Marxistische
Kritik Nr. 3, Juni 1987
[Vorbemerkung: Die Seitentrennung bezieht sich auf die Original-Ausgabe]
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Udo Winkel
[S. 114-123]
VON DER "REKONSTRUKTION" ZUR "KRISE DES MARXISMUS"
I.
War im 1. Teil (siehe Udo Winkel: Die
Krise des Marxismus, in: MK Nr. 2) auf die Verwandlung des akademischen
"Marxismus" in einen positivistischen Splitter des bürgerlichen Wissenschaftspluralismus
eingegangen worden, so soll im 2. Teil eine Auseinandersetzung mit der Arbeit
von E. Dozekal folgen, der den Anspruch erhebt, die "Krise des Marxismus" durch
die Form seiner Rezeption zu bestimmen: DOZEKAL, EGBERT: VON DER "REKONSTRUKTION"
DER MARX'SCHEN THEORIE ZUR "KRISE DES MARXISMUS". DARSTELLUNG UND KRITIK EINES
DISKUSSIONSPROZESSES IN DER BUNDESREPUBLIK 1967 bis 1984; Pahl-Rugenstein Verlag,
Köln 1985, 36.- DM.
Dozekal versucht die Logik eines theoretischen Prozesses herauszuarbeiten,
der von einer bestimmten Rekonstruktion, d.h. der Verwandlung des Marxismus
in Erkenntnistheorie und Methode ausgehend, über seine empirische
Verifikation als Realanalyse insbesondere als Krisentheorie und - Prognose,
hin zur Krise als Demontage der rekonstruierten Marx'schen Theorie führte.
"Die 'Rekonstruktion' der Marx'schen Theorie im Gefolge der Studentenbewegung
wurde explizit in Opposition zu und als Kritik an der etablierten 'bürgerlichen'
Gesellschaftswissenschaft betrieben, ... und die Marx'sche Theorie (wurde)
als theoretische Begründungsinstanz anerkannt, an der sich die gesamte
Sozialwissenschaft zu messen habe; und zwar nicht mehr an einer auf die
'Frühschriften' verkürzten Marxrezeption, sondern auf einem Gebiet,
das auch Marx als sein Hauptanliegen und -Werk bezeichnete, der 'Kritik
der Politischen Ökonomie'. 15 Jahre später bietet sich das umgekehrte
Bild. Nicht bloß, daß die Diskussion um die 'Politische Ökonomie'
an der Wende zu den 80er Jahren zu einer weitgehend akademischen Debatte
geworden ist, wenn sie überhaupt noch geführt wird. Vielmehr
haben eben die Protagonisten der seinerzeitigen 'Rekonstruktion' der Marx'schen
Theorie selbst ... die 'Krise des Marxismus' ausgerufen" (S. 9-10). Symptomatisch
erscheint auch, daß die Arbeit Dozekals u.W. bisher vollständig
ignoriert, also weder rezipiert noch kritisiert wurde.
II.
Dozekal sieht die Intention einer verhängnisvollen "Rekonstruktion"
der Marx'schen Theorie - sein Ausgangspunkt bildet das Kolloquium "Kritik
der politischen Ökonomie heute - 00 Jahre 'Kapital'", das 1967 in
Frankfurt/M stattfand - in: 1. der Isolierung einer "dauerhaften Methode"
getrennt von den materialen Aussagen, 2. verbunden mit einer Kritik an
den materialen Aussagen von Marx, 3. der Glaube an eine Überlegenheit
der Methode des 'Kapital' ohne eine inhaltliche Überprüfung und
4. daraus folgend der Rekonstruktion der Marx'schen Theorie als Methode.
Schon hier zeigt sich, daß Dozekal es sich sehr einfach macht, indem
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er die Rezeptionsprozesse undifferenziert einem Schema subsumiert,
es ihm somit eher um die Sache der Logik als die Logik der Sache geht.
Seine Darstellung bleibt theorieimmanent, abstrahiert von den Bedingungen
dieser seit Mitte der sechziger Jahre einsetzenden Rezeption, verkürzt
ihren komplexen Charakter und verkennt damit ihre Bedeutung. Diese kann
nur erfaßt werden, wenn der damalige Stand oder Zustand des "Marxismus"
berücksichtigt wird - hier kann auf diese Probleme nur verwiesen werden;
Aufarbeitung und Darstellung der Problematik bleibt ein Desiderat. Es dominierten
damals der in ein Formelsystem gegossene, der Realität übergestülpte
positivistische "Sowjetmarxismus" des "Realsozialismus" mit seiner Funktion
als Rechtfertigungsideologie und seine "marxologischen" Kritiker andererseits,
die den jungen gegen den alten Marx ausspielten, d.h. ihn anthropologisierten
und zu einer Variante des Existenzialismus machten. Wo im akademischen
Bereich an Marx als einem gesellschaftskritischen Theoretiker festgehalten
wurde, geschah es im Rahmen der "Kritischen Theorie" der "Frankfurter Schule"
als Kulturkritik und in der Marburger Abendroth-Schule als politische Theorie.
In diesem Zusammenhang kann die Wiederentdeckung des Marxismus als
einer "Kritik der politischen Ökonomie" - gerade im Gegensatz zum
Verständnis einer positiven Wissenschaft - in ihrer Bedeutung und
Eröffnung einer neuen Perspektive kaum überschätzt werden.
ROSDOLSKY verwies auf dem Frankfurter Kolloquium auf die großen
Veränderungen "seit dem Ende des letzten Weltkrieges, seitdem der
westliche Kapitalismus so gewaltige Wandlungen erfahren und seitdem es
auch gilt, die im Osten neu entstandenen Gesellschaftsgebilde wissenschaftlich
zu erfassen. Auch diesmal muß sich die Theorie, um mit Marx zu sprechen,
'im Dünger der Widersprüche' emporarbeiten, wenn sie allem Neuen,
das die konkrete Wirklichkeit darbietet, Rechnung tragen soll. Und unsere
Theorie KANN es, wenn sie sich von jedem Dogmatismus fernhält und
wenn sie die unendlich fruchtbare Methode des KAPITAL richtig anzuwenden
weiß, d.h. wenn sie jene Vermittlungen aufzufinden vermag, die die
abstrakten Theoreme dieses Werkes mit der konkreten Wirklichkeit VON HEUTE
verbinden. Eben das erscheint uns als die Zentralaufgabe der heutigen marxistischen
Ökonomie; und sollte unser Beitrag irgendwie zur Bewußtwerdung
dieser theoretischen Aufgabe beigesteuert haben, dann ist sein Zweck vollauf
erfüllt"(1).
Diese Forderung nach den Vermittlungen ist nicht nur legitim, sondern
notwendig, wenn die Oberflächenphänomene der kapitalistischen
Realität begriffen werden sollen und wenn man nicht, wie anscheinend
Dozekal, bei der "Kerngestalt" (Marx) stehenbleiben will. Eine Kritik Rosdolskys
hätte dort einzusetzen, wo er von der Verbindung der "abstrakten Theoreme"
mit der "konkreten Wirklichkeit von heute" spricht und damit verkennt,
daß diese "abstrakten Theoreme" eben die verdinglichte kapitalistische
Realität ausdrücken.
Die Bedeutung des Kolloquiums für die Überwindung des alten,
sich selbst als positive Wissenschaft verstehenden verdinglichten "Marxismus"
und die Aufzeigung einer neuen, dem originären Marx verpflichteten
theoretischen Perspektive zeigen etwa die Diskussionsbei-
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träge von Alfred Schmidt. So betont er etwa die Aufhebung der
verdinglichten "zweiten Natur" als Voraussetzung des Kommunismus: "Immerhin
hat Marx sehr deutlich gesagt, daß er unter Kommunismus einen Zustand
versteht, in dem es keine Verhältnisse und Mächte gibt, die von
den Menschen unabhängig existieren. Man darf nicht zur wissenschaftlichen
Norm erheben, sozusagen zur Tugend eines erkenntnistheoretischen Realismus
machen, was die Not des von Marx kritisierten Zustands war. Das ist ein
ganz entscheidender Punkt. Es hat gar keinen Sinn, in der Theorie noch
einmal zu fetischisieren, was in der Wirklichkeit schon fetischisiert ist.
Je 'objektiver' diese Gesetze sind, desto schlimmer für uns. Engels
hat früh bereits den klassischen Ökonomen, die sich viel zugute
hielten auf die 'Naturgesetze' der kapitalistischen Produktion, entgegnet:
Worauf beruhen diese Naturgesetze? Auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten
- und das scheint mir überhaupt der Sinn des Sozialismus bei Marx
zu sein, daß man nicht bei der bloßen Konstatierung stehenbleibt
(man geniert sich fast, es zu wiederholen), daß das gesellschaftliche
Sein das Bewußtsein bestimmt - endlich
soll das Bewußtsein übers Sein gebieten. Es ist doch der
Zweck der Ökonomie, wie sie Marx vorgeschwebt hat, daß die Menschen
bewußt ihre Verhältnisse gestalten und durch keine zweite Natur
gefesselt werden, die viel gewalttätiger ist als die erste, und zwar
deshalb, weil das Subjekt sich in ihr vergegenständlicht hat. Je mehr
Subjektivität nämlich in der Objektivität verkörpert
ist, desto 'bewußtseinsunabhängiger' ist sie - im zu kritisierenden
und aufzuhebenden Sinne"(2).
Und zur Wertproblematik führte Schmidt aus: "Während noch
Ricardo, der fortgeschrittenste klassische Ökonom, sich damit begnügt,
die Wertbildung als naturgegebene Eigenschaft der Arbeit anzusehen, deckt
Marx den spezifisch gesellschaftlichen, das heißt historisch vergänglichen
Charakter des Wertes auf. Er geht von der Wertgröße zur Analyse
der Wertform über. Wenn die unter dem Aspekt des Tauschwerts betrachteten
Waren sich nur quantitativ unterscheiden, dann setzt das ihre qualitative
EINHEIT voraus, den Umstand, daß sie abstrakt menschliche Arbeit
verkörpern. Diese Konsequenz entgeht den klassischen Ökonomen,
weshalb sie auch den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang nicht begreifen.
Der Marx'sche Begriff der Produktionsverhältnisse, ja der bürgerlichen
Gesellschaft, steht und fällt mit der Anerkennung der zugleich logischen
und historischen Objektivität des Wertes. Marx hat keineswegs geglaubt,
es handle sich hier um einen 'denkökonomischen' Begriff im Sinn der
positivistischen Wissenschaftstheorie. Vielmehr können wir ihn nur
deshalb nützlich anwenden, weil ihm eine tagtäglich im Produktionsprozeß
vollzogene Abstraktion entspricht, die sich in den einzelnen Kaufakten
bloß manifestiert. Er darf nicht nur als Arbeitshypothese, als denktechnische
Notwendigkeit betrachtet werden. Marx hat schon in der KRITIK DER POLITISCHEN
ÖKONOMIE, also 1859, nachgewiesen, daß es sich bei der Wertbildung
um eine Abstraktion handelt, die nicht nur methodisch bedeutsam ist, sondern
das Objekt der Untersuchung selbst strukturiert. Übergehen wir diesen
Punkt, dann geraten wir in große Schwierigkeiten, dann können
wir den für Marx so wichtigen Zusammenhang zwischen politischer Ökonomie
und gesellschaftlicher Totalität nicht wirklich erfassen"(3).
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(Das auf dem Kolloquium gehaltene Referat von Alfred Schmidt: Zum Erkenntnisbegriff
der Kritik der politischen Ökonomie, S. 30-43, bietet immer noch eine
ausgezeichnete Einführung in die Problematik der Kritik der politischen
Ökonomie). Dozekal expliziert
nun seine Kritik an der Marxrezeption am Beispiel von H. Reichelt, C. Offe
und J. Bischoff. Er verweist darauf, daß für REICHELT die "Kritik
der politischen Ökonomie" eine doppelte theoretische Herausforderung
darstellt: "Auf der einen Seite hat sich die Rezeption des 'Kapital' weiterhin
mit Problemen der METHODE bei Marx, 'der dialektischen Darstellung der
Kategorien und Erörterung dieser Darstellungsform', der Extrapolation
einer 'Ableitungsstruktur als methodisches Vorbild', der möglichen
historischen Beeinflussung der 'abstrakt kategorialen Darstellungsform'
usw. im Bewußtsein zu befassen, daß es nur so 'möglich
wird, sich abschlußhaft über die Marx'sche Methode und ihre
Eignung für die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus zu äußern'.
Auf der anderen Seite ist die methodische Selbstbeschäftigung mit
dem 'Kapital' durch ein später als 'REALANALYSE' bezeichnetes 'Studium
des wirklichen Kapitalismus' im Bewußtsein zu ergänzen, erst
dadurch 'wirkliches' Wissen über den gegenwärtigen Kapitalismus
zu erarbeiten und damit zugleich die 'Eignung' der aus dem 'Kapital' extrapolierten
Marx'schen Methode zu verifizieren"
(S. 75).
Hier gilt es eine differenziertere Beurteilung als die im schlechten
Sinne abstrakte Dozekals. Er verkennt, daß es hier ja erst einmal
um die Entdeckung und Aneignung der "Kritik der politischen Ökonomie"
ging und die theoretisch-methodischen Reflexionen Reichelts in seiner Arbeit
"Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx" diese Aneignung
förderten. In Bezug auf die "Realanalyse" legt Dozekal den Finger
auf die Wunde, wobei es hier allerdings nicht um eine Kritik an der Forderung
der Analyse des zeitgenössischen Kapitalismus gehen kann, sondern
an der fehlenden bzw. nicht gelingenden Vermittlung zur "Kernstruktur".
So degenerierte die "Realanalyse" tatsächlich vielfach zur positivistischen
Aneignung der erscheinenden Oberfläche.
Dozekal zeigt richtig, daß OFFE schon damals Fragestellungen
entwickelte, die sich heute im akademischen "Marxismus" durchgesetzt haben.
Er wendet sich dagegen, "die Frage nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus
in naiver Weise zu stellen". "Offe will vielmehr den marxistischen Krisentheoretikern
die methodischen Bedingungen vorgeben, wie dieselbe Frage reflektiert zu
stellen und ergänzend zu beantworten wäre: 'Unter diesen Bedingungen
wäre eine Krisentheorie nur dann überzeugend, wenn sie als eine
Theorie über die Grenzen politischen und ökonomischen Krisenmanagements
aufträte...'. Die sachliche Unhaltbarkeit von Krisentheorien, die
'dem Kapitalismus eine graue Zukunft prophezeien', bildet also geradezu
die Grundlage, auf der das methodologische Konzept von Offe beruht. In
ihm entwickelt umgekehrt Offe unabhängig vom sachlichen Gehalt der
Krisentheorien die methodischen Maßstäbe und systemtheoretischen
Kriterien, wann ihre Begutachtung der Überlebenschancen des kapitalistischen
Systems als gelungen angesehen werden darf. Den ERFOLG einer kritischen
Sozialwissenschaft, die sich auf die Marx'sche Kapitalis-
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musanalyse beruft, sieht Offe dabei zuallererst in der 'Wahl' des überlegenen
methodischen 'Rahmens' verkörpert und durch ihn garantiert. Zugleich
allerdings gilt Offe von Anfang an der 'Marx'sche Kapitalismus-Begriff'
als 'Wahl' eines bloß möglichen 'Ansatzes', jederzeit vergleichbar,
ergänzbar und kombinierbar mit ebenso möglichen systemtheoretischen
Entwürfen. Indem der politische Soziologe Offe schon 1971 das Problem
aufwarf, 'ob und inwiefern systemtheoretische Konzepte dem Bezugsrahmen
der Marx'schen politischen Ökonomie legitimerweise integriert werden
können', hat er bereits in der Phase der Rekonstruktion der Marx'schen
Theorie deren Relativierung betrieben. Insofern hat Offe die RELATIVITÄT
der Marx'schen Kapitalismuskritik je schon behauptet - zehn Jahre vor der
'Krise des Marxismus'..." (S. 93).
In seiner BISCHOFF-Kritik verweist Dozekal auf ein m.E. wichtiges Moment
in der damaligen Marxrezeption, was in seiner Logik tatsächlich zur
'Krise des Marxismus' führte: die unmittelbare Bindung der Theorie
an den praktischen Erfolg einer politischen Bewegung. "Die Identifikation
der theoretischen Geltung des wissenschaftlichen Sozialismus mit der erfolgreichen
praktisch politischen Durchsetzung einer kommunistischen Bewegung, die
sich wissenschaftlich begründet, hat folgenschwere Konsequenzen: Auf
der einen Seite wird damit das praktische Erfolgskriterium der als Ideologie
kritisierten bürgerlichen Sozialwissenschaften übernommen, denen
wissenschaftliche Urteile als 'graue Theorie' gelten, solange sie nicht
die gesellschaftlichen 'Fakten' auf ihrer Seite haben. Aus einer ursprünglich
GEGEN die etablierten Geistes- und Sozialwissenschaften gerichteten Rekonstruktion
der Marx'schen Theorie wird ein Konkurrenzverhältnis MIT der 'bürgerlichen'
Wissenschaft, welche Theorierichtung über den adäquaten 'theoretischen
Ausdruck' der bestehenden Praxis verfügt. Damit ist auf der anderen
Seite der Umschlag der Geltung der Marx'schen Theorie in die INFRAGESTELLUNG
ihrer theoretischen Gültigkeit immer schon in nuce angelegt. Die methodische
Vorgabe des praktischen Erfolgs einer politischen Bewegung als Instanz
der wissenschaftlichen Gültigkeit der theoretischen Kapitalismuskritik
zieht im Falle des praktischen Mißerfolgs die prinzipielle Skepsis
nach sich, ob die Marx'sche Theorie nicht ein inadäquater und unzeitgemäßer
'Ausdruck' der wirklichen Verhältnisse sei" (S. 106-107).
Nun führte dieses Verständnis - dies gilt es Dozekal ergänzend
festzuhalten - bei Bischoff im weiteren nicht einfach zum "Abschied vom
Marxismus", sondern zum Reformismus, zur Anpassung an die real existierende
"Arbeiterbewegung", um ausgehend von der SEW/DKP über die italienische
KP schließlich wieder bei der SPD zu landen (Die ML-Parteien kamen
übrigens zu einem noch kurzschlüssigeren "Theorie-Praxis"-Verhältnis
im Sinne einer un-
mittelbaren Instrumentalisierung der Theorie für die "revolutionäre
Praxis").
III.
Für Dozekal liegt nun der Skandal bei der weiteren Entwicklung
des so rezipierten "Marxismus" darin, daß etwa ALTVATER versuchte,
aus dem Verhältnis von "Marx'scher Darstellung des Kapitalbegriffs"
und Interpretation der "empirischen Oberfläche" die methodische Not-
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wendigkeit einer "Realanalyse" zu begründen. "Marx selbst hat
in einer Fülle von Artikeln, Erklärungen, Reden, Adressen permanent
zu aktuellen politischen Fragen Stellung bezogen, ohne jeweils im einzelnen
auf den 'Kapitalbegriff im Allgemeinen' zu rekurrieren ... Insofern ist
die Aneignung der Marx'schen Theorie unbedingt notwendig, aber nicht als
ein Instrument, das VOR der Auseinandersetzung mit Problemen der wirklichen
Bewegung und Theorien gelernt sein muß, und auch nicht als ein Dogma,
das nur noch 'ex cathedra' auslegebedürftig sei, sondern als BEGRIFFLICHE
Abstraktion der WIRKLICHEN Bewegung des Kapitalverhältnisses, die
mit der historischen Entwicklung des Kapitalismus auch neue Fragen aufwirft,
die nicht das Wesen dieser Gesellschaft, die Form ihrer Widersprüchlichkeit,
wohl aber die Erscheinungsformen des Kapitalverhältnisses berühren.
Und die 'Realanalyse' umschließt sowohl die Analyse des Wesens als
auch der Erscheinungen (sowohl in ihrer systematischen begrifflichen Herleitung
als auch ihren konkreten historischen Verlaufsformen). Die Betonung des
'doppelgleisigen' Vorgehens - Aneignung der von Marx dargestellten logischen
Struktur des Kapitalbegriffs und Analyse historischer Erscheinungsformen
des Kapitalismus - darf allerdings keinesfalls als methodisches Postulat
verstanden werden. Allerdings gibt es auch keinen Königsweg vom allgemeinen
Kapitalbegriff zur Oberfläche des Kapitalverhältnisses und den
historischen Verlaufsformen einer konkreten Gesellschaft"(4).
Die Problematik liegt nicht in der fehlenden Abstinenz Altvaters und
der "Prokla", die sich zurecht nicht der Dozekal'schen Askese unterwerfen,
- sie geben durch ihre Vermittlungsversuche und ihre Diskussionen, wie
immer sie heute im einzelnen eingeschätzt werden können, eine
marxistische Perspektive, deren kritische Aufarbeitung auch heute noch
lohnt. Nicht Klassenanalyse, Konjunktur- und Krisenanalyse und -Prognose
sind von Übel, sondern, wie schon oben vermerkt, der UNMITTELBARE
PRAKTISCHE BEZUG auf die bestehende Arbeiterbewegung, bei Altvater und
der "Prokla" vor allem auf die Gewerkschaften. Die seit Anfang der 70er
Jahre erstellten Konjunktur- und Krisenprognosen enthielten als Quintessenz
die These, daß die Krise des Kapitals zwangsläufig einen Aufschwung
der Klassenkämpfe in der BRD bringen würde. Zehn Jahre später
konstatiert Altvater, daß die westdeutsche "Arbeiterbewegung mit
ihren Organisationen, den Gewerkschaften und den traditionellen Arbeiterparteien
in eine Krise geraten ist ... Manche haben behauptet, mit der ökonomischen
Krise, mit der Situation der wachsenden Arbeitslosigkeit mit Lohnminderungen,
mit zunehmender Arbeitshetze würde auch ein Aufschwung revolutionären
Bewußtseins einhergehen, die Leute würden dann, um es etwas
burschikos auszudrücken, gleich sauer werden und gegen das System
anrennen, um es über den Haufen zu werfen. Das ist offensichtlich
nicht so!"(5).
Dozekal konstatiert hier richtig: "Die beständige praktische Widerlegung
des in den Krisenprognosen erwarteten Zusammenhangs von Krise des Kapitals
und Aufschwung des Klassenkampfs macht Altvater zum Argument für eine
pauschale Infragestellung der bislang für gültig befundenen marxistischen
Krisentheorie, die über eine kritische Überprüfung einzelner
Urteile und behaupteter Zusammenhänge auf ihre Stimmigkeit längst
hinaus ist. Altvater äußert den Generalzweifel, ob er nicht
in seiner bisherigen Theorie das Funktionieren
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des bundesrepublikanischen Kapitalismus und die Stabilität seiner
Herrschaft unterschätzt habe, ob also seiner bisherigen Kritik nicht
angesichts des Erfolgs des 'Modell Deutschland' der Boden unter den Füßen
weggezogen sei. Die 'Krise des Marxismus' besteht somit darin, daß
marxistische Theoretiker Abstand nehmen von ihren früheren Krisentheorien
und Krisenprognosen, indem sie den praktischen ERFOLG des Kapitalismus
zu einem theoretischen ARGUMENT gegen SICH machen: 'Die vielberedete 'Krise'
der Linken rührt zu einem guten Teil daher, daß ein ganzer Traditionsbestand
an politischen Analysen, Konzepten und Strategien sozialrevolutionärer
Veränderung fragwürdig, ja, von der Entwicklung nachhaltig dementiert
worden ist' (J. Hirsch)..." (S. 203-204).
Die "Krise des Marxismus", so ist Dozekal zuzustimmen, bezeichnet eine
Blamage früherer "revolutionsstrategischer Erwartungen" westdeutscher
Linker, nicht eine Widerlegung von Marx. "Vom Standpunkt der an der Selbstverständnisdebatte
über die 'Krise des Marxismus' Beteiligten stellt sich dieser Sachverhalt
allerdings genau umgekehrt dar: Weil für SIE die rekonstruierte Marx'sche
Theorie von Anfang an weniger die theoretische AnaIyse und wissenschaftliche
Kritik der kapitalistischen Verhältnisse leisten, sondern vor allem
empirische Einschätzungen zukünftiger Krisenentwicklungen und
realanalytische Interpretationen möglicher Klassenkämpfe erstellen
sollte, wird in ihren Augen der praktische Erfolg des bundesdeutschen Kapitalismus
in den 70er Jahren, die Krisenbewältigung ohne merkliche Gegenwehr
der von ihr betroffenen Arbeiterklasse durchgesetzt zu haben, zu einem
theoretischen Argument gegen den MARXISMUS" (S. 226-227).
Der 3. Teil der Arbeit erscheint mir als der interessanteste, wo Dozekal
die Blüten zeigt, die die "Krise des Marxismus" treibt. Neben dem
"Abschied vom Proletariat" des früheren Syndikalisten André
Gorz und der "Hinwendung zur Menschheit" bei Rudolf Bahro sind vor allem
die Schlußfolgerungen aus der "Krise des Marxismus" bei M.Th. Greven,
J. Hirsch und W.E. Haug symptomatisch.
GREVEN knüpft an der "Dialektik der Aufklärung" an. Während
aber die Studentenbewegung versuchte, mit Hilfe des Marcuse'schen Aktivismus,
die Adorno-Horkheimer'sche Spätform der Kritischen Theorie zu transzendieren,
geht Greven hier voll konform, indem er vom "Ende der Geschichte", vom
"Übergang zur verwalteten Welt", von der "Geschichte als Verhängnis"
spricht. Ja, er zieht Konsequenzen, die ein "Überschreiten" in ganz
andere Richtung bedeuten: "Der praktische Anspruch der Theorie bleibt
ohne historisches Subjekt konsequenz- und perspektivlos ... Die Kritik
wird, ohne sich je affirmativ zum Bestehenden verhalten zu können,
gleichwohl fest ans Gewordene und Bestehende gebunden. Darin liegt ihr
konservatives Moment...", und "wo sich in der wirklichen geschichtlichen
Situation der Gegenwart die offenkundigen Widersprüche und Konflikte
eben nicht zur wirklichen Bewegung über den gegebenen Zustand hinaus
verdichten, da kann Geschichtstheorie, die das angemessen reflektiert,
gar nicht anders, als konservativ sein"(6).
Es kommt zu einer Konvergenz von kritischer und konservativer Theorie,
sozusagen zu einer neuen Theorie des status quo, der attestiert wird, adäquater
Ausdruck der Realität zu
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sein: "Der Konservatismusbegriff ... löst sich von seinem sozialgeschichtlichen
Entstehungskontext ebenso wie von der damit verbundenen sozialen und interessenbedingten
Basis und wird zur Strukturkategorie, in der der historisch neuartige Verlust
der transzendierenden Zukunftsperspektive ebenso wie der sie tragenden
sozialen und politischen Bewegung begriffen wird"(7).
Der vorgebliche Realismus der Anerkennung dieser Strukturgesetzlichkeit
drückt allerdings - wie auch im französischen Strukturalismus
- nichts anderes aus, als das Aufsitzender unbegriffenen gesellschaftlichen
als verdinglichter Realität.
J. HIRSCH plädiert für eine andere Perspektive: die Weitertreibung
der marxistischen Theorie zu einem die Erfahrung der Individuen integrierenden
"plebejischen Wissen". Die Marx'sche Theorie erscheint selbst als "Herrschaftswissen":
"Viel bedeutsamer als an vielleicht korrekturbedürftigen Einzelaussagen
(des Marxismus) ist indessen die Kritik an einer spezifischen STRUKTUR
von Theorie ... - Theorie als im Rahmen herrschaftlicher Arbeitsteilung
formulierte Auskunft ÜBER Subjekte und deren Handeln, als Feststellung
von Regelmäßigkeiten und objektiven Zusammenhängen von
außen, als katalogisierende Typisierung und Ordnung, kurz: als Produktion
von Wissen ÜBER gesellschaftliche Individuen, das diese verfügbar
macht und das wenig zu tun hat mit praktischem Wissen der Handelnden von
und über sich selbst. Diese Wissensform, die im Kern den 'bürgerlichen'
Charakter von Wissenschaft ausmacht, prägt in eigentümlicher
Weise und gegen ihren Anspruch auch wesentliche Teile der sich auf Marx
berufenden Theorie. Das beginnt in bestimmter Weise schon bei Marx selbst,
dessen ökonomisches Spätwerk ... sich als 'Anatomie der bürgerlichen
Gesellschaft' auf die Analyse objektiver gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge
und Bewegungsgesetze konzentriert"(8).
Hirsch sieht Marx also durch die Brille des positivistisch verstandenen
"Marxismus" und lastet ihm - dem es ja gerade um die Entschleierung des
"gesellschaftlich notwendigen Scheins" (Marx) und letztlich um die Aufhebung
der "zweiten Natur" geht - die gesellschaftlich produzierte Verdinglichung
an. Die Fiktion einer Wissenschaft, die dem Subjekt Gewalt antut, weil
sie es zum Objekt ihrer Betrachtung macht - während umgekehrt das
Kapital als Subjekt der warenproduzierenden Gesellschaft die Menschen den
Marktgesetzen unterwirft - führt zur Forderung nach "Lebensnähe",
nach dem Aufgreifen von Erfahrungen des Alltagsverstandes und der Phantasien
der Individuen. Hier reproduziert sich ideologisch letztlich die alte Problematik
der bürgerlichen Gesellschaft, daß die Menschen zwar ihre Geschichte
selbst machen, aber ohne Bewußtsein (als bewußtem Sein): Die
Gesellschaft als verdinglichte Struktur, als "realité sui generis"
(Durkheim), wird mit dem irrationalistischen Willen der Individuen konfrontiert,
der Positivismus findet sein Pendant in der Lebensphilosophie.
HAUG schließlich "löst" die "Krise des Marxismus" auf spezifisch
originelle Weise, indem er allen "marxistischen" Varianten ihre Lebensberechtigung
zuerkennt und auf einen "plurizentrischen Marxismus" setzt. Er gibt sich
als "ideeller Gesamtmethoduloge" (Dozekal),
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dem es um eine "produktive Konvergenz auch in der Divergenz der unterschiedlichen
Marxismen"(9) geht, um eine "marxistische Ökumene". So landet Haug
im Methodenpluralismus, die Akademisierung der "marxistischen" Varianten
wird vollendet, in der universitären Gelehrtenrepublik kann trefflich
und folgenlos gestritten werden.
V.[! Abschnitt IV nicht vorhanden!]
Dozekals Arbeit hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck.
So wichtig es ist, daß Dozekal die Problematik der Marxrezeption
überhaupt stellt und so richtig und nützlich viele Fingerzeige
seiner Darstellung sind, sie leidet letztlich doch an ihrer rein theorieimmanenten
Logik. Dozekal resümiert richtig: "... wenn die VORtheoretischen 'Erwartungen'
auf Gesellschaftsveränderung zum methodischen Leitgedanken der THEORIEbildung
erhoben werden, dann muß sich das Ausbleiben solcher Veränderung
nicht nur als Niederlage des praktischen Interesses an ihr, sondern auch
als grundsätzliches Versagen der eigenen Theorie darstellen. Nur dann
erscheint die Stabilität des 'Modell Deutschland' nicht als Anlaß
der theoretischen und praktischen KRITIK der gesellschaftlichen Verhältnisse,
sondern als Argument für eine längst überfällige SELBSTKRITIK
des Marxismus" (S. 292).
Doch indem er die theoretischen Bedingungen der von ihm kritisierten
Rezeption ausklammert und sich nicht um den Zustand des "Marxismus" heute,
auch jenseits dieses Rezeptionsprozesses, kümmert, erscheint er selbst
eher als "Marxismuspapst" à la Kautsky, der von den Zinnen des "Kapital"
seinen Bannfluch schleudert, die Abweichler an Marx mißt, sie züchtigt
und dann weiter macht wie vorher.
Ein Marxverständnis, das sich dagegen als Moment der realen Totalität
begreift, muß in der Kritik des verkürzten Theorie-Praxis-Verständnisses
der dargestellten Marxrezeption die Notwendigkeit der relativen Selbständigkeit
des "theoretischen Pols" erkennen, den Entwicklungsstand der kapitalistischen
Vergesellschaftung untersuchen und damit die Problematik des Obsoletwerdens
des Wertgesetzes klären, um von hier aus überhaupt erst zu einer
kommunistischen Perspektive zu kommen.
ZITATENNACHWEISE
(1) Kritik der politischen Ökonomie heute - l00 Jahre "Kapital",
hgg. von W. Euchner und A. Schmidt, Ffm. 1968, S. 21
(2) ebenda, S. 57
(3) ebenda, S. 277
(4) Altvater, Elmar: Zu einigen Problemen des Staatsinterventionismus,
in: Probleme des Klassenkampfs - Zeitschrift für politische Ökonomie
und sozialistische Politik Nr. 3/1972, S. 3
(5) Altvater, Elmar: Es muß sich noch mehr ändern, als sich
bereits geändert hat!, in: Redaktionsgruppe Sozialistische Konferenz
(Hg.): Ökologie und Sozialismus, Hannover
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1980, S. 12-13
(6) Greven, Michael Th.: Konservative Kultur- und Zivilisationskritik
in "Dialektik der Aufklärung" und "Schwelle der Zeiten", in: Konservatismus
- Eine Gefahr für die Freiheit?, hgg. von E. Henning und R. Saage,
München 1983, S. 156
(7) ebenda
(8) Hirsch, Joachim: Der Sicherheitsstaat, Ffm. 1980, S. 136
(9) Haug, Wolfgang Fritz: Krise oder Dialektik des Marxismus?, in:
Aktualisierung Marx', Argument Sonderband l00, Berlin 1983, S. 31