mehr als der heilsverbürgende daseiende Gott, sondern als erst herzustellender, scheint mir durch die Thesen Wallners nicht widerlegt.

Die Moderne, so führt etwa der etwas abseitige, aber gleichwohl sehr scharfsinnige italienische Philosoph Emanuele Severino aus, "überschreitet jede Grenze und wird immer mehr zur Erfindung einer neuen Welt, die sich von der alten befreit (so weit geht die Übereinstimmung mit Wallner – J.U.); sie beschränkt sich nicht mehr darauf, Konsumgüter und Werkzeuge zu produzieren, sondern ist schon auf dem Weg der Produktion des Menschen selbst, seines Lebens, seiner Gefühle und Vorstellungen und seiner höchsten Glückseligkeit, nämlich der Befreiung des Menschen von Leid und Tod."19 Dieses Heilsversprechen, schreibt Severino weiter, "zielt darauf, das effektiv herzustellen, was die traditionelle Kultur nicht glaubwürdig zu machen gewußt hat, nämlich Gott als den sicheren Besitz der Glückseligkeit."20 Gott wird demnach zum Produkt, besser zum ewigen Halbfertigprodukt, dessen Vollendung in die Unendlichkeit eines unvordenklichen Fortschritts und einer unabsehbaren Zukunft zum Prozess verflüssigt wird. "Europa (ist) die Zerstörung der eigenen Vergangenheit. Und doch ist diese Vergangenheit das Geheimnis der Gegenwart."21 Fortschritt und Katastrophe fallen ineins, wie Walter Benjamin einmal festgestellt hat, weil Gott als Produkt niemals fertig werden kann. Darin eben bestehen sein Absturz und seine Selbsterhaltung gleichermaßen. Das ganz Neue der Moderne ist das ganz Alte, nicht klassische Religion, sondern Metaphysik, in sich selbst rotierende metaphysische Weltkonstruktion. Deshalb geht es auch nicht um eine Kritik, die der Moderne "bloß vorwirft, die Metaphysik nicht genügend überwunden zu haben" (Wallner), sondern um eine Kritik, welche das Skandalon ihres Fortbestehens als Realmetaphysik zu ihrem Thema macht. Wollte man der Moderne wirklich nur vorwerfen, sie habe die Metaphysik "nicht genügend überwunden", dann bewegte man sich in der Tat immer noch innerhalb des Bewusstseins, welches sie von sich selber hat, indem der Vorwurf darin bestünde, der Positivismus, der von sich behauptet, er habe die Metaphysik komplett überwunden, habe dies nicht gründlich genug getan, so dass die Metaphysik sozusagen durch die Hintertür wieder hereinkäme. Die Feststellung dagegen, im Positivismus finde eine Metaphysik ihren Ausdruck, die sich selber als solche nicht weiß, unterstellt ihm eben gerade nicht, er habe diese Überwindung nur unvollständig zustande gebracht, sondern überhaupt nicht. Metaphysik ist immer schon die ganze Metaphysik, und ihre Überwindung, wenn diese denn überhaupt möglich sein sollte, kann nur die Überwindung eben dieser ganzen Metaphysik sein. Ein bisschen Überwindung der Metaphysik bzw. eine "nicht genügende" gibt es nicht. Ergo ist die kapitalistische Moderne ganz und gar metaphysisch und nicht nur ein wenig. Dies führt uns zu grundsätzlichen Fragen, an deren Beantwortung das ganze Problem von Kontinuität oder Bruch oder Einheit von Kontinuität und Bruch sich schlechthin entscheidet. Dazu bedarf es vor allem einer Untersuchung, was es denn mit dem Verhältnis zwischen Metaphysik und Realmetaphysik auf sich hat, ob diese Unterscheidung überhaupt zulässig ist und welche Konsequenzen aus dem Ergebnis dieser Untersuchung dann zu ziehen sind.

Metaphysik und Realmetaphysik

oder

Metaphysik ist Metaphysik ist Metaphysik

Demnach ist also die Unterscheidung zwischen Metaphysik und Realmetaphysik lediglich von heuristischer Bedeutung, eingeführt zum Zweck der besseren Darstellbarkeit jenes vertrackten Umstandes, dass Metaphysik selbst dort noch wirksam ist, wo alle meinen, sie sei ein längst vergangenen Zeiten zugehöriges bloßes Hirngespinst. Tatsächlich aber ist Realmetaphysik Metaphysik, nicht mehr und nicht weniger.22 Metaphysik aber, so stellt Wallner heraus, ist zu bestimmen als auf sich selbst bezogenes, "an das gedachte Denken" (Wallner) gebundenes Denken, welches sich zugleich in Übereinstimmung mit der von ihm selber entworfenen Welt versteht. Die Begriffe dieses Denkens aber "unterschlagen, dass die Welt, der sie entstammen, selbst schon die Welt der Leute ist." (Wallner). Bereits in der Bestimmung der prima philosophia, in der das Denken laut Aristoteles nach den "ersten Ursachen und Gründen des Seienden" fragt, sind die Leute der Ursprung ihrer Suche nach dem Ursprung. In der Philosophie reflektiert das Denken (noésis noéseos – Denken des Denkens) auf sich selbst und auf eine Welt, die als erklärte immer schon Resultat ist eben dieses erklärenden Denkens auf der Grundlage eines je geschichtlich gegebenen Verhältnisses der Leute zu ihrer Welt.

Die moderne Überwindung nun der "alten Metaphysik" oder, wie Christian Höner sagen würde, der "reinen Metaphysik" ist keine unvollständige oder mit den Worten Gerold Wallners keine "nicht genügende", sondern schlicht eine metaphysische Überwindung der Metaphysik und damit eben nicht nur Bruch, sondern auch Kontinuität. Die Überwindung der Metaphysik (ebenso wie die der Religion) setzt durch die Art und Weise, in der diese Überwindung stattfindet, eine neue Metaphysik genauso, wie die Überwindung der Religion eine neue Religion hervorbringt, die sich weit entfernt wähnt von allem Religiösen. Das Überwundene lebt im Überwindenden in neuer Gestalt weiter. Das ist der Dreh- und Angelpunkt, um den es geht. Der Epochenbruch kann als solcher nur stattfinden, indem das Gebrochene sich in neuer Form fortschreibt und Metaphysik in ihrer wesentlichen Bestimmung als Herrschaft des Allgemeinen über das Einzelne und Besondere durch ihre Überwindung hindurch am Leben erhält. Dass die Wirklichkeit in diesem Drang der Metaphysik zum Absoluten nicht aufgeht, macht die Wertabspaltungskritik geltend, ohne ihrerseits, wie Roswitha Scholz betont, das Recht des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen absolut zu setzen. "Dabei kann die Wert-Abspaltung nicht etwa dem Wert als ein noch viel universelleres, ja nun wahrhaft universelles Prinzip entgegengehalten werden. Mit einer Absolutheitsbehauptung wäre immer schon ihr eigenes Dementi gesetzt, indem sie nämlich ihrem eigenen Begriff nach ‚automatisch’ gezwungen ist, auch dem, was nicht in ihr aufgeht, stattzugeben; so wagt sie es, ‚gegen sich selbst zu denken’ (Adorno) und geht es ihr um ein neues Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, Einzelnem, Kontingentem etc., ohne dabei Hierarchien aufzumachen und eine Seite der anderen gegenüber als Ursprung zu setzen. Ist doch auch mit der Behauptung der Allgemeinheit der Wert-Abspaltung eben als gesellschaftlichem Formprinzip gesetzt, dass im Denk-Mainstream der Moderne das Nicht-Identische suspendiert wird. Deshalb würde die Abspaltungskritik sich mit einer Absolutsetzung ihrer eigenen Behauptung entziehen."23

Negatives Denken, das hatte bereits Adorno festgestellt, rennt nicht blind gegen das Allgemeine an im Namen eines wie auch immer genauer zu bestimmenden, dem Absoluten in bloß einfacher Negation entgegen gehaltenen Besonderen. Das negative Denken, und dies ist die nur scheinbar paradoxe Conclusio aus der gesamten "Negativen Dialektik", ist eben gerade nicht nur antimetaphysisch, also gewissermaßen negativ positivistisch, sondern "solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes."24 Dies heißt aber, dass der Metaphysik mit ihrer Metamorphose zur Realmetaphysik etwas verloren geht, was in der alten Metaphysik noch anwesend war, nämlich die Einsicht in den Umstand, dass die Welt die "Welt der Leute" ist, die sie in ihrem Denken reflektieren, und keineswegs ein objektives Außen, dessen sich ein von der Welt getrenntes Subjekt erst bemächtigen muss. Hegel hat, was immer auch an seiner schrägen Aufhebung der Kantischen Philosophie ansonsten zu kritisieren sein mag, diesen Punkt sehr deutlich gesehen und gegen einen platten Subjekt-Objekt-Dualismus verteidigt:

"Die ältere Metaphysik hatte [...] einen höheren Begriff von dem Denken, als in der neueren Zeit gäng und gäb geworden ist. Jene legte nämlich zugrunde, daß das, was durch das Denken von und an den Dingen erkannt werde, das allein an ihnen wahrhaft Wahre sei, somit nicht sie in ihrer Unmittelbarkeit, sondern erst in die Form des Denkens erhoben, als Gedachte. Diese Metaphysik hielt somit dafür, daß das Denken nicht ein den Gegenständen fremdes, sondern vielmehr deren Wesen sei, oder daß die Dinge und das Denken derselben, – wie auch unsere Sprache eine Verwandtschaft derselben ausdrückt, – an und für sich übereinstimmen, daß das Denken in seinen immanenten Bestimmungen und die wahrhafte Natur der Dinge ein und derselbe Inhalt sei."25 Auf der Grundlage dieser Einsicht kritisiert Hegel auch die moderne Trennung von Theorie und Praxis und die Auffassung, dieser sei gegenüber jener, der "praktischen Bildung" gegenüber der theoretischen Reflexion, Vorrang zu geben, wobei sich "die Wissenschaft und der gemeine Menschenverstand [...] in die Hände arbeiteten, den Untergang der Metaphysik zu bewirken."26

Dies bedeutet nach meinem Dafürhalten, dass mit der Aufklärung nur dann tabula rasa (Robert Kurz) gemacht werden kann, wenn man die Realmetaphysik genau an dieser im Verhältnis zur "alten Metaphysik" gravierenden Schwachstelle packt und ihr damit im wahrsten Sinne des Wortes das Tanzen beibringt, indem man ihr ihre eigene Melodie vorsingt, wohingegen sie sich sonst als Realmetaphysik in einer auf Unendlichkeit angelegten Agonie fortschleppt und schließlich in der Weltvernichtung zu sich selbst kommt. Heidegger, der zweifellos etwas von Metaphysik verstanden hat, drückt dies in der ihm eigenen verqueren Sprache folgendermaßen aus:

"Indem die Metaphysik vergeht ist sie vergangen. Die Vergangenheit schließt nicht aus, sondern ein, daß erst jetzt die Metaphysik ihre unbedingte Herrschaft im Seienden selbst und als dieses in der wahrheitslosen Gestalt des Wirklichen und der Gegenstände antritt. Aus der Frühe des Anfangs erfahren, ist aber zugleich die Metaphysik vergangen in dem Sinne, daß sie in ihre Ver-endung eingegangen ist. Die Verendung dauert länger als die bisherige Geschichte der Metaphysik."27

In der Verendung triumphiert für Heidegger die "Seinsvergessenheit". Sie ist die Agonie des Seins, das sich "ins Nichts vernichtet", wie er es ausdrückt. Diese Agonie, und genau das ist mit dem Wort Verendung gemeint, ist nicht schon das Ende der Metaphysik, sondern deren sich gleichsam überschlagende, sich überwältigende, im Prozess der selbstdestruktiven menschlichen Praxis ins Nichts auflösende Behauptung. Und das ist das Skandalon, darin besteht die Ungeheuerlichkeit jenes finsteren Stücks, das mit der in ihrer Überwindung und durch diese hindurch sich erhaltenden Metaphysik auf der ontologischen Weltbühne zur Aufführung gebracht wird: "Dem Menschentum der Metaphysik ist die noch verborgene Wahrheit des Seins verweigert. Das arbeitende Tier ist dem Taumel seiner Gemächte überlassen, damit es sich selbst zerreiße und in das nichtige Nichts vernichte."28 Bei allem Widerwillen, den das Geschwafel über das "Menschentum" und die "Wahrheit des Seins" auslöst: Der Diagnose, dass der herrschende "metaphysische Wahn" (Nietzsche) in die Vernichtung führt, kann wohl kaum etwas entgegengesetzt werden.

Offensichtlich ist Heidegger, der "Hörige des Seins"29, hier vom nackten Horror angefallen worden angesichts der Tatsache, daß sich das Nichts als "anderer Name des Seins entpuppt"30, ein Umstand, über den man allerdings spätestens seit Hegel informiert sein könnte.31

Hier waltet kein "Paffenbetrug ohne Pfaffen" (Wallner) und keine ontologisch fixierte Kontinuität, sondern die Kontinuität einer ganzen Reihe geschichtlicher Brüche, die gerade deshalb stattfinden konnten, weil die jeweiligen Welten der Leute gerade nicht "hermetisch abgeschlossen" waren, wie Gerold Wallner schreibt, weder die magische noch die religiöse, sondern selbst immer schon in sich gebrochen, fetischistisch die eigenen Hervorbringungen zu Eigenschaften der Welt schlechthin erklärend und an den Defiziten dieser Erklärungen schließlich scheiternd. Dies hat nichts mit der bürgerlichen evolutionistischen ontologischen Vorstellung über eine Entwicklung vom Niederen zum Höheren, von der Irrationalität zum hellen Licht der Vernunft zu tun, sondern mit dem Umstand, dass es eine totale (und das riecht bereits nach "totalitär"), lückenlose, alles umgreifende und in sich geschlossene Welterklärung und Weltbewältigung nicht geben kann. Ein neues Paradigma, das sich der bürgerlichen Geschichtsteleologie entgegen stellt, wird sich also in gewisser Weise bescheiden müssen, indem es den Totalerklärungen misstraut, die in diesen nicht aufgehenden Differenzen durchgehend geltend macht und solchermaßen im "Denken gegen sich selbst" (Adorno) die eigene Bedingtheit stets mit reflektiert. "Die Spannung zwischen Begriff und Differenzierung muß ausgehalten werden, ohne diese Spannung wiederum zu hypostasieren."32 Gerold Wallner wird dieser These sicher nicht widersprechen, läuft aber m. E. Gefahr, seine Theorie der historischen Brüche und Kontingenzen tatsächlich zu hypostasieren. Schon allein der ja allgemein nicht strittige Umstand, dass mit der Moderne die Metaphysik nicht etwa verschwindet, sondern sich am Leben erhält, ja auf die Spitze des ihr ihärenten katastrophalen Endes getrieben wird, verweist auf Kontinuität, ohne die der zweifellos stattgefunden habende Bruch gar nicht zu denken wäre. Die Kontinuität liegt, wie ich meine, bereits im Begriff und der Theorie des Bruchs selber. Denn was sollte ein Bruch anderes sein als einer innerhalb einer Kontinuität? Ein Bruch setzt voraus, dass es etwas gibt, das gebrochen wird – und eben dies ist die Kontinuität. Es gibt keinen Bruch ohne Gebrochenes. Bei grundsätzlicher Zustimmung zu der Kritik Wallners am bürgerlichen Geschichtsverständnis scheint mir hier weiterer Klärungs- bzw. Erklärungsbedarf zu bestehen.

Max Stirner, an dem ansonsten kritisiert werden mag, was immer bei ihm als "kleinbürgerlich" o.ä. erscheint, hatte ein feines Gespür für die in diesem abstrakten Menschenbegriff steckende Gewalt: "Wer für den Menschen schwärmt, der läßt, soweit diese Schwärmerei sich erstreckt, die Personen außer Acht und schwimmt in einem idealen, heiligen Interesse. Der Mensch ist ja keine Person, sondern ein Ideal, ein Spuk." (Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981, 85) Und in der zugespitzten Formulierung kaum zu übertreffen schreibt er in seiner Kritik an der Französischen Revolution: "Weil die revolutionären Pfaffen oder Schulmeister dem Menschen dienten, darum schnitten sie den Menschen die Hälse ab." (ebd., 87)

Leute, von liuti (ahd.) und liute (mhd.), liudi (asächs.) und einige weitere Varianten gehen zurück auf die indogermanische Wurzel leudh = wachsen, Wachstum, Nachwuchs, Nachkommenschaft. Darüber hinaus ergibt sich zudem eine Verbindung zu dem Wort "liberal" – leudhero = zum (freien) Volk gehörig, verbunden mit lat. liberare = befreien, mittelalterlich in der Bedeutung von freilassen, ausliefern, erhalten im nhd. Lehnwort liefern. In einigen Dialekten (z.B. im Schwäbischen) in der Bedeutung von kaputt machen, zerstören gebraucht. "Du hast die Vase geliefert", heißt, du hast sie zerstört, zertrümmert...)

Zur Stellung des "freien Mannes" außerhalb der Zeit vgl. Petra Haarmann, Dem Kant sein Ding

Vgl. ebenfalls Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003, 576: "Der Kapitalform hängt der Traum einer äußersten Grenzenlosigkeit an, eine Phantasie von Freiheit als der völligen Befreiung von aller Stofflichkeit, von der Natur. Dieser Traum des Kapitals (der im hier referierten Kontext auch die tödliche Utopie bzw. der Todestrieb des MWW genannt werden kann – J.U.) wird zum Alptraum für all das und all diejenigen, wovon das Kapital sich zu befreien versucht – den Planeten und seine Bewohner."

Zum Thema Zeit und Vergänglichkeit, Verwertung und Entwertung vgl. Jörg Ulrich, Individualität als politische Religion. Theologische Mucken und metaphysische Abgründe (post)modernen Subjektivität, Albeck bei Ulm 2002, 107 ff

Luhmann hat meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, daß bereits seit dem "letzten Drittel des 18. Jahrhunderts" dazu übergegangen wird, "die Autonomie der Funktionsbereiche, und das heißt vor allem: ihre Unabhängigkeit von transzendenten Begründungen, auf die Individualität der in ihnen Tätigen zu stützen" (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, Band 2, 1017), sich damit aber mit der "Zumutung" (Luhmann) konfrontiert zu sehen, das Individuum als ein sich selbst transzendierendes zu begreifen, so dass, wie Herder bereits im Jahr 1769 feststellte, "jeder sich selbst sein Gott in der Welt" sei. (Herder, Erstes kritisches Wäldchen, zitiert bei Luhmann, ebd.) Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was passiert, wenn diese so bestimmten "Weltgötter", deren Gesellschaftlichkeit einzig negativ gegeben ist, nämlich in Gestalt des kapitalistischen Gegeneinanders in der universellen Konkurrenz, auf dem Höhepunkt der Krise bzw. des Verfalls eben dieser Form von Gesellschaftlichkeit, ungebremst aufeinander loszugehen beginnen.