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erschienen in der Wochenzeitung „Freitag“
am 13.04.2006

Robert Kurz

DER SIEG ALS NIEDERLAGE

Kommunale Tarifabschlüsse und Tendenzen der Entsolidarisierung

Auf kommunaler Ebene sind die öffentlichen Arbeitgeber in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg mit dem Versuch gescheitert, die Wochenarbeitszeit auf das Ostniveau von 40 Stunden heraufzusetzen. Nach 9 Wochen Streikbewegung kam ein schwacher Kompromiss heraus: Die in den vergangenen Monaten zu ungünstigen Sonderkonditionen neu Eingestellten werden in den Tarifvertrag zurückgeholt und müssen eine Stunde weniger arbeiten, dafür das Gros der schon länger Beschäftigten mit bestehenden Verträgen eine halbe Stunde mehr. Die Länder dagegen bleiben hart und verweigern einen Abschluss unter 40 Stunden, in der Hoffnung, dass Verdi die Puste ausgeht. Es ist absehbar, dass sich im öffentlichen Dienst ähnlich wie in den privaten Industrie- und Dienstleistungssektoren die Erosion der Flächentarife fortsetzen wird. Während die Kommunen immer mehr Bereiche in die Privatisierung mit tariflichem Wildwuchs entlassen, werden auf Länderebene Beschäftigte bei Neueinstellungen, Beförderungen, Stellenwechsel oder Verlängerungen befristeter Verträge weiterhin gezwungen, 40 (in Bayern sogar 42) Stunden zu arbeiten und auf Weihnachts- und Urlaubsgeld zu verzichten. Die Länder weigern sich strikt, den seit Oktober 2005 für den Bund und die Kommunen geltenden Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TvöD) zu übernehmen.

Unter dem Strich könnte sich der Teilsieg bei den bisherigen kommunalen Abschlüssen für die Gewerkschaft in eine Niederlage verwandeln. Der Widerstand gegen die Aushöhlung und Verschlechterung der Vertragskonditionen war offensichtlich nicht hinreichend. Ein kurzer, aber einschneidender tatsächlicher Flächenstreik hätte größeren Druck ausgeübt als die über Monate sich hinschleppende Nadelstichtaktik. Aber dafür fehlt nicht nur Verdi zunehmend die Kraft, weil die Erosion der Flächentarife von oben sich verstärkt durch eine Tendenz zur Entsolidarisierung von unten. Die Klinikärzte haben Verdi verlassen, um für sich separat mehr herauszuholen. Nicht die zunehmend miserablen Gesamtbedingungen im Gesundheitswesen sind Thema, sondern die Perspektive, dass eine Anästhesieärztin kaum noch mehr verdient als eine Krankenschwester. Die Integration der Interessen bröckelt. In der FAZ wird gemutmaßt, dass „der Pilotenvereinigung Cockpit oder der Gewerkschaft der Lokführer bald Verbände der Rechenzentren oder Werksfeuerwehren folgen könnten“. Im Metallbereich und anderen Branchen haben Öffnungsklauseln die Tariflandschaft längst in Richtung firmeneigener Abschlüsse verändert. Die allgemeine postmoderne Individualisierung wird ergänzt durch die „neue Tarifwelt“, in der sich die Unterschiede im Einkommens- und Lebensniveau drastisch verschärfen.

In einer zusehends härter werdenden Krisenökonomie gelten die aus den Zeiten der Prosperität überkommenen Solidaritätsvorstellungen und Kampfbedingungen nicht mehr. Der Handelsblatt-Chefredakteur Bernd Ziesemer höhnt, in den Nachhutgefechten um die 38,5-Stundenwoche im öffentlichen Dienst seien die Gewerkschaften dabei, „ihre kulturelle Hegemonie in ihren eigenen Kernschichten zu verspielen“. Ihre „Deutungsmacht im gesellschaftspolitischen Diskurs“ hätten sie längst eingebüßt und es fehle ihnen „jede überwölbende Strategie“. Gemeint ist natürlich das Postulat einer stärkeren Anpassung an die Krisenbedingungen und die staatliche Krisen- und Notstandsverwaltung. Von Resolidarisierung kann keine Rede sein, solange die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in den Gewerkschaften nicht offensiver thematisiert wird, die Anpassung an den parteiübergreifenden neoliberalen Diskurs fortschreitet und eine neue Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit tabu bleibt. Es bringt nichts mehr, den Rahmen der herrschenden Ordnung blind vorauszusetzen und sich darin ein erträgliches Leben ausrechnen zu wollen. Mit dem traditionellen Konzept, die Lebensinteressen an Wachstum und gelingende Realakkumulation zu binden, ist Kampfkraft nicht wiederzugewinnen.