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Robert Kurz

GESCHICHTE ALS APORIE

Vorläufige Thesen zur Auseinandersetzung um die Historizität von Fetischverhältnissen. Erste Folge

Übersicht: 1. Der geschichtstheoretische Ansatz jenseits des traditionellen Marxismus/ 2. Die Problematik des Geschichtsbegriffs als modernes Konstrukt/ 3. Auflösbare und unauflösbare Aporien/ 4. Die radikale Kritik der Moderne kann nicht keine Geschichtstheorie haben/ 5. Abspaltung und Fetisch/ 6. Kapitalismus und Religion/ 7. Zum Begriff der Fetischverhältnisse/ 8. Metaphysik, Transzendenz und Transzendentalität/ 9. Von der Epochengliederung zum Geschichtsrelativismus/ 10. Einschwenken auf den Zerfallsprozess bürgerlicher Geschichtsphilosophie?/ 11. Was heißt es, gegen sich selbst zu denken?/ 12. Geschichtstheoretische Dialektik bei Adorno/ 13. Abspaltungstheoretische Erkenntniskritik und historische Begriffskritik/ 14. Negative Geschichtstheorie und das Programm der Deontologisierung/ 15. Ein neuer Begriff der Einheit von Kontinuität und Diskontinuität/ 16. Affirmative Reproduktionsbegriffe und kritisch-historische Reflexionsbegriffe/ 17. Ontologischer Bruch und „kritischer Überschuss“/ 18. Ungenügen und reaktionär-deutschideologische Gehalte der historischen Hermeneutik/ 19. Ontologische Versteinerung als Rache der Dialektik/ 20. Mögliche Konsequenzen: neo-existentialistischer Gestus, Dezisionismus, neo-grüner Reformismus

1. Der geschichtstheoretische Ansatz jenseits des traditionellen Marxismus

An den Grenzen der bisherigen wert- und abspaltungskritischen Theoriebildung ist eine kontroverse Auseinandersetzung über ungeklärte Fragen der begrifflichen Reflexion jenseits von traditioneller Gesellschaftskritik notwendig geworden. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage des Geschichtsbegriffs oder der Geschichtstheorie. Eine umfassende neue Theorie zur kategorialen Kritik der Moderne muss sich auch der Geschichtlichkeit ihres Gegenstands und damit ihres eigenen Standpunkts stellen. Die ursprüngliche wertkritische Theoriebildung hatte sich zunächst vor allem am Modernisierungs-Paradigma des Marxismus abgearbeitet. Resultat war die Erkenntnis, dass der Arbeiterbewegungsmarxismus und seine Derivate in einem Kontext „nachholender Modernisierung“ angesiedelt waren, also die kategoriale Kritik der Wertvergesellschaftung verfehlen mussten. Diese Erkenntnis bezog sich auf die Binnengeschichte des modernen warenproduzierenden Systems.

Damit eröffnete sich jedoch ein darüber hinausgehender geschichtstheoretischer Horizont. Im Zuge der neuen kategorialen Kritik an den klassenübergreifenden Formen des modernen warenproduzierenden Systems erschien die bisherige Geschichte insgesamt nicht mehr als „Geschichte von Klassenkämpfen“, sondern als „Geschichte von Fetischverhältnissen“. Der Marxsche Begriff des Fetischs, konzipiert für den realmetaphysischen Charakter der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise als spezifischer Waren-, Kapital- und Rechtsfetisch, konnte so als Überwindung der soziologistisch und herrschaftstheoretisch verkürzten marxistischen Geschichtstheorie auf die bisherigen historischen Formationen bezogen werden, ohne außer Acht zu lassen, dass es sich dabei um jeweils ganz verschiedene Fetischverhältnisse gehandelt hat, deren je eigener Charakter erst zu untersuchen wäre.

Der Marxsche Geschichtsmaterialismus (als Umdeutung oder „Umstülpung“, aber auch Verlängerung der Hegelschen Geschichtsmetaphysik) einschließlich des Begriffs einer „Geschichte von Klassenkämpfen“ stellt aus dieser Sicht eigentlich nur eine Transposition der modernen kapitalistischen Konstitution in die Geschichte dar. Eine „Geschichte von Fetischverhältnissen“, so der bisherige Stand der neuen Theoriebildung, wäre etwas anderes: nämlich eine über Marx hinausgehende Kritik der modernen Geschichtsphilosophie, eine Kritik an der Idee eines fortschreitenden, in sich kohärenten und ontologisch verankerten Aufstiegs von historischen Formationen, wie sie seit der späten Aufklärung als „Entwicklungsgeschichte der Menschheit“ dargestellt wird. Dieses geschichtsphilosophische Paradigma entstammt der „epistemischen Wende“ (Foucault) seit Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts, wurde von Hegel systematisiert und von Marx geschichtsmaterialistisch gewendet, ohne dass letzterer den Rahmen jenes damals neuen Paradigmas verlassen hätte.

Adorno, der selber geschichtstheoretisch nicht weitergegangen ist im Sinne einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“, aber die Hegelsche geschlossene Geschichtsmetaphysik durchaus kritisierte, wusste dies schon in seinen Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie von 1964/65. Dort sagt er, dass „...die vorherrschende, offizielle materialistische Geschichtsschreibung, also die mit dem Namen von Marx und seiner gesamten Nachfolge verbundene, durchaus im Bereich der Art Universalgeschichtsschreibung bleibt, der an Hegel sich darstellt und sogar auf diese Einheit der universalhistorischen Konzeption sehr viel sich zugute tut“ (Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt/Main 2001, S. 132).

Foucault verweist in seiner Weise auf diesen Sachverhalt in der „Ordnung der Dinge“, aber er bezieht diese Erkenntnis nicht auf den übergreifenden Durchsetzungsprozess der Wert-Abspaltungsgesellschaft, sondern lässt sie gleichsam in der Luft hängen im Sinne einer bezugslosen, rein kontingenten „Wahrheitsproduktion“ von jeweiligen Diskursen bzw. Interaktionspraktiken oder epistemischen Paradigmen. Es handelt sich dabei um eine Analyse von bloßen „Mechanismen“, die von der gesellschaftlich-historischen Form-Konstitution absieht und deshalb positivistisch verkürzt bleibt. Insofern fällt Foucault wieder hinter Marx zurück, zumindest hinter den „esoterischen“ Marx und dessen Kritik der übergreifenden modernen Warenmetaphysik (für Foucault wie für die postmoderne bzw. poststrukturalistische Theorie überhaupt existiert nur der „exoterische“ Marx, der unter die pejorative Bestimmung des „Ökonomismus“ subsumiert wird).

Aber gleichzeitig trifft Foucault durchaus ein wichtiges Moment, nämlich die Konstruktion der „Geschichte“ als jenen aufsteigenden Entwicklungsprozess, die erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auftaucht, also zugleich mit dem Beginn der Entwicklung des Kapitalismus „auf seinen eigenen Grundlagen“ (Marx) im Kontext der kapitalistischen Industrialisierung. Erst in diesem Kontext vollzieht sich der Übergang von einem naturalen zu einem historischen Zeitbegriff oder die „Denaturalisierung und Verzeitlichung“ (Koselleck) der Geschichte. Es ist wesentlich die Entdeckung der „Arbeit“ als der produktiven Grundlage oder Essenz des Kapitals, die von Ricardo über Hegel bis zu Marx den neuen Begriff der Geschichte hervorbringt: Geschichte nicht als bloße zeitliche Abfolge „der Welt“, sondern als Geschichte von sozialen und geistig-kulturellen Formationen oder (materiellen und ideellen) „Produktionsweisen“ mit teleologischen Zügen. Foucault sieht hier eine neue episteme am Werk, die er derjenigen der bürgerlichen Klassik des 17. und 18. Jahrhunderts gegenüber stellt. Dieser Prozess wäre jedoch im Unterschied zu Foucault zu dechiffrieren als Kontinuum einer Durchsetzung der Wertform (mit der geschlechtlich konnotierten Abspaltung als unreflektierter Rückseite), die von einem bestimmten Entwicklungsgrad an einen solchen Geschichtsbegriff erzwingt, der als Aufstiegs- und Fortschrittsmetaphysik eine affirmative Teleologie der abstrakten Arbeit enthält.

Der neue kritische Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ entspricht daher der Kritik am universalistischen Begriff der „Arbeit“ und ist mit der neuen Kapitalismuskritik der Wert-Abspaltungstheorie verbunden. Eine geschichtstheoretische Reflexion in diesem Sinne gehört notwendig zum wert-abspaltungskritischen Gesamtprogramm, weil diese umfassende neue Gesellschaftskritik jenseits des Arbeiterbewegungsmarxismus auch einer theoretischen Fundierung gegenüber dem traditionellen Geschichtsmaterialismus, also auch einer eigenen Geschichtstheorie bedarf. Dabei ist (wie auch in jeder anderen Hinsicht) gleichzeitig eine Kritik des postmodernen theoretischen Abrüstungs- und Auflösungsprogramms erforderlich. Ein geschichtstheoretisches Hinausgehen über Marx impliziert deshalb ebenso eine Kritik an Foucaults Enthistorisierung und gewissermaßen Atomisierung der Geschichte, in der die Fetisch-Formationen und deren jeweilige innere Kohärenz verschwinden (vgl. dazu den Text „Die Substanz des Kapitals“, erster Teil, Exit 1, S. 44-49, insbesondere S. 46) und darüber hinaus jeder geschichtstheoretische Begriff grundsätzlich negiert wird.

Das heißt nicht, dass damit Foucaults Reflexion und das von ihm gehobene Material in Bausch und Bogen verworfen werden sollen; ganz im Gegenteil. Es geht vielmehr darum, die gegen den aufklärerischen geschichtsphilosophischen Universalismus und vor allem gegen die darin enthaltene Teleologie gerichteten Gehalte bei Foucault (dessen Theorie im Unterschied zu anderen sogenannten poststrukturalistischen Positionen nicht im Postmodernismus aufgeht) in das neue wert-abspaltungstheoretische Kritikfeld zu integrieren, das den „anderen“ wert- und fetischkritischen Marx als eine zentrale Referenz hat, über diesen aber ebenso hinausgeht. Das gilt gerade für die abspaltungskritische Reflexion, deren erkenntniskritischer Gehalt auch hinsichtlich der Geschichtstheorie für eine Überwindung des traditionellen universalistisch-teleologischen Geschichtsmaterialismus geltend zu machen wäre. Es kommt nun aber darauf an, hier eine genaue Unterscheidung zu treffen und von Foucault nicht ausgerechnet das zu übernehmen, was bloß dem postmodernen affirmativen Abrüstungsprogramm zugehört, dessen Geheimgeschichte in Adaptionen der philosophisch elaborierten „deutschen Ideologie“ auf der Linie Nietzsches und Heideggers besteht; ganz ähnlich wie von Marx nicht ausgerechnet das zu übernehmen ist, was bloß dem „exoterischen“ Arbeiterbewegungs-Marxismus und dessen positivistischem Verständnis im Kontext „nachholender Modernisierung“ entspricht.

2. Die Problematik des Geschichtsbegriffs als modernes Konstrukt

An diesem Punkt setzt nun eine Gegenargumentation ein, die bereits die ganze Fragestellung zu desavouieren meint. In seinem Artikel „Die Leute der Geschichte“ (Exit 3) hat Gerold Wallner, dies sei als sein Resümee vorweggenommen, den Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ kritisiert und verworfen, bevor dieser überhaupt genauer ausgeführt und gegen den klassischen Geschichtsmaterialismus in Stellung gebracht werden konnte. Vehikel für diesen Versuch einer Abservierung ist zunächst eine Erörterung über den Geschichtsbegriff als solchen, wobei Wallner für sich in Anspruch nimmt, „zu überprüfen, ob das Instrumentarium, das im Zuge der Entwicklung von Wert-, Fetisch- und Abspaltungskritik vorgelegt wurde, auch für eine historische Sicht taugt“ (Exit 3, S. 22).

Hier liegt schon eine begriffliche Unschärfe vor, auf die noch zurückzukommen sein wird, denn das Wert- und Abspaltungsverhältnis wurde von Anfang an in unserer Theoriebildung als das historisch-spezifische Fetischverhältnis der Moderne bestimmt, während allein der Begriff des „Fetischverhältnisses überhaupt“ als für eine historische Sicht tauglich erschien. Wallner verwechselt hier zwei verschiedene Abstraktionsebenen, indem er zumindest den Begriff des (per definitionem nur der Moderne zugehörigen) Abspaltungsverhältnisses und den (geschichtstheoretisch reformulierbaren) Fetischbegriff auf einen Nenner bringt. Damit hat er in gewisser Weise das Ergebnis seiner Überprüfung implizit bereits unzulässig vorweggenommen. Denn diese Vermengung verschiedener Abstraktionsebenen ermöglicht ihm, den Fetischbegriff eher suggestiv als theoretisch ausgewiesen der spezifisch-historischen Konstitution der Moderne zu subsumieren und den Versuch, ihn für eine historische Sicht tauglich zu machen, letztlich der Geschichtsmetaphysik im Gefolge Hegels und des „historischen Materialismus“ zuzuschlagen, ohne die Differenz des Begriffs einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ zu dieser klassisch-modernen Geschichtsmetaphysik überhaupt noch reflektieren zu müssen (vgl. dazu die Argumentation in dem Essay „Negative Ontologie“, in: Blutige Vernunft, Bad Honnef 2004, S. 76-79).

Wallner stützt sein Unterfangen hauptsächlich durch den Verweis darauf, dass der Begriff einer „Geschichte überhaupt“ (in der klassisch-modernen geschichtsphilosophischen Terminologie der Begriff von „Universalgeschichte“) selber ein modernes Konstrukt darstellt. „Historizität“ als solche, die es in vormodernen Konstitutionen so nicht gab, werde vorausgesetzt, „ohne ihre Herkunft aus einer völlig neuen Denkform zu begreifen. Selbst die Tatsache von Geschichtlichkeit wurde nicht mehr als Errungenschaft des Denkens der Aufklärung erkannt, sondern war bald schon selbst Gegenstand einer bis heute andauernden Debatte darum, welche gesetzmäßige Form die Geschichte der Welt anzunehmen habe...“ (Exit 3, S. 21).

Nun ist die schlechthinnige „Tatsache von Geschichtlichkeit“ nicht in einem absoluten Sinne allein der Moderne seit der Aufklärung zugehörig. Die Zeitlichkeit der Verhältnisse als Historie, nicht bloß als zeitliche Abfolge, war auch in den vormodernen Konstitutionen in gewisser Weise bewusst, wenn auch eben nicht im modernen Verständnis. Schon die Antike hatte ihr eigenes „Altertum“, das sich in mythischen Ursprüngen verlor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die schriftliche Tradierung hier einen erst relativ kurzen Zeitraum umfasste, der keine weitreichende Vergleichung, Unterscheidung und Epochengliederung ermöglichte. Das Problem besteht also auch in der Reichweite des Rückblicks auf schriftlich und damit nachprüfbar dokumentierte Vergangenheiten, die mit fortschreitender Geschichtszeit größer wird, nicht allein und absolut in der selbstverständlich bestimmenden Spezifität des jeweiligen Geschichtsverständnisses. Dabei ist in den vormodernen Konstitutionen Historizität auch keineswegs unmittelbar „material“ im mythologischen oder empirischen Sinne, sondern enthält Allgemeinheitsmomente, aber eben ganz andere als im Aufklärungsdenken. Schon der Mythos vom goldenen, silbernen und eisernen Zeitalter, wie ihn Hesiod überliefert, enthält den allgemeinen Begriff eines geschichtlichen Abstiegs, auch wenn dies gerade keinem universalistischen Geschichtsbegriff nach modernem Muster entspricht. Auch die geschichtstheoretische Analogie zwischen dem Wachstums- und Alterungsprozess einzelner Individuen und dem Aufstieg und Niedergang von Kulturen erscheint bereits in der Antike und ist mit einem zyklischen Geschichtsverständnis verbunden, das der zyklischen „agrarischen Zeit“ entspricht. Schon hier wird sichtbar, dass Wallner eine „Verabsolutierung der Differenz“ anstrebt und „Historizität schlechthin“ allein der Moderne zuschreibt, statt die Differenz der „Historizitäten“ in den verschiedenen Epochen zu untersuchen.

Indem Wallner nun hinsichtlich einer „Überprüfung der Tauglichkeit für eine historische Sicht“ auf derselben Abstraktionsebene die Begriffe von Abspaltung und Fetisch als „Kriterien, nach denen eine...Rückschau vorgenommen wird“ (Exit 3, S. 22), benennt, zeigt er sogleich, „dass unsere Rückschau, die wiederum zu einer Epochengliederung führen wird, sich ja auch dem Blickpunkt einer Moderne verdankt, die historisches Sehen zu ihrer Existenzweise gemacht hat, wovon wir nicht frei sind“ (Exit 3, S. 22). Hier wird noch deutlicher, dass das Ergebnis der angeblichen „Überprüfung“ bereits in den Prämissen enthalten ist. Der Verweis auf den „Blickpunkt der Moderne“ als Kriterium soll das Konzept einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ desavouieren, bevor die „Überprüfung“ überhaupt begonnen hat. Wie noch genauer zu zeigen sein wird, folgt aus diesem Konzept übrigens keineswegs eine „Epochengliederung“ nach dem traditionellen aufklärerischen Muster; dies ist eine Wallnersche Unterstellung, und seine „Überprüfung“, die ohnehin bereits das Verwerfen des Begriffs zum Ausgangspunkt hat, arbeitet so mit einem selbstgebastelten Popanz. Dieser Sachverhalt lässt ahnen, dass das Abservieren des Begriffs einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ apriorische Absicht war, vorgefasste Meinung aus vortheoretischen Motiven, und die „Überprüfung“ nur noch nachgelieferte Legitimation.

Dass unser „historisches Sehen“ mit modernen Augen stattfindet, ist so wahr wie banal. Diese Einsicht ist außerdem so alt wie die moderne Geschichtsphilosophie selbst; sie tauchte schon ansatzweise im Aufklärungsdenken auf und gehört seit dem 19. Jahrhundert zum festen Bestand historischen Denkens. Darauf wurde in der wert-abspaltungskritischen Theorie bereits aufmerksam gemacht (in: Blutige Vernunft, a.a.O., S. 77 f.). Das betrifft auch den Begriff der Geschichte als solchen. Den „Kollektivsingular Geschichte“ (Koselleck) gibt es erst seit dem 18. Jahrhundert. Koselleck prägte diesen kennzeichnenden Begriff vor mehr als 30 Jahren, und es hätte Wallner gut angestanden, sich solcher Referenzen zu versichern, statt scheinbar voraussetzungslos und „entdeckerisch“ drauflos zu räsonieren. Fest steht jedenfalls: Wir befinden uns immer schon im Kontext des modernen Geschichtsbegriffs (selbst noch bei dessen Negation); und wir können nicht aus unserem historischen Standort hinausspringen, wir können die Vergangenheit nicht mit den Augen der vergangenen Menschen betrachten (und natürlich auch nicht der künftigen).

Wollte Gerold Wallner das „historische Sehen“ als solches destruieren, indem er es als Produkt der vom Wert-Abspaltungsverhältnis konstituierten „völlig neuen Denkform“ deklariert, so müsste er eine theoretische Vermittlung leisten und den inneren Zusammenhang dieser Denkform und des „historischen Sehens“ überhaupt darstellen. Das tut er aber nicht. Aus der bloßen Deklaration eines solchen Zusammenhangs aber würde unmittelbar nur der völlige Verzicht auf historisches Denken folgen, zumindest der Verzicht auf eine Beschäftigung mit vormodernen Verhältnissen. Darauf verzichtet Wallner aber nicht; ganz im Gegenteil, er bemüht sich um historische Reflexionen unter Einschluss der vormodernen Sozietäten. Wenn er also sagt, dass „die Leute der Geschichte“ immer nur von sich selbst erzählen, mithin auch wir, und wenn er dazu auffordert, dessen „eingedenk (zu) sein, dass Geschichte nur eine Erzählung von uns Modernen ist und daher die begriffliche Verdoppelung der Moderne mitgemacht hat“ (Exit 3, S. 61), – dann ist dies erstens alles andere als ein neuer Gedanke, und zweitens gilt es für jede historische Untersuchung und jede geschichtstheoretische Reflexion, auch für Wallners eigene. Mit seiner Feststellung hat er keinen Millimeter Distinktion gegenüber dem Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ gewonnen, der die Reflexion auf seinen eigenen historisch-spezifischen Ort immer schon mitenthält.

Es ist also unzulässig, diesen geschichtstheoretischen Begriff damit erledigen zu wollen, dass er dem spezifisch modernen Blick und dem modernen Geschichtsbegriff geschuldet sei; denn jede geschichtstheoretische Alternative, welcher Art auch immer, fällt per se unter dasselbe Verdikt. Wallner kann nicht so tun, als hätte er einen Standpunkt der historischen Reflexion, der diesem Problem entgeht. Insofern ist seine bis jetzt referierte Argumentation, soweit sie den Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ aus den Angeln heben soll, nicht mehr als ein Taschenspielertrick. In Wirklichkeit kann es nur um einen Streit über die Geschichtstheorie innerhalb des Blickwinkels gehen, der uns durch unseren historischen Standort unabdingbar aufgenötigt ist.

Hier nun wird eine weitere Einsicht virulent, die in der geschichtstheoretischen Debatte auch schon rund 150 Jahre alt ist (mindestens seit Droysen), nämlich dass Geschichte, wie auch immer verstanden, kein bloß objektives, quasi-naturwissenschaftlich dingfest zu machendes Faktum ist, sondern abhängig von der Wahrnehmungsweise und der Perspektive der jeweiligen HistorikerInnen und GeschichtstheoretikerInnen. Geschichte oder geschichtstheoretische Reflexion ist also stets auch eine Frage der Deutung, Wertung und Interpretation, somit des „erkenntnisleitenden Interesses“. In dieses gehen nicht nur die historischen Standorte schlechthin ein, sondern auch die jeweiligen zeitgenössischen Auseinandersetzungen und damit auch die (gegensätzlichen) „Erwartungen an die Zukunft“ (Koselleck). „Geschichte“ ist also immer auch ein von aktuellen Kämpfen und Gegensätzen geprägtes Konstrukt; allerdings kein Konstrukt schlechthin, kein beliebiges, sondern eines, das sich der vorliegenden historischen Faktizität versichern und die eigene Bedingtheit selbstreflexiv einbeziehen muss. Wenn Wallner nun sagt: „Das Instrumentarium, mit dem wir unsere eigenen Zustände kritisieren, ist auf diese Zustände ausgerichtet, aus ihnen entwickelt, beschreibt sie und trachtet danach, sie zu zerstören“ (Exit 3, S. 61), so benennt er damit nur unser „erkenntnisleitendes Interesse“, mit dem wir auch (und dieses Interesse immer mitreflektierend) an die historischen und geschichtstheoretischen Fragen herangehen: nämlich die radikale Kritik der bestehenden Wert-Abspaltungsverhältnisse.

Diese Feststellung ist also erst recht kein Argument gegen den Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“, sondern sie gilt ebenso für Wallner selbst und seine anvisierte „andere“ Deutung der Geschichte, eben weil er auch selber nicht auf den historischen Blick verzichten kann. Die Frage der Deutung oder Wertung von Geschichte im Sinne radikaler Kritik unserer Verhältnisse, aus dem Blickwinkel der fundamentalen Krise von Wert und Abspaltung im 21. Jahrhundert, bildet also gerade das Kriterium, ob die geschichtstheoretische Reflexion genau diesem „erkenntnisleitenden Interesse“ entspricht. Dabei hat nicht nur das historische Material sein Eigengewicht, sondern Geschichtstheorie geht auch zwangsläufig immer auf eine Meta-Ebene, indem die differenten historischen Konstitutionen in eine Beziehung gesetzt werden, in welche auch immer. Auch die bereits angeklungene Wallnersche Verabsolutierung der Differenz zwischen vormodernen und modernen Verhältnissen ist selber eine Meta-Reflexion aus heutiger Sicht. Die „Überprüfung“, die ansteht, ist daher eine andere, als Wallner sie vorgibt; nämlich die Untersuchung, inwieweit der Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ einerseits und Wallners diesem Begriff entgegengesetzter geschichtstheoretischer Zugang andererseits jeweils dem heutigen kritischen Interesse Genüge tun und dem historischen Material dabei in einer adäquaten Weise beikommen können oder nicht – beiderseits gleichermaßen unausweichlich die Geschichte nicht nur mit modernen Augen betrachtend, sondern auch innerhalb der Moderne mit dem spezifischen Blickwinkel der heutigen Krisensituation (dies muss in Wirklichkeit nicht erst „überprüft“ werden, sondern ist immer schon mitzudenkende Voraussetzung).

3. Auflösbare und unauflösbare Aporien

Die Reflexion auf den unabdingbaren spezifisch-historischen Standort, also dessen geschichtliche Relativität, und ebenso auf den innerhalb dieses Standorts interessengeleiteten Charakter von historischer Untersuchung und Geschichtstheorie, wie sie seit langem schon geleistet wurde, impliziert natürlich grundsätzlich, dass keinerlei theoretischer Zugriff den vergangenen, vormodernen Sozietäten und deren Konstitutionen jemals wirklich „gerecht“ werden kann. Das heißt nicht, um es noch einmal zu betonen, dass damit ein Freibrief ausgestellt wäre, eine beliebige und willkürliche Annäherung zu unternehmen. Das historische Material hat seine sperrige Eigenqualität, die nicht missachtet oder gewaltsam nach Maßgabe des eigenen Interesses gemodelt werden darf. Es verbietet sich also ein bloß deduktives, ontologisches, ableitungs- und identitätslogisches Vorgehen. Der Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ enthält ja gerade, wie ich bereits angedeutet habe und wie noch genauer zu zeigen sein wird, eine Kritik an diesem Vorgehen der klassischen modernen Geschichtsphilosophie. Da Wallner diese Differenz indirekt einzuebnen trachtet, ohne sich mit ihr überhaupt zu befassen, entgeht ihm, dass er eine Aporie aufmacht, der er selbst keinesfalls entgehen kann, und die kein Argument gegen den theoretischen Ansatz einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ ist.

Sobald wir nämlich das historische Binnen-Kontinuum der Durchsetzung von Wertform und Abspaltung verlassen und uns auf die Geschichte insgesamt oder auf bestimmte vormoderne Formationen beziehen, muss der theoretische Begriff zwangsläufig aporetisch werden, weil er einerseits unausweichlich den modernen Verhältnissen bzw. in unserem Fall deren radikaler Kritik entstammt, andererseits aber an diesen Verhältnissen „fremde“ Gegenstände herangetragen wird. Anders geht es nicht. Nur so kann der Geschichtsbegriff transformiert werden als Teilmoment einer Bewegung von der Immanenz zur Transzendenz, die (nicht nur geschichtstheoretisch) solche Aporien hervorbringt. Die radikale Kritik impliziert zusammen mit einer Transzendierung der bestehenden Wert-Abspaltungsverhältnisse auch eine Transzendierung des Geschichtsverständnisses, die der anvisierten gesellschaftlichen Umwälzung entspricht. In diesem Bruch sind immer Kontinuitätsmomente enthalten, und dazu gehört auch diese Aporie des geschichtstheoretischen Denkens. Wir brauchen gar nicht erst zu versuchen, den vormodernen Konstitutionen „völlig gerecht“ zu werden im Sinne ihrer totalen gedanklichen Erfassung und deckungsgleichen theoretischen Reproduktion, weil die Beschäftigung damit immer schon Bestandteil der Kritik an unseren eigenen Verhältnissen ist und damit eben aporetisch. Es kann nur darum gehen, das historische Material ernst zu nehmen in seiner Eigenlogik, ohne deswegen auf den geschichtstheoretischen Begriff zu verzichten.

Dabei wäre eine Unterscheidung zu machen von auflösbaren und in gewisser Weise unauflösbaren Aporien, wobei erstere sich auf unsere modern-kapitalistische Konstitutions- und Binnengeschichte, letztere auf einen weiter gehenden geschichtstheoretischen Zugang beziehen. Bei Adorno etwa existiert (innerhalb der Analyse der modernen Gesellschaft selbst) die Aporie, dass er einerseits die Zirkulationssphäre und das Zirkulationssubjekt qua „Tauschabstraktion“ zur Ursache des identitätslogischen Übels erklärt, andererseits aber eben diese Ebene zum Hebel der Emanzipation machen will. Diese Aporie ist auflösbar, indem das Reproduktionsverhältnis von abstrakter Arbeit und Abspaltung als Ganzes in den Blick genommen und damit die Zirkulationssphäre ihres universalistischen Heiligenscheins entkleidet wird. Dazu war Adorno noch nicht in der Lage, weil er trotz seiner Kritik des Arbeiterbewegungsmarxismus der Arbeits- und Abspaltungsontologie verhaftet geblieben ist. Erst mit der Wert-, Arbeits- und Abspaltungskritik wird die Adornosche Aporie auflösbar.

Nicht nur mit dem Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“, sondern auch mit jedem anderen geschichtstheoretischen Zugang befinden wir uns nun in einer Aporie, die in dieser Weise nicht auflösbar ist, weil wir kein entsprechendes korrigierendes Kriterium entwickeln können. Nicht einmal durch eine Zeitreise wäre dieser Abgrund ganz zu überbrücken, denn wir kämen in der Vergangenheit stets als die modern konstituierten Individuen an, die wir sind. Und das gilt auch für die zukünftigen Menschen einer vom Wert-Abspaltungsverhältnis befreiten Welt. Wallner stellt bezeichnenderweise keine systematische Reflexion über diese unauflösbare Aporie an, weil er sie im Ungefähren lassen muss, um sie allein dem Begriff einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ anhängen und diesen damit vermeintlich desavouieren zu können. Er selbst möchte sich dieser unauflösbaren Aporie entziehen, ihr ausweichen und sie umgehen; zumindest tut er so. Daran kann er nur scheitern. Ich plädiere demgegenüber dafür, sich dieser Aporie bewusst zu stellen, sie „anzunehmen“ und reflexiv damit zu operieren.

4. Die radikale Kritik der Moderne kann nicht keine Geschichtstheorie haben

Es könnte nun, wie schon kurz angedeutet, die Frage gestellt werden, ob die radikale Wertkritik und Abspaltungskritik überhaupt eine Geschichtstheorie braucht; ob sie nicht gänzlich darauf verzichten sollte, sich mit vormodernen Verhältnissen zu beschäftigen. Wallner sagt zwar in der Nachschrift zu seinem Artikel ( Wie es mit den Leuten der Geschichte weitergeht) im Ton des Vorwurfs, „...dass wir das Vergangene seiner damaligen Substanz berauben: wir lassen es nicht ruinös ruhen, sondern bringen noch sein damaliges Leben zum Absterben, um es dann – als tote Hülle historischer Existenz – auf uns legitimatorisch zu beziehen“ (a.a.O., S. 3). Es ist aber nicht ganz klar, ob dies bloß ein Vorwurf an die Adresse des eilfertig verworfenen Konzepts einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ sein soll oder auch ein impliziter Selbstvorwurf, denn wie schon gesagt leistet Wallner jenen Verzicht selber nicht, ebenso wenig wie andere AutorInnen (Jörg Ulrich und Petra Haarmann) mit derselben theoretischen Tendenz; in Wallners wie in deren bislang wenigen Texten mit historischen bzw. geschichtstheoretischen Reflexionen wimmelt es nur so von Bezügen auf vormoderne Sozietäten, die fast überproportionalen Raum einnehmen, als wären sie dort mehr zu Hause als in der krisengeschüttelten Gegenwart. Wie nun Wallner keine systematische, theoretische Referenzen einbeziehende Reflexion über das genannte Problem des aporetischen Charakters jeglicher geschichtstheoretischen und/oder überhaupt auf vormoderne Verhältnisse bezogenen Begrifflichkeit anstellt, so lässt er auch die Frage des Verzichts oder Nicht-Verzichts auf eine Beschäftigung mit diesen vormodernen Verhältnissen im Ungefähren, um die LeserInnen wie von selbst darauf zu lenken, dass dies allein das Legitimationsproblem des Begriffs einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ sei und nicht gleichermaßen sein eigenes.

Wie steht es nun also mit der Rechtfertigung der Notwendigkeit einer neuen, in gewisser und ebenfalls neuen Weise auch auf die vormodernen Formationen bezogenen Geschichtstheorie im Kontext unserer Kritik der heutigen krisenhaften Wert-Abspaltungsverhältnisse, und stets eingedenk jener unauflösbaren Aporie? Diese Rechtfertigung lässt sich unter zwei Gesichtspunkten leisten. Zum einen bedarf die theoretische Durchdringung des modernen warenproduzierenden Systems/Patriarchats und seiner Entwicklung einer historischen Tiefendimension, die hinter diese modernen Verhältnisse zurückreicht. Denn die Moderne ist ja nicht an einem historischen Nullpunkt als eine Art creatio ex nihilo entstanden, sondern sie wurzelt selbst in vormodernen agrarischen Sozietäten, hat in deren innerer Entwicklung gewisse Vorbedingungen, ist aus einem Transformationsprozess heraus geboren worden. Für ein theoretisch-kritisches Verständnis der Moderne bedarf es also auch eines gewissen, wenn auch notwendigerweise unzulänglichen Begriffs zumindest derjenigen vormodernen Verhältnisse, aus denen heraus sich die Anfänge der Wert-Abspaltungsgesellschaft entwickelt haben bzw. auf die sie in irgendeiner Weise zurückgreift (europäische Antike und europäisches Mittelalter). Der Begriff einer Sache beruht immer auch auf der Distinktion zu anderen Sachen (Kriterium der Unterscheidung) und kann nie allein aus dieser Sache für sich entfaltet werden; so wie man – um etwas grobe Analogien zu bemühen – das biologische Leben nicht ohne die physikalische Materie, den Hund nicht ohne den Wolf oder die Industrialisierung nicht ohne die Manufaktur erklären kann. Hier zeigt sich übrigens wieder die zwingende Notwendigkeit einer dialektischen Einheit von Kontinuität und Bruch/Diskontinuität in allen zeitlichen Verhältnissen.

Zum andern geht es aber nicht bloß um die Transformation von bestimmten (europäischen) vormodernen Sozietäten zur modernen Gesellschaft. Vielmehr hat die Moderne auch erstmals eine Weltgesellschaft hergestellt, kulminierend in der heutigen krisenhaften Globalisierung. Diese Weltgesellschaft erweist sich als eine negative, entwickelt aus der und in der negativen Vergesellschaftung des warenproduzierenden Patriarchats. Deshalb kann sie auch nicht positiv im Sinne der Fortschritts-Metaphysik klassischer Geschichtsphilosophie (wozu auch noch die Marxsche Vorstellung von der angeblichen „zivilisatorischen Mission“ des Kapitals zählt) verstanden werden, sondern nur als Quantensprung innerhalb einer negativen Leidensgeschichte (vgl. dazu den Text „Negative Ontologie“, in: Blutige Vernunft, a.a.O., S. 82-84).

„Weltgesellschaft“ bedeutet in gewisser Weise aber auch „Weltgeschichte“ oder „Universalgeschichte“, weil sich eine planetarisch gewordene Menschheit ihres negativ konstituierten Gesamtzusammenhangs nicht nur in der räumlichen, sondern auch in der zeitlichen Dimension versichern muss. Die Weltgesellschaft ist das Resultat eines, wenn auch in sich gebrochenen, diskontinuierlichen und erst in jenem selber kontingenten Resultat sich erweisenden Gesamtprozesses (das Kontinuum ist selber kontingent, ein produziertes, kein naturhaften Gesetzmäßigkeiten folgendes); eines Gesamtprozesses also, der keine positive „Höherentwicklung“ darstellt, aber gleichwohl an diese Schwelle geführt hat. Die Kritik etwa des „Eurozentrismus“ bildet ein Moment dieser hergestellten Weltgesellschaft bzw. Weltgeschichte und muss auch geschichtstheoretisch reformuliert werden.

Der Kapitalismus, das moderne warenproduzierende Patriarchat, kann diese durch ihn hindurch negativ hergestellte planetarische Vergesellschaftung nicht in seinen Formzusammenhang integrieren und in diesem erhalten, aber im Sinne einer Befreiung vom modernen Fetischverhältnis kann es kein Zurück hinter die Weltgesellschaft und damit auch kein Zurück hinter die Weltgeschichte geben. Geschichte war nicht schon immer Weltgeschichte, sie ist es aber geworden; und zwar in einem kontingenten, nicht in einem teleologischen Prozess. Diese Kontingenz gilt es aufzunehmen, aber ohne das Resultat zu negieren, von dem aus die vormodernen Sozietäten nun zu Momenten eines Gesamtprozesses erst geworden sind. Die Vergangenheit ist nicht einfach platt ruinös und sonst nichts, sondern immer schon lebendiger Teil jenes unabgeschlossenen Gesamtprozesses, in dem nicht nur die Vergangenheit die Zukunft, sondern auch die Zukunft die Vergangenheit mitbestimmt.

Das universalgeschichtliche Moment ist also nicht zu hintergehen, es muss ebenso transformiert werden wie die Reproduktion der Weltgesellschaft und dabei die Aporie seiner Begrifflichkeit wie die Negativität seiner Konstitution selbstreflexiv in sich aufnehmen. Wenn wir als „Leute der Geschichte“ immer schon „von uns“ reden, tun wir dies gerade als weltgesellschaftlich und damit welthistorisch bedingte „Leute“. Wir können nicht zurück zur räumlichen und zeitlichen Partikularität der Vergangenheit, wie wir nicht zurück können zur agrarischen materiellen Reproduktion; deshalb hat ja auch die wert- und abspaltungskritische Theorie stets jegliche Agrarromantik und verwandte reaktionäre Denkmuster scharf kritisiert. Mit anderen Worten: Die radikale Kritik von Wertvergesellschaftung und geschlechtlicher Abspaltung kann nicht keine Geschichtstheorie haben, gerade wenn und weil sie nicht an die bürgerliche Geschichtsphilosophie und deren identitätslogischen, teleologischen und apologetischen Kontinuitätsbegriff anschließen will.

5. Abspaltung und Fetisch

Wenden wir uns nun genauer der angeblichen „Überprüfung“ des Konzepts einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ durch Gerold Wallner zu. Wie schon erwähnt, koppelt er den Begriff der Abspaltung völlig unausgewiesen an die Abstraktionsebene des Begriffs von Fetischverhältnissen als solchen an, obwohl die Abspaltung in ihrer geschlechtlichen Konnotation von Anfang an allein auf das Wertverhältnis der Moderne bezogen war. Wert und geschlechtliche Abspaltung sind die zwei Seiten derselben Medaille; sie bilden die in sich gebrochene Totalität des modernen warenproduzierenden Patriarchats und nichts sonst. Wallner tut nun so, als wäre die geschichtstheoretische Reformulierung des Fetischbegriffs per se identisch mit einer geschichtstheoretischen Reformulierung des Abspaltungsbegriffs, womit er dessen Bestimmung ins Gesicht schlägt. Er vollzieht diese Transposition des Abspaltungsbegriffs auf eine andere, falsche Abstraktionsebene sogar ziemlich offen. So sagt er: „Roswitha Scholz (2000) hat die Frage gestellt und beantwortet, was denn nun mit jenen Bereichen geschehe, die im Fetisch nicht aufgehen. Diese Frage wird gestellt im Hinblick auf den Fetisch Wert...Doch Roswitha Scholz beharrt zu Recht darauf, dass die soziale Stellung der Frauen etwa im Mittelalter eine gesellschaftlich andere war, eben weil sie nicht durch die Wertabspaltung geprägt wurde“ (Exit 3, S. 26 f.).

Wallner behauptet also, Roswitha Scholz habe den Abspaltungsbegriff aus der Frage entwickelt, welche „Bereiche“ im Fetisch nicht aufgehen würden. Schon diese Formulierung ist grundfalsch, weil die Abspaltung eben keine abgrenzbaren „Bereiche“ bezeichnet, sondern ein durch alle „Bereiche“ hindurchgehendes Verhältnis ist. Hier haben wir es mit einem alten, von Roswitha Scholz und anderen Wert-AbspaltungstheoretikerInnen oft kritisierten Missverständnis zu tun, bei dem die Abspaltung unter die „Sphärentrennung“ im Kapitalismus subsumiert und damit ableitungslogisch gedacht wird. Zugleich gibt Wallner zu, dass Roswitha Scholz genau diese von ihm unterstellte Frage gar nicht gestellt hat, sondern eine andere, nämlich was im Wert nicht aufgeht. Wallners ableitungslogisches Missverständnis setzt sich hier fort, denn nicht der Wert allein und für sich ist der Fetisch, von dem etwas abgespalten wird, sondern Wert und Abspaltung zusammen bilden als Wert-Abspaltungsverhältnis das spezifisch moderne Fetischverhältnis. Wallners Lesart ist selber noch eine androzentrisch-universalistische, indem er den Wert als Fetisch zum „Eigentlichen“ und Übergreifenden macht, während die Abspaltung als bloß sekundäres Moment erscheint.

Zum andern aber ist dieses Wert-Abspaltungsverhältnis der bisher entwickelten Bestimmung nach eben ein spezifisch-historisches Fetischverhältnis, und nur in diesem gibt es die geschlechtliche Abspaltung als durchgehendes Wesens- und Totalitätsmoment; daher auch der Verweis der Autorin auf die andere soziale Stellung der Frau im sogenannten Mittelalter. Hier wird wieder deutlich, dass das Resultat von Wallners angeblicher „Überprüfung“ schon in den Prämissen enthalten ist; er setzt bereits voraus, dass es nur den Wert als Fetischverhältnis gibt (und die geschlechtliche Abspaltung als bloßes Anhängsel), also auch der noch dazu androzentrisch-universalistisch verkürzte Fetischbegriff als solcher nur für die Moderne gelten soll.

Mit dieser Voraussetzung als vorgefasster Meinung im Kopf glaubt er sich nun berechtigt, bei seiner „Überprüfung“ Fetisch und Abspaltung als Gesamtverhältnis, das angeblich dem Konzept einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ zufolge stets gemeinsam auftreten müsse (allerdings der Fetisch voran, die jeweilige Abspaltung respektvoll hinterher), in vormodernen Sozietäten suchen zu wollen; eine Suche, bei der nicht oder nur falsch fündig werden zu müssen er eigentlich schon weiß: „Und hier, bei dieser Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Bruch, setzt nun unser Abriss vormoderner Gesellschaftlichkeiten ein. Wir stellen uns die Frage, was es mit deren Verfasstheiten auf sich hat: Waren sie ebenso wie unsere durch Fetischverhältnisse geordnet und bewegt? Wenn ja, treten diese Fetische ebenso ineins mit ihrer zugehörigen Abspaltung auf? Wenn wiederum ja, können wir rechtens aber unsere Begriffe von Fetisch und Abspaltung auf vergangene Zeiten anwenden oder sind diese Begriffe nicht dadurch definiert, dass sie aus unseren gesellschaftlichen Verhältnissen heraus entstanden sind und nur für diese gelten?“ (Exit 3, S. 27).

Die Fragen sind nur noch rhetorische, denn so gestellt liefern sie die Antwort schon mit. Und indem er von möglichen „Fetischen und ihrer zugehörigen Abspaltung“ spricht, nimmt Wallner eben seine androzentrisch-universalistische Sichtweise gleich in die Geschichte mit, verlängert sie historisch nach hinten. Auch für die vormodernen Sozietäten soll bei der Suche, die gar keine ist, der jeweilige Fetisch als das „Eigentliche“ und Übergreifende vorausgesetzt werden, an dem dann noch irgendeine „Abspaltung“ dranhängt. Er missversteht die Abspaltung also doppelt, indem er sie selber androzentrisch-universalistisch bzw. ableitungslogisch denkt und gleichzeitig dem Konzept einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ unterstellt, es impliziere per se eine der Moderne analoge „Abspaltung“ irgendeiner Art stets auch in vormodernen Sozietäten, in denen sie dann „gesucht“ werden müsse.

Nachdem Wallner eine „Epocheneinteilung“ in magisches Zeitalter, religiöses Zeitalter und Moderne (Wert) vorgenommen hat, auf die noch zurückzukommen sein wird, „sucht“ er also die derart doppelt missverstandene Abspaltung zuerst in der Magie: „Es stellt sich uns nun die Frage, ob wir die enge Verklammerung des Fetischs mit der Abspaltung dessen, was in ihm nicht aufgeht, wie wir sie für die Moderne an Wert und Weiblichem als konstitutiv erkannt und beschrieben haben, überhaupt in die vorherigen Epochen zurück schreiben können. Was die Magie betrifft, so erscheint es noch recht einfach und logisch. Ist die Natur selbst der Fetisch, also die menschliche Schöpfung, die als solche nicht erkannt nun Autorität und Macht über die Leute gewinnt und ausübt, ist die Abspaltung definiert dadurch, dass sie umfasst, was im Fetisch nicht aufgeht, nun, so können wir sagen, dass die Menschen, die sich gesellschaftlich als Leute konstituieren, nicht in der Natur aufgehen, die Leute also selbst die erste Abspaltung darstellen“ (Exit 3, S. 50). Wirklich apart; im magischen Zeitalter hätten also die Männer die Ehre gehabt, zusammen mit den Frauen von der „Natur“ abgespalten zu werden, was immer das heißen soll.

Und nun zur Religion bzw. religiösen Konstitution. In dieser, so Wallner, entsteht der Fetisch (bei Wallner nur im Sinne einer Argumentation des advocatus diaboli so bezeichnet, weil er ja den Begriff für diese Verhältnisse eigentlich schon a priori verworfen hat) „...aus einer Ordnung, die göttlich ist, göttlicher Heilsplan...“ (Exit 3, S. 51). In dieser stelle sich „die Frage nach einer Freiheit und nach einem Bösen, die die Schöpfung anzugreifen im Stande sind. Das Körperliche zeigt sich also als das Schlachtfeld, auf dem diese Fragen nach dem Guten und Bösen, nach der Hinwendung zu Gutem und Bösem entschieden werden, insofern lässt es sich als Abspaltung, als >Heilsabspaltung< lesen...So wie der Fetisch an das Wirken Gottes gebunden ist, Teil seiner Schöpfung, seines Heilsplans, seiner Liebe, ist es also auch diese Art der Abspaltung“ (Exit 3, S. 51). Im religiösen Zeitalter wäre somit „das Körperliche“ die Abspaltung; wiederum die Körperlichkeit von Männlein und Weiblein gleichermaßen eingeschlossen.

Das bloße Wort „Abspaltung“ wird auf diese Weise völlig entbegrifflicht, seines Zusammenhangs beraubt und geradezu beliebig auf alle möglichen Bezüge „angewendet“. Man könnte dann „Abspaltungen“ jeder nur denkbaren Art konstruieren, sie etwa auch in der Geologie wiederfinden. Die Kontinentaldrift wäre dann auch ein Abspaltungsverhältnis. Leute spalten sich von Exit ab, und schon haben wir ein Abspaltungsverhältnis. Oder wenn ich ein Scheit Holz spalte, habe ich dann (oder das Holz) ein Abspaltungsverhältnis? Es ist keine „Überprüfung“, wenn Begriffe einfach inflationiert werden, nur um sie ad absurdum zu führen. Derart krampfhaft konstruierte „Abspaltungsbegriffe“ sind nichts als eine Art höherer Blödsinn, und das ist ja auch beabsichtigt als quid pro quo für die ganz anders gelagerte historische Reformulierung des Fetischbegriffs, die damit auch gleich als ähnlich blödsinnig gebrandmarkt werden soll. Hier zeigt sich schon eine Tendenz, es als „theoretische Weiterentwicklung“ auszugeben, wenn Begriffe willkürlich umgedeutet, verschoben oder verschwiemelt werden; eine Tendenz, wie sich noch zeigen wird, die durchaus Methode hat. Denn sie erscheint nicht nur wie hier im pejorativen Sinne zwecks Madigmachen unliebsam gewordener wert-abspaltungskritischer Begriffe, sondern alsbald auch bei den eigenen positiven Begriffsbestimmungen von Wallner u.Co.

Wallner hat also einen Popanz konstruiert, einzig zu dem Zweck, etwas zu widerlegen, was niemand behauptet hat außer ihm selbst in seiner Eigenschaft als advocatus diaboli. Er weiß, dass die Überdehnung des Abspaltungsbegriffs unsinnig ist und beweist uns mit dieser Unsinnigkeit, was wir immer schon wussten, nämlich dass die Abspaltung, entwickelt als spezifisch modernes Geschlechterverhältnis in Bezug auf den Wert, eben nur für die Moderne Gültigkeit hat. Mit der Widerlegung seines eigenen Unsinns glaubt er nun auch die geschichtstheoretische Verwendung des Fetischbegriffs automatisch miterledigt zu haben, weil es eben nicht gehe, „Abspaltung und Fetisch in das Prokrustesbett eines historischen Durchgangs zu spannen“ (Exit 3; S. 59). Und im Fazit wird dann dasselbe Doppelurteil gesprochen: „Insofern ist es auch der spezifischen Verdoppelung der Moderne geschuldet, etwa wenn ich Wertabspaltung zwar als gültige kritische Beschreibung der Moderne sehe, gleichzeitig aber den Versuch mache, Fetisch und Abspaltung als historisch nach hinten zu verlängern“ (Exit 3, S. 61).

Was Wallner „überprüft“ hat, ist also nur seine eigene unsinnige Inflationierung und Überdehnung des Abspaltungsbegriffs, den er aus seiner geschlechtlichen Bestimmung herausnimmt. Richtig wäre es einzig gewesen, zu „überprüfen“, wie das Geschlechterverhältnis in vormodernen Sozietäten ausgesehen hat, denn der Abspaltungsbegriff ist ja in der wert-abspaltungskritischen Theoriebildung spezifisch hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses entwickelt worden und kann nicht willkürlich aus diesem Zusammenhang gerissen werden. Diese „Überprüfung“ ist aber von Roswitha Scholz längst vorgenommen worden, und das Ergebnis ist eindeutig, nämlich dass es in den vormodernen Formationen keine geschlechtliche Abspaltung im modernen Sinne gegeben hat (sehr wohl aber patriarchale Frauenbilder) und die Geschlechterverhältnisse andere waren; aus meiner Sicht: den anderen Fetischverhältnissen entsprechende und deren Bestandteil, wobei sich durchaus Kontinuitätsmomente zeigen lassen, indem bei der Herausbildung des modernen geschlechtlichen Abspaltungsverhältnisses auf antike und mittelalterliche patriarchale Konstruktionen „der Frau“ zurückgegriffen wurde.

Indem Wallner die völlig überflüssige Anstrengung unternommen hat, hinsichtlich des Abspaltungsbegriffs einen Popanz zu konstruieren und diesen dann mit großer Geste wieder umzustürzen, hat er ebenso wenig wie mit dem Verweis auf den unausweichlichen „Blickpunkt der Moderne“ einen Millimeter Raum gewonnen für sein Vorhaben, das Konzept einer „Geschichte von Fetischverhältnissen“ zu desavouieren. Er suggeriert dies nur, indem er den Begriff des spezifisch modernen Abspaltungsverhältnisses und den allgemeinen Begriff von Fetischverhältnissen unvermittelt zusammenkoppelt; und zwar als völlig begründungslose Behauptung, wobei zu allem Überfluss der moderne Fetisch bei ihm in einer androzentrisch-universalistischen Interpretation erscheint, also der Wert als das Übergeordnete. Die derart entstellte Abspaltungstheorie wird hier bloß instrumentalisiert und geradezu missbraucht, um sie gegen den geschichtstheoretischen Ansatz im Sinne eines Begriffs von Fetischverhältnissen auszuspielen.