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erschienen in der Wochenzeitung "Freitag"
am 09.06.2006

Robert Kurz

SCHRECKEN OHNE ENDE

Die „Fortentwicklung“ des sozialen Terrors durch schwarzrote Zwangsarbeitspolitik

Nach dem längst festgestellten Desaster von Hartz IV droht auch die Verwaltung des Scheiterns zu scheitern. Trotz ständiger Verschärfung der Leistungskriterien ist die Kostenexplosion nicht einzudämmen: 2005 lagen die Ausgaben mit 25 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch wie geplant, 2006 wird eine weitere Steigerung auf 27 bis 28 Milliarden Euro erwartet. Hartnäckig pflegen Medien, Kapitalverbände und politische Klasse die Fiktion, es gebe „Fehlanreize durch überhöhte Leistungen“ und „Missbrauch“, während die angebliche soziale Hängematte längst zum Nagelbrett für die Betroffenen geworden ist. Je wütender Arbeitsbereitschaft gefordert wird, desto weniger gibt es real Arbeit zu fördern. Die Gegenreformen der staatlichen Arbeitsverwaltung werden vom kapitalistischen Krisenprozess immer schneller eingeholt und überholt. Aber diese auf der Hand liegende Wahrheit muss vom expertokratischen Sachverstand verleugnet und verdrängt werden, weil sie auf die Obsoletheit der geheiligten gesellschaftlichen Systemgrundlagen verweist.

Tatsächlich ist auch in der leichten konjunkturellen Belebung der letzten Monate die Zahl der Langzeitarbeitslosen weiter gestiegen, denn der global defizit-genährte Exportboom bleibt vom Binnenmarkt abgekoppelt. Gleichzeitig setzt sich der Trend zum Abbau der regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze fort. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger nimmt auch deshalb zu, weil immer mehr Firmen bei Neueinstellungen derart niedrige Löhne zahlen, dass diese durch Arbeitslosengeld II ergänzt werden müssen. Der Kombi-Lohn im expandierenden Sektor der „beschäftigten Armut“ ist längst Wirklichkeit. Selbst der nette Vorschlag aus CDU-Kreisen, im kommunalen Dienst zu „Null-Euro-Jobs“ überzugehen, könnte keine statistische Entlastung bringen. Es gibt nicht einmal genug Zwangsarbeitsplätze. Wo sie eingerichtet werden, ersetzen sie reguläre Stellen und erhöhen so die Arbeitslosenzahl.

Die Antwort ist immer gleich einfallslos: neue Kürzungen und Verschärfungen. Der soeben vom Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestags verabschiedete Entwurf für ein „Fortentwicklungsgesetz“ zu Hartz IV, das im August in Kraft treten soll, sieht sogar die Möglichkeit vor, bei „mangelnder Arbeitsbereitschaft“ sämtliche Grundleistungen einschließlich Miete zu streichen. Daran sind vor allem die Kommunen interessiert, die den Hauptteil der Wohnkosten von derzeit 12 Milliarden Euro für Hartz-IV-Bezieher tragen. Dieselbe Sanktion im Sinne einer geplanten Obdachlosigkeit soll bei „unangemeldeter Abwesenheit vom Wohnort“ zwingend gelten. Außerdem will der Bund für die Empfänger von Arbeitslosengeld II nur noch 40 statt bisher 78 Euro an die Rentenversicherung überweisen; ein weiterer Schritt in Richtung künftiger Altersarmut. Und die Kosten für Gas und Strom werden nicht mehr als Teil der Unterkunftskosten gezahlt, sondern sollen aus dem Regelsatz von 345 Euro beglichen werden. Die Folgen sind absehbar: Verschuldung bis zur Stromsperre. Gleichzeitig werden die Behörden angewiesen, flächendeckend Außendienste einzurichten, um die Lebensverhältnisse der Hartz-IV-Abhängigen zu überprüfen. Energischer als bisher soll der „Sachverhalt“ ausgeforscht werden, ob Leistungsbezieher mit einem „Geld verdienenden“ Menschen zusammenleben. Aber diese Ausgeburt von Bürokratenhirnen wird kaum Einsparungen bringen, denn ein Grund für die Kostensteigerung ist auch der Sozialapparat selbst. Mit jedem neuen Einschnitt wächst der kostenträchtige Verwaltungsaufwand. Auch die Spitzel der Sozial-Stasi müssen bezahlt werden, selbst wenn dafür wiederum Hartz-IV-Empfänger herangezogen werden. Die bürokratische Mühle mit ihrer „Kontrolle der Kontrolle“ entfaltet längst eine absurde Eigendynamik; das Kontrollmittel frisst den Einsparungszweck zu erheblichen Teilen auf.

Ergänzt wird das „Fortentwicklungsgesetz“ durch Kürzungen bei den Förderprogrammen für Langzeitarbeitslose. 1,1 Milliarden Euro aus dem so genannten Hartz-IV-Eingliederungstitel sollen mit einer Sperre belegt werden. Betroffen sind neben Qualifizierungsmaßnahmen ausgerechnet die staatlich finanzierten Ein-Euro-Jobs. Für den Herbst sind weitere Revisionen geplant. So sollen die Zuschläge von bis zu 160 Euro pro Monat gestrichen werden, die bislang beim Übergang vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II zwei Jahre lang gezahlt werden. Sogar die weitere Absenkung des erbärmlichen Regelsatzes von 345 Euro monatlich ist im Gespräch.

Was sich „fortentwickelt“, ist allein der soziale Terror gegen die Herausgefallenen. Aber die Politik der Zwangsarbeits-„Förderung“ läuft ins Leere, weil die Expansion des Billiglohn-Sektors unter den Bedingungen der 3. industriellen Revolution begrenzt bleibt und die Kapitalverwertung nicht tragen kann. Die meisten Niedriglohn-Arbeitsplätze existieren nur als staatlich gesponserte pharaonische Pyramidenprojekte, deren Ausweitung auf neue Kostenexplosionen hinausläuft. Mit dem absehbaren Zusammenbruch von Hartz IV wird in der BRD wie in den anderen Industrieländern eine wachsende soziale Lazarus-Schicht entstehen. Alle weiteren restriktiven Arbeitsmarktreformen können nur gesellschaftlichen Sprengstoff anhäufen.