Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 07.04.2006

Robert Kurz

FAMILIENÖKONOMIE

Wenn die gesellschaftliche Krise sich zuspitzt, flüchten die Ideologen gern in die Biologie. Deshalb hat die deutsche Krisendebatte die persönlichen Blutsbande wieder entdeckt. In einer „neuen Bürgerlichkeit“ möchte die abstürzende Mittelklasse am liebsten Thomas-Mannsche Großfamilie spielen, um in einer Art Krisenbiedermeier Saturiertheit zu simulieren. Aber dieses Programm läuft nicht. Es ist verräterisch, wenn der konservative Bestseller-Autor Frank Schirrmacher vor allem die weiblichen Tugenden als Rettungsprogramm für den sozialen Katastrophenfall abrufen möchte. Nicht der bildungsbürgerliche Geistesgroßfürst oder der traditionelle patriarchale Familienernährer ist gefragt, sondern die grenzenlose mütterliche Liebesarbeit und Selbstaufopferung, die den zusammenbrechenden Sozialstaat ersetzen soll. Die Propaganda einer neuen Familienidylle will die Last der Krise auf die Frauen abwälzen, die sich für ihre scheinheilige Glorifizierung als das wahre starke Geschlecht nichts kaufen können.

Erst recht verlogen ist das Argument, eine erhöhte Gebärfreudigkeit könne den Karren der Sozialversicherungen aus dem Dreck ziehen. Wahr daran ist höchstens, dass man die Alten, die in der Vergangenheit den damals noch gelingenden Verwertungsprozess getragen hatten und die nun ihre Rentenansprüche geltend machen, am liebsten alsbald sozialverträglich ableben lassen möchte. Die bereits beschlossene Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis 67 und womöglich darüber hinaus zielt ebenso in diese Richtung wie die Zweiklassenmedizin. Statt des drohenden Überhangs an unfinanzierbaren Rentnern sollen kinderreiche junge Familien die soziale Landschaft bevölkern. Aber die jetzt in die Welt gesetzten Kinder wachsen in eine programmierte Zukunft von Arbeitslosigkeit und Billiglohn hinein. Schon ihre potentiellen Eltern selber werden ja gegenwärtig in ihren Erwerbsbiographien prekarisiert. Die Krise der Arbeitsmärkte und die Krise der Sozialversicherungen bedingen sich wechselseitig. Und die Tendenz zur Entwertung der Arbeitskraft hat längst auch die qualifizierten Sektoren erreicht. Deshalb können unter dem Diktat der kapitalistischen Finanzierungsfähigkeit mehr Kinder heute nicht die Renten und die medizinische Versorgung ihrer Eltern morgen sichern.

Die neuen Familienideologen tun so, als drohe demnächst der harte Generationenkonflikt, weil die immer weniger werdenden Jungen nicht länger die immer größere Zahl von Alten finanziell durchfüttern wollen. In Wahrheit ist es bei den jetzigen Generationen eher umgekehrt: Viele junge Erwachsene haben keine eigene berufliche Perspektive mehr, hangeln sich vom unbezahlten Praktikum in die Ich-AG oder ins Hartz-IV-Schicksal und bleiben als Nesthocker von ihren Eltern abhängig. Das soziale Gefälle wird weniger davon bestimmt, wem jetzt noch eine Karriere gelingt und wem nicht, sondern davon, wer eine Erbschaft von angespartem Geld- oder Sachvermögen aus den längst verflossenen Zeiten der Prosperität macht oder erwarten kann und wer nicht. Aber irgendwann wird dieser Speck abgeschmolzen sein. Dann können Großeltern, Eltern und Kinder nur noch ihre gemeinsame Armut bewirtschaften. Unter solchen Zukunftsbedingungen ist es keineswegs rational, sondern vielmehr ein Zeichen von Realitätsverlust, wenn junge Paare sich der sozialen Perspektivlosigkeit ausgerechnet durch „Kinder kriegen“ entziehen sollen. Nicht neo-biedermeierlicher Nestbau ist angesagt, sondern radikale Kritik der bürgerlichen Produktions- und Geschlechterverhältnisse.