Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Aus: UTOPIE kreativ, Heft 121/122 (November/Dezember 2000), S. 1133-1155

online: http://www.rosa-luxemburg-stiftung.de/Bib/uk/Archiv/index.htm

 

ROBERT KURZ

Versuch, das Problem an der Wurzel zu packen.

Im Gespräch mit Stefan Amzoll

Stefan Amzoll - Jg. 1943; studierte von 1968 bis 1972 Theater- und Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Er arbeitete im Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1977 als Musikredakteur und Redaktionsleiter Ernste Musik bei Radio DDR II. Promovierte 1987 uuml;ber kulturelle Aspekte des Rundfunks der Weimarer Republik. Nach der Wende Chefredakteur des Kulturprogramms Radio DDR II, übernahm er 1990 die Programmleitung von Deutschlandsender Kultur. Ende 1991 durch Einrichtungschef Mühlfenzl und ZDF-Intendant Stolte vom Dienst suspendiert. Danach einige Monate arbeitslos. Seit 1992 als freier Publizist tätig. Von Stefan Amzoll in UTOPIE kreativ u.a. Gespräch mit Hans-Eckardt Wenzel »Was war dieses Jahrhundert eigentlich?« in Heft 81/82 Juli/August 1997); in Heft 91/92 (Mai/Juni 1998) »Ich ist kein anderer. Hanns Eisler und die DDR - Eine Montage«; in Heft 97/98 (Novembe/Dezember 1998) Gespräch mit Thomas J. Richter »... Erotik findet links statt«, in Heft 109/110 (November/Dezember 1999) Gespräch mit Friedrich Schenker »Musik zum pazifistischen Gebrauch« und in Heft 115/116 (Mai/Juni 2000) mit Steffen Mensching, Hans-Eckardt Wenzel »Abschied«.

 

STEFAN AMZOLL:

Sie sind 1943 in Nürnberg geboren, also noch während des Krieges, in der Stadt der Reichsparteitage. Raub- und Rassenkrieg, Massenhysterie, schon dies markiert dunkelste Flecken. »Schwarzbuch des Kapitalismus«, so der Titel Ihrer jüngsten Publikation (Eichborn Verlag 1999), ein für mich außergewöhnliches Werk. Bevor wir einige Aspekte des Buches berühren, die Frage, aus welchem Familienzusammenhang Sie kommen.

ROBERT KURZ:

Ich komme aus einem sozialdemokratisch-gewerkschaftlich orientierten Elternhaus und wuchs in einer Großfamilie auf, wir waren insgesamt sieben Personen. Für mich als Kind waren auch die Großeltern wichtig, besonders der Großvater, der Maschinenschlosser war und in der Gewerkschaft aktiv. Und da weiß ich zum Beispiel noch, wie der Großvater als alter Mann vor dem Fernseher gewettert hat gegen den Vietnamkrieg. Das war für mich in vieler Hinsicht so eine Kindheitsprägung. Dann habe ich am humanistischen Gymnasium Abitur gemacht. Das, was man als Gymnasiast an Demokratievorstellungen mitkriegt, wurde mir dort anerzogen. Ich habe damals auch eine Schülerzeitung gemacht, keine oppositionelle, dazu war vieles noch zu unklar. Ich habe auch Gedichte geschrieben.

STEFAN AMZOLL: Und erste nachhaltige außerfamiliäre Erfahrung?

ROBERT KURZ: Das war die Bundeswehr. Da bin ich dann zum Pazifisten geworden. Die Bundeswehr empfand ich als so grauenhaft, dass ich da so ein bisschen gestört habe. Ich wurde irgendwann aus dem Verkehr gezogen, durfte nicht mehr am politischen Unterricht teilnehmen und habe dann pazifistische Propaganda ans schwarze Brett gehängt und dergleichen mehr. Das wurde mir übel vermerkt. Dann habe ich den Offizierslehrgang verweigert und ähnliche Dinge. Ich wurde als Gefreiter entlassen. Und nachträglich habe ich noch verweigert, damit ich die Ersatzübungen nicht mitmachen mußte.

STEFAN AMZOLL: Wurden Sie darum Teilnehmer der Ostermärsche?

ROBERT KURZ: Ja. Auf Ostermärschen habe ich auch Kommunisten kennen gelernt, Leute aus der Gruppe Arbeiterpolitik, alten Linken sagt das vielleicht noch etwas: KPO unter Heinrich Brandler, er war in den zwanziger Jahren kurze Zeit KP-Vorsitzender und ist aus der KPD oppositionell rausgegangen. Ich habe, wenn ich bei denen zu Hause war, immer die MEW, die blauen Bände, stehen sehen. Danach ging es eigentlich ziemlich schnell, weil das rückgekoppelt war einerseits mit gewerkschaftlicher Jugendarbeit in der IG Metall und marxistischer Orientierung, andererseits mit dem Schwall der Studentenbewegung; und der hat mich richtig fortgewirbelt.

STEFAN AMZOLL: Wo haben Sie damals studiert?

ROBERT KURZ: Ich habe in Erlangen/Nürnberg studiert. Das mit dem Studium war so: Bis kurz vor einer Doktorarbeit, die ich zu schreiben anfing (Thema: Zur historischen Schülerbewegung in Deutschland und Österreich), habe ich meine Scheine alle gemacht, habe aber nicht auf eine akademische Karriere hin studiert, sondern das Studium war ungeheuer stark bewegungsgeprägt. Ich bin richtig aufgegangen in der Studentenbewegung.

STEFAN AMZOLL: Was war da zu tun?

ROBERT KURZ: Wir haben zum Beispiel Betriebszeitungen gemacht, einen Verband Nordbayrische Schülerbasisgruppen gegründet; und da waren wir vollauf beschäftigt. Das Studium war eher nebenher.

STEFAN AMZOLL: Welche Fächer studierten Sie?

ROBERT KURZ: Philosophie, Pädagogik und Politische Wissenschaft. Von vorn herein brotlose Fächer. Nachdem ich besagtes Promotionsprojekt fallengelassen hatte, war ich LKW-Fahrer, habe Kleinlastwagen gefahren, danach sieben Jahre lang Taxifahrer - typischer Philosophenberuf. Und ich übte noch einen Nebenjob bei einer lokalen Tageszeitung aus, im technischen Bereich, einen Teilzeitjob. Der ist mir geblieben, das ist immerhin eine gewisse Absicherung. Ansonsten bin ich immer mehr eine frei schwebende Existenz geworden. Auf eigene Rechnung, hauptberuflich, Bewegungsagitator.

STEFAN AMZOLL: Wann hörte dieser frei schwebende Zustand auf?

ROBERT KURZ: Mitte der siebziger Jahre, nach diesem Durchlauf ?68 und folgende. Und da habe ich mich dann mit ein paar Leuten zusammengetan mit dem Impuls, jetzt eine kritische, theoretische Aufarbeitung zu machen. Wir sind aus den Proletgruppen, K-Gruppen, rote Zelle hießen die, rausgegangen und haben gesagt: die Theorie hat einen eigenen Stellenwert, wir können diesen manisch-depressiven Zustand von Bewegungskonjunkturen nicht blind weitermachen, die Theorie darf nicht nur für legitimatorische Zwecke verwendet werden, sondern muß einen eigenen Beitrag leisten. Und da sind wir im Laufe der achtziger Jahre immer mehr auf das Problem gekommen, daß der Marxismus eine Leiche im Keller hat, nämlich die Kritik der Warenform, der abstrakten Arbeit, der Geldform, welche zu flächendeckenden Systemen nur durch das Kapitalverhältnis werden konnten.

STEFAN AMZOLL: Auf der Fläche des Hundertmarkscheins in DDR-Währung war der Kopf von Karl Marx drauf.

ROBERT KURZ: Das machte eigentlich schon klar, dass etwas nicht stimmen kann, dass mit einem Kernpunkt der Marxschen Kapitalismuskritik einerseits so kritiklos verfahren, er andererseits ins Philosophische, Esoterische abgeschoben wurde. Marx sagt ganz klar, eine Gesellschaft, die auf dem Wert beruht, das sei Kapitalismus. Und in der Kritik des Gothaer Programms formuliert er es noch klarer: schon die erste Stufe, der Eintritt in den Sozialismus, ist die Aufhebung der Warenform. Das waren Schlüsselerkenntnisse. Und vor diesem Hintergrund haben wir dann angefangen, die so genannte Sowjetökonomie aufzuarbeiten. Die der UdSSR und im weiteren Sinne des gesamten real existierenden Sozialismus, inklusive der nationalen Befreiungsbewegungen, wo ja immer die Sowjetökonomie, der Staatssozialismus ein gewisses Vorbild waren. Und wir haben versucht, das Ganze nicht bloß einer philologischen Kritik zu unterziehen, sondern eben auch historisch einzuordnen.

STEFAN AMZOLL: Daß das eine eigene Geschichte hat, ist in Ihrem Buch »Der Kollaps der Modernisierung« von 1991 dargestellt worden.

ROBERT KURZ: Ja, aber die Geschichte hat einen langen Vorlauf. Es hat ungefähr zehn Jahre gedauert, bis wir dazu durchgestoßen sind, dieses System als ein System nachholender Modernisierung zu sehen, als ein System nachholender Inwertsetzung, nachholenden Hineinkommens in diese Form, die eigentlich aufzuheben wäre. Das war für uns ein Zugang, der in breiteren linken Kreisen auch bekannt ist als Wertkritik, als Kritik des warenproduzierenden Systems, wo für uns die durchaus verschiedenen, aber letztlich auf gleicher qualitativer Grundlage beruhenden Formen des westlichen Konkurrenzkapitalismus und des östlichen Staatskapitalismus auf einen Nenner zu bringen waren.

STEFAN AMZOLL: Der Ansatz war Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre aufgefallen. Vor allem durch das Buch »Kollaps der Modernisierung«. Waren Sie da aus Ihrer, wie Sie sagen, Katakombenexistenz heraus?

ROBERT KURZ: Das kann man sagen. Die Linken waren ja, auch die radikalen Linken, reihenweise in die Knie gegangen, auch die DKP-Akademiker. Ich habe noch eine schöne Sammlung daheim mit Aussagen, von der »Wirtschaftswoche« bis zu den einschlägigen linken Gazetten, die zeigen, wie bedingungslos kapituliert wurde. Da ist die radikale Kehrtwende sehr aufgefallen, das Umdrehen des Spießes.

STEFAN AMZOLL: Zu den Begriffen abstrakte Arbeit und Warenform. Die Warenform hat ja selber eine Geschichte. Marx hat sie exemplifiziert. Mich würde interessieren: Was lag historisch davor, bevor diese Kategorien flächendeckend griffen? Das »Schwarzbuch« ist ja ein historisches Buch.

ROBERT KURZ: Ich sehe grundsätzlich ein Problem, dass man die Marxsche Theorie nicht als ein monolithisches, geschlossenes Ganzes nehmen kann, sondern dass da zwei Stränge wirksam sind: Der eine ist das liberale Erbe. Marx ist ein Dissident des Liberalismus wie alle linken Intellektuellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Und dieses liberale Erbe ist die Tradition, die sich dann innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Kategorien bewegt hat, wo abstrakte Arbeit, Wert, Ware, Geld und Markt, Staat, Demokratie ein kategorialer Zusammenhang sind, in dem man sich bewegt, der quasi neutral oder überhistorisch erscheint oder zumindest als etwas, das nicht in Frage gestellt werden kann, oder vielleicht erst in ferner Zukunft. Dieser Strang verkörpert im Denken von Marx nicht die Aufhebung der Wertform, sondern die Kritik des Mehrwerts. Eduard Bernstein und viele andere konnten nur in diesen Wertkategorien denken und sind auch nie aus dieser Identität herausgekommen. Der zweite Strang ist der Marx, der mit diesem Denken des Arbeiterbewegungsmarxismus überhaupt nicht kompatibel ist.

STEFAN AMZOLL: Worauf bezieht sich dieser andere, dieser »esoterische « Marx, dieser Radikalkritiker der kapitalistischen politischen Ökonomie?

ROBERT KURZ: Er bezieht sich in seiner Kritik zum Beispiel auch auf die Arbeit als Abstraktum. Man kann durchaus bei ihm, wenn man philologisch vorgeht, Aussagen finden, wo er sagt: die Arbeit als solche ist das entmenschende Prinzip, das müsse aufgehoben, abgeschafft werden. Das steht nicht nur in den Frühschriften. Marx sagt, hinter dem Rücken der Beteiligten finde etwas statt, stelle sich etwas her, und das sei nicht nur die Summe der Einzelhandlungen, sondern das sei ein eigener objektivierter Zusammenhang, der den Individuen gegenübertritt als fremde Macht. Das ist eben jene Fetischform der Wertverwertung, das Geld auf sich selbst zurückgekoppelt als Selbstzweck, als eine gesellschaftliche Maschine, als ein »automatisches Subjekt«; dies ein Ausdruck von Marx.

STEFAN AMZOLL: Und da ist dann die historische Frage, wie das überhaupt in die Welt gekommen ist?

ROBERT KURZ: Das teilt sich auch wieder auf. Einerseits hat Marx diesen liberalen Fortschrittsbegriff - er verlängert den des Liberalismus und der Aufklärungsphilosophie: die Menschheit entwickelt sich linear-fortschrittlich von quasi tierischen Anfängen über eine aufsteigende Linie bis zum Kapitalismus, zum modernen warenproduzierenden System als Krönung der Menschheitsgeschichte, und dann geht es nicht mehr weiter. Marx verlängert das dann nochmal, auch in dem Gedankengang der aufsteigenden, linearen Fortschrittsentwicklung, so dass der Kapitalismus in der Betrachtungsweise sozusagen eine notwendige Durchgangsstufe ist. Und da, wo er noch nicht entwickelt ist, da muss er dann eben entwickelt werden, auch, wenn man schon weiß, dass er dann selber wieder aufzuheben ist.

STEFAN AMZOLL: Mit dem inhärenten Potential des Kapitalismus, das, einmal dialektisch aufgesprengt, dann zum Sozialismus führen würde.

ROBERT KURZ: Genau. Obwohl Marx da offene Stellen lässt. Zum Beispiel bei der Debatte mit Vera I. Sassulitsch und den Volkstümlern, wo er sagt, es müsste nicht unbedingt sein, dass überall diese lineare Entwicklung vor sich gehe, man könne vielleicht auch in der Verknüpfung von westlicher Arbeiterbewegung und russischen bäuerlichen Selbstverwaltungsvorstellungen etwas zusammenbringen, was es dann nicht notwendig macht, den Durchlauf mechanisch einfach zu wiederholen. Oder wenn man sich sein Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation anschaut, dann hört sich das auch nicht nach notwendiger Entwicklung an, sondern da kommt richtig auch die Wut aus dem Bauch, nämlich wenn er grauenhafte Vorgänge skizziert, die Teil der Vorgeschichte für die angeblich notwendige kapitalistische Produktionsweise sind. Da tun sich Widersprüche auf.

STEFAN AMZOLL: Die Frage stellt sich, wie eine differenzierte geschichtliche »Entwicklungslogik« auszusehen hätte beziehungsweise zu definieren wäre.

ROBERT KURZ: Es ist einfach nicht geklärt, wie das jetzt in eine geschichtsphilosophische Logik zu rücken wäre, wie man das jetzt anders aufziehen könnte. Momentan würde ich das erstmal offen lassen. Auf jeden Fall wäre schon der Gedanke da, dass es diese lineare Fortschrittslogik so nicht gibt, daß diese eiserne Notwendigkeit des Kapitalismus so nicht besteht.

STEFAN AMZOLL: Diese Linearität, denke ich, wurde von Hegel und von Marx, der jenen, wie geschrieben steht, vom Kopf auf die Füße gestellt habe, ja gar nicht so sehr strapaziert, sondern vielmehr die Dialektik einer widersprüchlichen Bewegung akzentuiert. Und da ist ja der Satz grundsätzlich, daß jedes Ding seinen Gegensatz in sich habe, mit ihm schwanger gehe. Bei Ihrem Buch, zumindest im zweiten Teil, vermißt man diese Dimension etwas. Sie geben eine klare Negativbilanz des Kapitalismus, während gegenteilige Momente, nicht mißzuverstehen als »positive« oder »harmonistische« Kehrseiten, kaum entwickelt sind.

ROBERT KURZ: Das Buch setzt ein mit dem Übergang vom Absolutismus zum Liberalismus und zur ersten industriellen Revolution. Das wäre auch noch ein eigenes Thema; ich habe als Extraprojekt auch vor, diese Vorgeschichte für sich noch einmal aufzurollen. Und da ist die Grundthese die, dass es nicht einfach die Ausdehnung von Handelsbeziehungen und von Warenproduktion war, sondern dass der eigentliche »take off« die politische Ökonomie der Feuerwaffen war.

STEFAN AMZOLL: Was hat diese Militärökonomie gebracht, diese militärische Revolution der Neuzeit?

ROBERT KURZ: Sie hat etwas völlig Neues in die Gesellschaft gebracht. Sie hat Umwälzungen nach sich gezogen, die tief ins Ökonomische und Soziale hineingereicht haben, und sie hat diesen Geldhunger, diese Unterwerfung der Gesellschaft unter die Abstraktion des Geldes überhaupt erst auf den Weg gebracht. Die praktischen Konsequenzen einer politischen Ökonomie der Feuerwaffen waren schon bald mit den agrarischen Gesellschaftsverhältnissen nicht mehr vereinbar. Zentralisation und Auspressung der Gesellschaft mußten ja in Gang gehalten und die dazugehörigen, für die damalige Zeit ungeheuren Apparate aufrecht erhalten werden. Dazu dienten stehende Heere, Rüstungsproduktion, später Rüstungsindustrie. Vorher hatte dieser Komplex keinen eigenen ökonomischen Stellenwert. Nun aber kommt dieser im großen Maßstab zum Zuge, wo die Logik von G - W- G' (Geld - Ware - Mehrgeld), in der das Geld selbst auf sich rückgekoppelt wird, jenes »automatische Subjekt« wird, das die ganze Gesellschaft ergreift. Etwas, was vorher nur in der Zirkulation präsent war. Damit kann übrigens auch erklärt werden, warum Marx nie von Kapitalismus, sondern immer von kapitalistischer Produktionsweise spricht. Weil für ihn, und das ist ja auch richtig so, die Kapitalform als Geldform, auf sich selbst bezogen, auch schon vorher existiert hat, wenn auch völlig marginal, eben in der Zirkulation, als das Kaufmannskapital und das zinstragende Kapital.

STEFAN AMZOLL: Was ja auch häufig zu gewissen Friktionen geführt hat, wenn man an die Schuldenkrisen im Altertum denkt.

ROBERT KURZ: Ja, aber sie haben nie die Produktionsweise als solche ergriffen. Sie sind immer in der Zirkulation verblieben.

STEFAN AMZOLL: Also erstmals ergreift diese Logik die Produktionsweise der Gesellschaft selber.

ROBERT KURZ: Ja, und zwar die gesamte Produktion und Reproduktion des Lebens. Zuerst, wie gesagt, mit dem »take off« der frühmodernen Militärökonomie, dann durch die, so könnte man das beschreiben, Entstehung eines Systems, das mit den Interessen der Urheber dieser dynastischen Militärökonomie so weit kollidiert, dass jenes dem Geldhunger der Militärregimes entsprungene Verwertungssystem »hinter dem Rücken« zu einem verselbständigten Prozess wird. Ein Prozess, der den Absolutismus schließlich selber in die Luft sprengt und den Liberalismus hervorbringt.

STEFAN AMZOLL: Worin Freiheit formuliert wird als ein Sichbewegen in diesen Systemkategorien.

ROBERT KURZ: Das ist die Paradoxie. Die taucht da auch auf. Von daher kommt ja auch eine ideologische Entwicklung in Gang, die den traditionellen Sozialismus hervorgebracht hat.

STEFAN AMZOLL: Sie versuchen in Ihrem Buch aus diesem Kategoriensystem gleichsam »auszusteigen«.

ROBERT KURZ: Ja.

STEFAN AMZOLL: Sowohl dem kapitalismusgängigen als auch dem arbeiterbewegten.

ROBERT KURZ: Wobei das kategorial identisch ist.

STEFAN AMZOLL: Mich würde zunächst interessieren, was bei Ihnen die Grundüberlegung ist für diesen Quasi-Ausstieg, auch, welche Risiken Sie sehen, wenn man das konsequent betreibt. Daran knüpft sich die Frage, ob man wissenschaftsmethodisch nicht eine Doppelstrategie entwickeln müsste: einerseits der immanenten Widersprüchlichkeit der Geschichte immanent zu folgen, auch, um zu verhindern, dass die praktisch-realen Bewegungsformen aus dem Blick treten, und anderseits von außen an die geschichtliche Realbewegung treten, mit neuen Kategorien, die es gestatten, die Sachverhalte fremd und darum genauer erkennbar zu machen.

ROBERT KURZ: Dieses »von außen« ist natürlich nur ein virtuelles. Es ist im Grunde die kritische Betrachtung der eigenen Reproduktionsform, auch Bewusstseinsform. Wir sind ja alle sozialisiert in diesen Kategorien. Und das ganze gesellschaftliche Leben bewegt sich darin.

STEFAN AMZOLL: Was aber ist die Grundfrage, auch methodisch, von der Vorgehensweise her?

ROBERT KURZ: Ich denke, dieses Paradigma, daß man diese immanente Widersprüchlichkeit, diese in sich selbst widersprüchliche Bewegungsform des Kapitals positiv nimmt, greift nicht mehr. Positiv meint, im Sinn eines Klassenstandpunkts, im Sinn eines bestimmten Standpunkts innerhalb dieses Systems. Das ist ja der Klassenstandpunkt, die Klasse ist ja konstituiert vom Kapital, durch das Kapital.

STEFAN AMZOLL: Sie sagen, dieses Paradigma sei nun überflüssig geworden. Wenn überhaupt, welches gilt statt dessen und wie ließe es sich beschreiben?

ROBERT KURZ: Das ist die andere Seite des Zugangs in meinem Buch, nämlich die Entwicklung der inneren Krisenpotenz, der inneren Selbstwidersprüchlichkeit des Systems. Einerseits, dass es auf der Vernutzung menschlicher Energien beruht, der Verwandlung menschlicher Energie in Geld, andererseits, dass es den menschlichen Faktor aus dem Produktionsprozess sukzessive durch Verwissenschaftlichung und Anwendung von Technologie herauslöst. Das ist das, was Marx in den »Grundrissen« sehr klar schon entwickelt hat, und wo ich eben zu zeigen versuche, dass in der dritten industriellen Revolution genau die innere Grenze, die Marx eigentlich schon prognostiziert hat, dieses Selbstwiderspruchs erreicht wird, wo keine weitere Entwicklung mehr stattfindet, wo das System keinen Spielraum mehr hat, diesen Widerspruch noch einmal weiter zu produzieren, wo es nur noch diesen Selbstwiderspruch ausagieren kann.

STEFAN AMZOLL: Das wirft die Frage auf: Ist es denn überhaupt noch möglich, zu agieren, sowohl immanent sich zu wehren als auch grundsätzlich andere Formen von Gesellschaft ins Auge zu fassen?

ROBERT KURZ: Ich denke, beides ist durchaus nach wie vor möglich, aber eben nur noch negativ, negativ in dem Sinne, daß der Kapitalismus an sich schon und gerade da, wo er seine innere Grenze erreicht hat, unaufhörlich Leiden, Brüche, Widersprüche, Katastrophen erzeugt, die entweder emanzipatorisch ausgetragen werden, das heißt mit einer neuen, weitergehenden Zielsetzung, nämlich mit der Aufhebung dieses Systems selber im Blick. Und dann durchaus auch rückgekoppelt auf immanente Kämpfe, immanent jetzt nicht mehr im Sinne eines positiven Standpunkts innerhalb des Systems, sondern der Abwehr von Zumutungen, dem Nichtmitmachen, dem Sich-Verweigern von Zumutungen, sozusagen der bewussten Verantwortungslosigkeit gegenüber diesem System. Der positive Standpunkt, also die Möglichkeit, eine Position noch positiv besetzen zu können, der wird dann obsolet.

STEFAN AMZOLL: Diese Konstruktion der Negativität kommt ja vor allem von der Kritischen Theorie her. Adorno sah sich angesichts der katastrophalen Erschütterungen, die das Ganze unwahr gemacht hätten, genötigt, alle Positivität abzuwerfen. In Marcuses »Der eindimensionale Mensch« begegnet ähnliches.

ROBERT KURZ: Sie haben das im Blick gehabt, aber sie haben es nicht ausgeführt. Man kann es durchaus so sagen: Ich beziehe mich eben nicht nur auf Marx, sondern auch auf die Kritische Theorie. Das war für mich in der Tat eine weitere Entwicklungsstufe, wo dieses Setzen auf den immanenten Klassenstandpunkt und der Gedanke, diese innere Dynamik noch weiter treiben zu können, verworfen wurde. Nur endete das nicht in der kategorischen oder kategorialen Kritik, sondern es blieb sozusagen in der Schwebe.

STEFAN AMZOLL: Alle Kritik lief leer im Gehäuse der Hörigkeit.

ROBERT KURZ: Sicher, man kann das auch anders herum formulieren: diese immanenten Gegenbewegungen sind zu ihrem Ziel gekommen. Sie haben das, was ihnen ursprünglich verweigert worden ist, nämlich die Teilhabe, bekommen. Sie sind in die Falle der Teilhabe gelaufen. So könnten wir das vom heutigen Standpunkt aus formulieren.

STEFAN AMZOLL: Von heute aus, wo Arbeiterbewegungen im großen Stil wie weggeblasen erscheinen?

ROBERT KURZ: Das geht viel weiter zurück. Das fängt schon an mit der Geburt der modernen Arbeiterbewegung in der bürgerlichen Revolution von 1848, seit sich Arbeiterparteien und Gewerkschaften gründeten, wo die Perspektive gegenüber den Rebellionen gegen das System, die sich nicht zur Arbeiterklasse machen lassen wollten, längst abgetan war und die neuen Bewegungen schon von der Fabrikdisziplin, der Disziplinierung der abstrakten Arbeit ergriffen waren. Und dazu gehörte unter anderem die Einbeziehung dieser unterständischen Massen in die staatsbürgerlichen Formen. Zum Beispiel im Kampf um das Wahlrecht, im Kampf um Rechte schlechthin. Die Falle besteht schon darin, dass etwa das Versammlungsrecht - jedenfalls unter diesen Bedingungen, wo das System schon weit fortgeschritten war und auch im Bewusstsein sich objektiviert hatte, vor allem im Bewusstsein der Lohnarbeiter selber - scheinbar selbstverständlich war, um sich eben immanent bewegen zu können als Rechtssubjekt. Es ist eben auch eine Falle. Denn indem ich mich nicht einfach versammle, wenn ich ein Anliegen habe, sondern eine Instanz anerkenne, die mir erst das Recht geben muss, dass ich mich versammeln darf, dann habe ich eigentlich schon akzeptiert, dass ich überhaupt nur meine Angelegenheit formulieren darf im Rahmen dessen, was diese Instanz, die mir das Recht gibt oder nicht, hervorgebracht hat. Das ist schon der Prozess der kritischen Integration. Integration nicht in dem Sinn, als hätte das auch was ganz anderes sein können, sondern es war ja auch der eigene Impetus, nämlich voll anerkanntes Subjekt zu werden, aber Subjekt in diesem System der Wertverwertung. Im Grunde lief hierüber die Akzeptanz der Lohnarbeit als Voraussetzung des Lebens überhaupt.

STEFAN AMZOLL: Ist auch so beabsichtigt?

ROBERT KURZ: Sicher ist das beabsichtigt. Denn wenn man sich anschaut, was wirklich passiert ist, wie der erste Schritt in die moderne Massendemokratie genau im Ersten Weltkrieg erfolgt ist, und ohne diesen genau alles das nicht möglich gewesen wäre, was dann die moderne Demokratie des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat, dann, denke ich - und ich hoffe auch, das so unmissverständlich dargestellt zu haben -, wird einiges klar über den Charakter dieser demokratischen Ideologie und Realität.

STEFAN AMZOLL: Und seit 1917/1918 an? Die Zweifel Rosa Luxemburgs, die Rolle der KPD?

ROBERT KURZ: Diese Gruppe war eine winzige Minderheit. Es war eine Randströmung, die einzige. Und Rosa Luxemburg war ja auch eine Lichtgestalt im Sinne eines theoretischen Kopfes. Sie ist als einzige an die Fragestellungen überhaupt herangekommen, die damals virulent waren, sowohl krisentheoretisch als auch ihr Begriff von der Selbsttätigkeit der Massen, der Abwehr dieser Systemform usw.

STEFAN AMZOLL: Und dann noch den Schädel eingeschlagen zu kriegen.

ROBERT KURZ: Aber sie war der theoretische Kopf, der am ehesten dazu fähig gewesen wäre, die Reaktion des Gesamtsystems unter Einschluss der großen Mehrheitssozialdemokratie und ihrer Eliten, ihres Apparats zu benennen. Und ist ja dann auch buchstäblich zertreten worden. Und was dann übrig blieb, der Organisationszusammenhang, das lief dann - die Brandler-Leute haben das, denke ich, zu Recht kritisiert - auf die Verwandlung der Kommunistischen Parteien und speziell der KPD in einen Vorposten, in eine Agentur der Sowjetunion hinaus. Als eigenständige Kraft war die KPD nicht mehr entscheidend handlungs- und auch denkfähig. Also die Geschichte der Kommunistischen Parteien der zwanziger Jahre ist ja genau dieser Prozess, dieses Problem, worin sich auch Objektives spiegelt, nämlich, dass die Systemüberwindung in diesen Begriffen und Programmen, wie sie die Kommunistischen Parteien, angelehnt an die Ergebnisse der Oktoberrevolution, formuliert haben, einfach nicht zu diesen westlichen esellschaftssystemen gepasst hat.

STEFAN AMZOLL: Das war das Problem, wie soll man Felder besetzen, auch nationale Felder, ein Problem sowohl in den zwanziger Jahren, als die Nazibewegung hochkam, als auch heute.

ROBERT KURZ: Die Nation ist kein neutrales Feld, das man links besetzen könnte, sondern eine kapitalistische Realkategorie und gleichzeitig ein genuin rechtes ideologisches Muster. Man wird dann rechts. Aber noch zur Massenbewegung der KPD. Aus soziologischen Untersuchungen geht eindeutig hervor, dass diese Massenbasis aus Arbeitslosen, Deklassierten bestand, während die noch in Lohn und Brot befindlichen Facharbeiter und Techniker wenn überhaupt sozialdemokratisch orientiert geblieben sind.

STEFAN AMZOLL: Unleugbar. Aber nicht unbedeutenden Zulauf hatte sie überdies aus Kreisen von Intellektuellen, Kulturleuten, Künstlern aller Sparten, ein Ganzteil davon organisiert in Bünden, junge Wissenschaftler, Philosophen wie Korsch, Kuzcynski, Benjamin, Sternberg, Bloch usw. Fast alle späteren Exilanten nach West wie Ost hatten mehr oder minder einen kommunistischen Hintergrund. Das waren Tausende. Man muss fragen, warum das so war.

ROBERT KURZ: Wobei man sagen muß: Das war ja eine Riege von Linksintellektuellen, die literarische Kompetenz hatten, aber wenige Theoretiker waren unter ihnen, wenn man von Korsch einmal absieht.

STEFAN AMZOLL: Und Bloch, Lukacs?

ROBERT KURZ: Lukacs wurden ja auch gleich die Ohren gestutzt. Das sind einige wenige, während das Gros dieser Linksintellektuellen mehr literarische Intelligenz war. Und an den Universitäten, der Intelligenzia im allgemeinen, unter Einschluß der technischen Intelligenz, haben die ja kein Bein auf dem Boden gehabt. Nicht aus ihrer Schuld heraus, sondern das war die deutsche Geschichte, wo die Antisemiten führend waren, und die Nazis haben da ihre Bataillone gehabt, gerade im akademischen Bereich.

STEFAN AMZOLL: Es geht um den nötigen Respekt vor den historischen Fakten. Nicht dass Sie dazugehören, im Gegenteil, aber heutzutage ist ja jede Schluderei, jede Reduzierung, jede Verharmlosung oder Aufbauschung erlaubt. Jeder tüncht sich sein eigenes Geschichtsbild zurecht.

ROBERT KURZ: Mir geht es darum, auf diese ganze Geschichte einen neuen Blick zu werfen. Da bleibt es nicht aus, daß die Darstellung in mancher Hinsicht ungerecht wirkt, schon weil sie von der Gewohnheit abweicht. An der Rolle Rosa Luxemburgs habe ich versucht, dieses andere Moment zu zeichnen.

STEFAN AMZOLL: Die wehrhafte Demokratie tritt in solchen Momenten auf den Plan, die bis heute den Revolver locker in der Tasche hat.

ROBERT KURZ: Für mich ist zugleich wichtig, die Weimarer Republik wesentlich anders zu erfassen, nicht so, als wäre da die Wiege der deutschen Demokratie gewesen, und jetzt würde Deutschland wieder diese Demokratie verkörpern. Das zeugt von Begriffslosigkeit. Man muß klipp und klar sagen: Die Weimarer Demokratie hat es überhaupt nicht verdient, abgefeiert zu werden, die hat sich von vorn herein schon selber zerstört gehabt, denn die Menschenopfer Liebknecht und Luxemburg waren schon in ihre Grundmauern eingemauert. Und eine Linke, die das nicht mehr sieht, die macht zwar ihre Gedenkveranstaltungen, aber sie steht auf dem Boden dessen, wodurch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht umgebracht worden sind.

STEFAN AMZOLL: Sie schreiben, aus dem Schoß der Demokratie kam das braune Monstrum.

ROBERT KURZ: Es kam nicht vom Himmel, es war nichts Außerirdisches, es war nichts aus einer grundsätzlich anderen Tradition, sondern das geht zurück bis auf die demokratische Tradition der 48er Revolution, der Wagner und Co. Der Antisemitismus war Bestandteil der nationaldemokratischen Bewegungen. Dieses Auseinander-Dividieren-Wollen, als wäre die Revolution 1848 ein Versprechen gewesen, und dann wären irgendwann die schlimmen Nazis gekommen und hätten die schöne Weimarer Republik kaputtgemacht, die endlich versucht hätte, die schönen Ideen von 1848 zu verwirklichen, dieses Auseinander-Dividieren-Wollen ist Geschichtsklitterung.

STEFAN AMZOLL: Nachholende Modernisierung ist Zentralbegriff bei Ihnen, schon im »Kollaps der Modernisierung«, jetzt - geschichtlich weitergreifend - im »Schwarzbuch«. In dessen zweiten Teil kommt eine starke kommunismuskritische Haltung rein. Sie sehen in der Modernisierungsgeschichte der UdSSR eine späte Kopie kapitalistischer Charaktere, so als wären die Entwicklungen ökonomisch und sozial identisch gelaufen, nur eben zeitverschoben. Was berechtigt dazu? Die DDR war anfangs überwiegend ein Agrarstaat. Vorgänge der Privatisierung und Rückübertragung, der Deindustrialisierung, der Rücktransformation Ostdeutschlands als Ganzes scheinen dem eher zu widersprechen.

ROBERT KURZ: Zunächst muß man sagen, die DDR ist ein Sonderfall, vielleicht auch noch die Tschechoslowakei. Denn der Begriff der nachholenden Modernisierung bezieht sich ja auf den Ursprung dieser staatssozialistischen Systeme des 20. Jahrhunderts, und der liegt natürlich vom Kapitalismus aus gesehen in der relativ unterentwickelten Peripherie. Deshalb: Nicht zufällig haben diese Ideen zündend in diesen Ländern gewirkt, in Russland, in China, in den ehemaligen Kolonien, wenn auch in verschiedener Art und Weise, in verschiedenen Formen. Und da, denke ich, kann man das sehr gut zeigen unter dem Aspekt nachholender Modernisierung. Das waren eben tatsächlich Entwicklungsregime. Sie hatten das Problem, sich einerseits mit Marxscher Theorie zu legitimieren, andererseits gerade bürgerliche Formen überhaupt erst auf den Weg zu bringen, also das warenproduzierende System, die Arbeitsverhältnisse mit Arbeitsverträgen, die Lohnarbeit der Form nach und dergleichen mehr. Das war ja auch so eine merkwürdige Gespensterdebatte in der Linken: Warum muss es auch im Sozialismus Warenproduktion geben? Wo schon im Ansatz das schlechte Gewissen durchschimmerte.

STEFAN AMZOLL: Im arbeitsteiligen Zusammenhang, in dem es in hochstrukturierten Gesellschaften abstrakte Arbeit wahrscheinlich immer geben wird. In der DDR suchte man Brücken in der Arbeitsteilung zu schlagen durch Wissen über Struktur und Sinn der Produktionssysteme. Das verfiel ja dann und wurde immer unglaubwürdiger, als Stagnation und Krise durchschlugen (wenn etwa wertvolle Waren zu Dumpingpreisen in Richtung Westen gingen, um Kredite termingemäß zurückzuzahlen).

ROBERT KURZ: Marx hat gezeigt, daß es schon in der Geschichte hochstrukturierte funktionsteilige Gesellschaften ohne Warenproduktion und damit ohne abstrakte Arbeit gegeben hat, und erst recht in einer postkapitalistischen Produktionsweise in neuer, höher entwickelter Weise geben wird. Ich denke, hochgradige Funktionsteilung und abstrakte Arbeit in eins zu setzen, hieße letzten Endes, die Produktivkräfte mit ihrer kapitalistischen Form in eins zu setzen. Das war ja der Widerspruch im so genannten Realsozialismus, bewusste gesellschaftliche Planung und Regulation der Ressourcen in ontologisierten kapitalistischen Formkategorien bewerkstelligen zu wollen. Daran mussten die Systeme letztlich scheitern, exekutiert durch die Anbindung an den Weltmarkt, nämlich durch den Verfall der terms of trade, der Außenhandelserlöse: Man musste immer mehr eigene Waren für immer weniger fremde Waren hergeben, was in die Schuldenfalle führte. Ursprünglich hatte dieses zum Scheitern verurteilte System seinen relativen Sinn eben nur unter dem Aspekt nachholender Modernisierung in Russland. Ich würde die Oktoberrevolution als die Französische Revolution des Osten eher sehen. Während in Ländern wie der DDR, und vor allem in der DDR, das ein Zwangsimport war, der aufgepfropft worden ist, aber nicht aus Jux und Tollerei der Sowjetunion, weil die das unbedingt wollte, sondern als Resultat des Zweiten Weltkriegs, im Grunde genommen als Resultat der Katastrophe des Nationalsozialismus, seiner Weltaggression.

STEFAN AMZOLL: Die Re-Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild setzte ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein.

ROBERT KURZ: Ja, aber in der Hinsicht spielt das keine Rolle. Das hat natürlich für die Entwicklungsproblematik der DDR sehr wohl eine Rolle gespielt, dass sie plötzlich abgeschnitten war vom Ruhrgebiet, dass sie ein eigenes Industriesystem aus dem Boden stampfen musste, dass auch die Braunkohleförderung her musste usw. Aber darum geht?s mir jetzt nicht, sondern um den Entwicklungsgrad der Gesellschaft, auf den eine Form aufgepfropft wurde, die überhaupt nur erklärbar ist aus einem ganz anderen Kontext. Das ist ein ganz anderer Zusammenhang, wo eine historische Ungleichzeitigkeit plötzlich auf die fortgeschrittene soziale und ökonomische Form selber noch einmal draufgepfropft wurde.

STEFAN AMZOLL: Es ist merkwürdig, dass die frühe CDU-Programmatik (zum Beispiel im Ahlener Programm 1945) Vorstellungen wie die Sozialisierung der Schlüsselindustrie mit verankert. Die Schuldfrage ging da noch in Richtung Großindustrie, die ja tatsächlich immense Verbrechen unterstützt hat. Und es ginge nicht, folgerte man vernünftigerweise, dieses Grundsystem bruchlos fortzusetzen.

ROBERT KURZ: Das wurde im Westen abgewürgt, sowohl innerhalb der CDU als auch von den Westmächten, den Alliierten. Und im Osten? Dort konnte sich das jedenfalls nicht eigenständig entwickeln, sondern es musste ja nach der Pfeife dieser Form tanzen, die aus der Sowjetunion übernommen worden ist.

STEFAN AMZOLL: Sie meinen die Bodenreform, die Begründung des Volkseigentums, die Bildung von Agrargenossenschaften, mit Gründung der DDR die Konstituierung des Staatssozialismus?

ROBERT KURZ: Ja, ich meine damit, dass es sich hier um keine wirkliche sozial-materielle Aneignung der Ressourcen durch die selbstorganisierten Gesellschaftsmitglieder handelte, sondern - bedingt durch die staatsapparative Form ebenso wie durch die Warenform - um einen rein formalen Akt, dem seine Unwahrhaftigkeit anzusehen war. Hinsichtlich der wirklich wichtigen Entscheidungsprozesse waren die Produzenten qua »Volkseigentum« kaum mehr beteiligt als die mittelalterlichen Bauern am Kircheneigentum qua Mitgliedschaft in der Christenheit. Übrigens hätte daran auch eine weitgehende »Demokratisierung« der staatsbürokratischen Strukturen nichts grundsätzliches geändert, denn die eigentlichen Entscheidungszwänge wurden ja zunehmend durch die Scheinobjektivität der Warenform und Weltmarktvermittlung vorgegeben, ablesbar an den quälenden »ökonomischen Reformen« mit immer größeren Zugeständnissen an Konkurrenz, verselbständigte Eigenbewegung des Geldes usw. längst vor dem Zusammenbruch.

STEFAN AMZOLL: Vielleicht wieder eine falsche Fragestellung, aber ein Rätesystem, gezimmert von oben oder von unten oder von unten oben, hätte im Nachkriegsdeutschland keinerlei Chance gehabt. In Heiner Müllers »Die Bauern« versucht ein Genossenschaftler, auf dem Rücken schwere Symbole preußisch-deutscher Erblast mitschleppend, die Freitreppe hinauf in die Zukunft zu schreiten. Er bricht zusammen.

ROBERT KURZ: Hier sind wir wieder bei dem Punkt, dass es ja um eine kritische Neubewertung geht, nicht um die unmögliche Verbesserung der Vergangenheit. Trotzdem lässt sich vielleicht sagen, dass damals zwar nicht der große Sprung aus dem warenproduzierenden System und aus der deutschen Geschichte hinaus möglich war, aber eine andere Weichenstellung innerhalb der gegebenen Konstellation durchaus nicht unmöglich, zum Beispiel eine größere Distanz zum Westen in der BRD, verbunden mit einer Abwehr der Remilitarisierung, wie auch eine andere innere Orientierung der DDR, etwa durch eine kritischere Haltung zur preußischen Tradition und durch die institutionalisierte Verarbeitung von Erfahrungen mit größerer »Öffnung nach unten«. Selbst scheinbar kleine alternative Entscheidungen hätten in einem halben Jahrhundert weiterer Entwicklung auch zu einer anderen Konstellation heute geführt. Aber es fehlte eben damals so etwas wie eine eigenständige Entwicklung, selbst vom Bewusstseinsstand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aus.

STEFAN AMZOLL: Welche Resultate dieser Vorgang des Aufpfropfens und nun nochmaligen Aufpfropfens zeitigte, liegt ja nun zutage.

ROBERT KURZ: Ich will das ja gar nicht leugnen, und das habe ich auch schon in früheren Büchern gesagt: Die Leute in Ostdeutschland sind mit der Wende vom Regen in die Traufe gekommen. Die DDR hat sich ja immer mehr zum Negativen entwickelt, die Zustände sind immer schlimmer geworden. Und 1989 hat sich die übergroße Mehrheit eingebildet, sie käme jetzt ins Konsumparadies. Nun hat Ostdeutschland mit die höchste Arbeitslosenrate in Europa, Deindustrialisierung im großen Stil hatte statt, es gibt sogar Verelendungstendenzen, etwas, was man bestimmt nicht erwartet hatte. Daran muss man verschiedene Fragen stellen, zum Beispiel nach dem Untergang des Staatssozialismus. Man kann es nicht, denke ich, daran messen, dass man sagt, es gab empirisch Lebensformen, Daseinsweisen, die noch relativ besser waren, als wir sie jetzt haben, nachdem wir eben in den Westen eingemeindet worden sind. Sondern man muss fragen, warum ist das untergegangen. Und meine These ist: Dieser Staatssozialismus ist untergegangen, weil er sich an den kapitalistischen Kategorien hat messen lassen. Warum sollte er sonst untergegangen sein? Hätte er sich an anderen Kategorien gemessen, hätte er auch anders ausgesehen, hätte er auch auf der stofflich-materiellen, sozialen Ebene, auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Formen Alternativen entwickeln müssen. Konnte er aber nicht, weil er aus diesem System nachholender Modernisierung nicht rauskam. Das geht bis hin zur Nachahmung westlicher Konsumprodukte, zur Nachahmung des Individualverkehrs, eben bloß in einer mickrigeren Variante. Und die Menschen im Osten, speziell natürlich an der Frontlinie in der DDR, haben ziemlich bewusst immer nur das relativ Mickrigere wahrgenommen in Bezug auf den Westen. Warum konnte der Sozialismus denn seinen Leuten nicht bewusst machen, welche Vorteile - einmal auf die platte Formel gebracht - sie dafür zum Beispiel haben, dass sie nicht der Arbeitshetze unterworfen sind wie im Westen, dass sie in der Fabrik, in der abstrakten Arbeit, viel größere Spielräume hätten, dass sie vielleicht nicht den BMW haben können, sich dafür aber nicht blöd schuften müssen?

STEFAN AMZOLL: Dazu - ich spekuliere - hätte es im RGW-Bereich sowohl andere Strukturen geben als ökonomisch halbwegs ausgeglichen zugehen müssen.

ROBERT KURZ: Es gab überhaupt keine offene Debatte darüber, und die hätte auch nur stattfinden können, indem man selber schon im Grunde genommen das ganze System in Frage stellt, nicht orientiert am Westen, sondern orientiert an einer viel radikaleren Abkehr vom Westen. Und das ist eben nicht geschehen und konnte sich unter den gegebenen Bedingungen auch gar nicht entfalten. Daß diese Leistungshetze nicht in dem Maße stattfand, das war ja nicht die bewußte Alternative, sondern eher eine unfreiwillige Nebenwirkung. Man kann das eigentlich nur erklären erstens mit dem Verhältnis nachholender Modernisierung an der Peripherie, zweitens dem Import nach Deutschland und drittens der Entstehung von Substrukturen im Rahmen eines Staates als Generalunternehmer, was aber so nicht gewollt war. Vielleicht hätte man es doch lieber gehabt, dass die Leute sich für den Sozialismus aufopferten, statt das genau anders herum zu drehen und zu sagen: Sozialismus heißt gerade, dass man nicht so blödsinnig fleißig sein muss für irgendwelche abstrakten Zwecke, sondern vielmehr auch Muße haben kann.

STEFAN AMZOLL: Auch, weil die Leute - was ja zumeist bestritten wird - dazu reif wären, und die Produktivkräfte, sobald sie sinnvoll verwendet würden, diesen Überschuss ermöglichten?

ROBERT KURZ: Andererseits: Die Menschen sind heute nicht fleißiger als früher. Trotzdem hat sich gerade durch massenhafte Beseitigung von Arbeit der Arbeitszwang erhöht. Sie sprechen von dem Manager, der sich glücklich wähnt, dass er sich 18 Stunden am Tag Körper und Geist wund schuften darf. Oder nehmen wir den kreativen, dynamischen Jungdesigner, der monatelang an dem Modell eines Werbespots sitzt, bis er die einfachste, kommerziell erfolgsträchtigste Lösung gefunden hat, während er dabei so gut wie kein Hirnschmalz verausgaben musste. Dem gegenüber steht die Erfahrung einer relativen Faulheit im Sozialismus, wenn auch keiner bewussten, sondern einer Faulheit auf Grund struktureller Unzulänglichkeiten. Diese Faulheit war subjektiv keine schlechte Geschichte.

STEFAN AMZOLL: Kurz nach der Wende sagte ein Publizist, die neuen Arbeitslosen in der DDR sollten diese freie Zeit zur Selbstbesinnung nutzen und sich freudig ausruhen von diesen öden Rhythmen der Arbeiterei. Das klingt zynisch, scheint aber was dran zu sein. Oder?

ROBERT KURZ: Ich glaube nicht, dass ein Arbeitsloser unter kapitalistischen Bedingungen allzu viel Muße hat. Der wird gehetzt und ist unter ständiger Anspannung, und das ist das Gegenteil von Muße.

STEFAN AMZOLL: 1990 traktierte man die Ost-Arbeitslosen, die erste Welle lief da an, aus guten Gründen keineswegs so wie heute.

ROBERT KURZ: Trotzdem, ich denke, man sollte die ganze Sozialismusgeschichte nicht so zu verarbeiten suchen, dass man unvermittelt empirische Vergleiche anstellt, ohne die Bedingungen zu bedenken. Man kann nicht sagen, an diesem Staatssozialismus war noch etwas relativ besser, weil nicht so viele arbeitslos waren und man mehr Muße hatte, sondern man muss fragen, warum hatte man mehr Muße. Nicht, weil das offiziell in der Gesellschaft als Selbstbewusstsein entwickelt war, sondern, wie gesagt, eher die unfreiwillige Nebenwirkung bestimmter Strukturdefizite und gleichzeitig aber auch die Bedingung für den Zusammenbruch.

STEFAN AMZOLL: Nach der Katastrophe des Hitlerkrieges wären, denke ich, konsequent antikapitalistische Alternativen in Ost wie West mit Sicherheit ins Leere gelaufen. Mehrheiten gab es hierfür ohnehin nicht, konnte es auch nicht geben. Und wenn doch, fraglich, ob solche dann überhaupt gewollt worden wären. Von keiner bestehenden Kraft des Nachkriegs wären umstürzende Handlungen zu erwarten gewesen. Geschichte also ein einziges Scheitern? War der kapitalistische Maßstab absolut nicht wegzukriegen?

ROBERT KURZ: Ich glaube, man muss hier einen Unterschied machen. Nachdem die Arbeiterbewegung schon von der Wurzel, von 1848 und ihren liberalen Ursprüngen her, in den kapitalistischen Maßstäben dachte und handelte, diese Geschichte sich schon objektiviert hatte, war es zumindest im Sinne der subjektiven Zielsetzung einer sozialen Emanzipation von den kapitalistischen Zwängen ein Scheitern; die weder theoretisch noch im Handeln bewussten kapitalistischen Maßstäbe waren nicht wegzukriegen. Aber alle Wendepunkte mussten trotzdem nicht genau so verlaufen, wie sie verlaufen sind, weder 1914 noch 1933 noch 1945 beziehungsweise 1948/49. Es war nicht determiniert, dass Hitler siegen musste, ebenso wenig musste die durchaus nach 1945 in Ost und West vorhandene antikapitalistische Massenstimmung in genau die Entwicklung einmünden, die wir kennen. Auch innerhalb der kapitalistischen Maßstäbe war immer auch eine andere Tendenz möglich, solange sich das System noch entwickeln konnte. Das heißt, wir könnten heute, aus meiner Sicht am Ende dieser Entwicklung, auch besser vorbereitet dastehen, als es der Fall ist.

STEFAN AMZOLL: Also kein Zurück mehr, ein für allemal nicht?

ROBERT KURZ: An der Schwelle des 21. Jahrhunderts gibt es kein Zurück mehr, jetzt kann es nur noch darum gehen, an die Wurzel des Problems zu kommen. Und das ist natürlich schmerzhaft, weil, da muss man Grundsätzliches in Frage stellen. Sich messen zu lassen an den Kriterien des Kapitalismus, das muss grundsätzlich aufgegeben werden. Es geht ja nur, wenn man selber Teil davon ist, der Form nach. Und wenn ich der Form nach Teil dieses Weltsystems bin und mich darin vermitteln muss, bis zu meinen eigenen und sozialen, ökonomischen Formen hin, dann werde ich durch und durch danach gemessen. Und das geht dann schief. Für die Sowjetunion, letztlich auch für China (das ist ja nur noch dem Namen nach Sozialismus, das ist ja eigentlich Wild-West-Kapitalismus) und für große Teile der Dritten Welt muss man sagen: die nachholende Modernisierung ist gescheitert. Die DDR hingegen war schon immer in der Zwittergeschichte. Was da war, war keine nachholende Modernisierung, sondern das war das Aufgepfropftsein eines Systems nachholender Modernisierung auf ein Land, das schon längst modernisiert war.

STEFAN AMZOLL: Ich glaube, Sie zu verstehen. Das gesamte kapitalistische Terrain zu betrachten, ist auch deshalb so problematisch, weil nach Lage der Dinge Umwälzungen nicht in Sicht sind. Ganz zu schweigen von einem Systemwechsel mit substantiellen Folgen. In dem Zusammenhang möchte ich die Frage nach den Maßstäben stellen. Sie nennen im Vorwort des »Schwarzbuchs« zwar keinen positiven Maßstab, aber Sie sagen, das, was verrottet ist am Kapitalismus, und das ist das meiste, das kann nicht der Maßstab sein. Welcher positive Maßstab wäre gleichwohl zu setzen, damit man überhaupt ein Bezugssystem hat, woran man Charakter und Geschichte des Kapitalismus messen kann?

ROBERT KURZ: Ich denke, das sind zwei Dinge im wesentlichen. Das eine ist der Anspruch, daß die Gesellschaft sich bewusst selbst verwaltet, dass sie nicht einem anonymen Systemzusammenhang ausgeliefert ist - dass an die Stelle der anonymen Konkurrenzverhältnisse, der angeblich wunderbare Wirkungen zeitigenden »unsichtbaren Hand«, die bewusste Sachenverwaltung der ökonomischen Gegenstände tritt, das heißt bewusste Beratung und Beschließung über den sinnvollen Einsatz der gemeinsamen Ressourcen. Das wäre nach Marx die Zurücknahme der abstrakten Allgemeinheit des Geldes und damit des Marktes in die Gesellschaft. Und auf der anderen Seite - das ist nur die andere Seite desselben - die Zurücknahme der abstrakten Allgemeinheit des Staates in die Gesellschaft, das heißt, dass diese Trennung von Politik und Ökonomie, die Spaltung des bürgerlichen Menschen in Bourgeois und Citoyen, aufgehoben wird. Dass ein Rätesystem von Selbstverwaltung auf allen Ebenen in der Gesellschaft entsteht, in dem die Vermittlung nicht mehr über einen Staatsapparat, der der Gesellschaft als entfremdeter, äußerlicher Apparat gegenübertritt, und nicht mehr über die Ware-Geld-Form als ein verselbständigter Systemzusammenhang dieser herausgelösten Ökonomie den Menschen gegenübertritt.

STEFAN AMZOLL: Ein Rätesystem, das, um dies einzulösen, im regionalen Maßstab da sein muß, im kontinentalen und Weltmaßstab.

ROBERT KURZ: Auf allen Ebenen.

STEFAN AMZOLL: Im Sinne eines umfassenden, komplexen Austauschs?

ROBERT KURZ: Das ist heute, um es auf die banalste Ebene zu bringen, technisch möglich. Das Internet wäre sozusagen eine Kommunikationsform, wo nicht immer alle überall anwesend sein müssen. Das war ja früher immer das Argument dagegen: unmittelbare Selbstverwaltung, wie sollen sich Millionen auf dem einen Platz versammeln. Mit dem Internet können sie das. Nur, in der kapitalistischen Form wird das Internet zur Idiotie schlechthin. Die Leute wissen ja oft gar nicht, was sie sich da überhaupt mitzuteilen haben.

STEFAN AMZOLL: Durchaus hilfreich ist etwa der rasche Zugriff zum Bestand von Bibliotheken. Die Linke hat das Internet inzwischen entdeckt. In gefährlicher Weise auch die rechtsextreme Szene. Der Weltwirtschaft hätten sich darüber neue, ungeahnte Kommunikationswege eröffnet. So wirbt man massiv dafür. Ein weites, widersprüchliches Feld, das alternative Verwendungen nicht ausschließt.

ROBERT KURZ: Ich denke, es geht nicht allein und nicht so sehr um den Zugriff auf Datenwissen aller Art, sondern vor allem um eine schwer oder gar nicht durch »vertikale« Herrschaftsinstitutionen kontrollierbare »horizontale« Kommunikation über alle Grenzen und Kontinente hinweg. Im Widerstand gegen kapitalistische Zwänge deutet sich hier die Möglichkeit eines qualitativ neuen Internationalismus oder besser einer transnationalen Bewegung an; nicht mehr ein bürokratischer und bloß diplomatischer Schein-Internationalismus von Parteispitze zu Parteispitze, sondern eine Vermittlung direkt von Individuum zu Individuum, von Gruppe zu Gruppe, von Bewegung zu Bewegung. Das setzt freilich auch ein neues antikapitalistisches Bewusstsein voraus, das nicht von selber entsteht, auch nicht durch das bloße Dasein des Internet. So wie es jetzt ist, führt es aber im Ganzen in Absurditäten oder in den Versuch, einen virtuellen Kapitalismus zu kreieren. Ich denke, das wird auch nicht weit tragen.

STEFAN AMZOLL: Ein Wort noch zu dem zweiten Maßstab, der augenscheinlich mit der Qualität Mensch selbst unmittelbar zu tun hat.

ROBERT KURZ: Hier geht es tatsächlich um den Einsatz, die Verwendung der nun einmal hervorgebrachten Produktivkräfte, die wir ja nicht wegschmeißen sollen, für das, um es banal zu sagen, Wohlergehen der Produzenten selber, und nicht für einen ihnen äußeren Selbstzweck. Und das heißt natürlich erstmal, Produktivkraftentwicklung nicht einfach in immer neuen dinglichen Reichtum zu verwandeln, der auch die Gestalt von Tretminen, Autobahnen und sonstigem annimmt, sondern in mehr Muße.

STEFAN AMZOLL: Der Marxsche Satz: Die Quellen des Reichtums verwandeln sich in Quellen der Not, der wäre folglich zu lesen, dass aus Reichtum Reichtum wird.

ROBERT KURZ: Genau. Dass die Quellen des Reichtums sich auch in wirklichen Reichtum verwandeln, das heißt heute in erster Linie Erfüllung der Grundbedürfnisse für alle sechs Milliarden Menschen. Das wäre von den Ressourcen her leicht möglich, das ist technisch leicht machbar. Also die Aufhebung der Verelendung in großen Teilen der Welt und gleichzeitig die Verwandlung der Produktivkraft in Muße.

STEFAN AMZOLL: Sie sagten einmal, dass eine »dritte Kraft«, will sie wirklich etwas verändern, ein sich selbst konstituierendes Subjekt sein müsse, das unangepasst ist, das sich unabhängig entwickelt, einen eigenen Horizont bildet. Wie ginge das vor sich?

ROBERT KURZ: Nicht in dem Sinne, dass sie als deus ex machina käme und mit der jetzigen Gesellschaft und ihren Widersprüchen gar nichts mehr zu tun hätte, sondern in dem Sinne, daß sie bloß nicht mehr positiv wurzelt in diesen Verhältnissen, wie das bei diesem Klassen- und Arbeitsstandpunkt noch war. Aus der Negativität der Verhältnisse heraus sind Kritik, Alternativen, Gegenwehr zu formulieren.

STEFAN AMZOLL: Ob die betreffenden Subjekte in maßgeblichen Strukturen verankert sind oder nicht, ob sie Einsteiger oder Aussteiger sind, abhängig oder unabhängig von ihrer Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Sind diese Fragen noch relevant?

ROBERT KURZ: Die Klassengeschichte ist ja sowieso weg, wenn man mal von dem winzigen Bruchteil der Menschen, die die wirklichen Funktionseliten ausmachen und die größtenteils der Form nach selber sich in Abhängigkeitsverhältnissen befinden, der Form nach wohlgemerkt, absieht. Wenn man sich die großen Kapitalgesellschaften anschaut, die sich mit dem alten Kapitalisten als Person, als personifizierbare Kraft gar nicht mehr erfassen lassen, dann sind sowieso 90 Prozent oder mehr, zumindest in den entwickelten Gesellschaften, lohnabhängig oder nur scheinselbständig. Das gilt ja auch für alle möglichen Klitschen oder für alle möglichen Übergangsformen, die wir momentan haben, diesen Zersetzungsprozess der sozialen Verhältnisse in Richtung auf alle möglichen Formen von Elendsunternehmertum. Das ist nicht die Auflösung des Problems, sondern im Gegenteil seine Atomisierung.

STEFAN AMZOLL: Das wäre dann die vermannigfachte oder diversifizierte Stellung der Individuen in einem komplex strukturierten Produktions- und Reproduktionsprozess - im schlimmen Fall ihr Herausfallen aus demselben.

ROBERT KURZ: Ja, eben auf Grund des ungeheuer hohen Vergesellschaftungsgrades. Insofern spielt die objektive Stellung auch nicht mehr diese besondere Rolle. Anders gesagt: Die Besonderheit im Reproduktionsprozess spielt gegenüber seiner Allgemeinheit, die inzwischen hochgradig aggregiert ist, keine entscheidende Rolle mehr. Statt dessen ist der entscheidende Punkt, der überhaupt noch Kritik und damit Gegenwehr ermöglicht, das kritische Verhältnis zum Ganzen, gerade weil es so hochgradig aggregiert, weil es so hoch verallgemeinert ist. Und dieses kritische Verhältnis zum Ganzen lässt sich natürlich nicht nur aus der Theorie heraus formulieren (die kann da eine wichtige Katalysatorrolle spielen), sondern vor allem aus dem Leidensdruck, aus der Negativität.

STEFAN AMZOLL: Leichter gefragt als getan: Was wäre anstatt zu tun?

ROBERT KURZ: Noch einen Schritt weiter nach vorn zu gehen.

STEFAN AMZOLL: In Ihrem Buch »Der Letzte macht das Licht aus - Zur Krise von Demokratie und Marktwirtschaft« haben Sie auch Kulturprobleme angesprochen. Mit der Kultur der warenproduzierenden Moderne gehen Sie hart ins Gericht. In der zerfallenden Warengesellschaft würden die Warensubjekte immer mehr verwahrlosen. »Die letzte Entfesselungsstufe der Warensubjekt«, schreiben Sie, »lässt jede Form von Kultur hinter sich, weil sie keinerlei inhaltliches und qualitatives Kriterium oder Sensorium mehr besitzt.« Hier wären, sagen Sie, immerhin Veränderungen genauso unverzichtbar wie in den übrigen Bereichen. Was heißt das?

ROBERT KURZ: Das heißt, diese Maßstäbe der Kritik, der Selbstverwaltung, der alternativen Verwendung der Produktivkräfte auch nach der kulturellen Seite hin zu entwickeln. Das ist ein eigener Inhalt, in dem die Kritik an der kapitalistischen Kulturindustrie mit enthalten sein muss. Die postmoderne Entwicklung hat ja gerade da jeden Maßstab fallengelassen. Das heißt aber dann nichts anderes, als dass die Form sich gegenüber jedem Inhalt verselbständigt. Die Frage der Verkäuflichkeit ist dann die einzige und der Inhalt eigentlich völlig gleichgültig.

STEFAN AMZOLL: Eine der immer zahlreicheren Paradoxien, deren Realität ja, wie Sie wissen, nicht einfach subjektiver Dummheit oder Böswilligkeit zuzuschreiben ist, sondern der an Rührware bald platzenden Kultur-Blackbox entspringt. Nach Adorno ist ein Entrinnen aus dem circulus vitiosus nicht mehr möglich. Oder vielleicht doch?

ROBERT KURZ: Es ist immer die Frage, ob Leute im kleinen Maßstab von Gruppen wie im größeren Maßstab von Bewegungen als selbständig agierende Zusammenschlüsse ein eigenes Bein auf den Boden kriegen, ob ein Zusammenhang wirklich eigenständig organisiert wird, der ja alle möglichen Formen annehmen kann, sei es kulturelle Aktivität, sei es sozialpolitische Aktivität, sei es Kulturkritikbewegung, auch Theorie übrigens. Aber wo ganz klar das Bewusstsein vorherrschend ist, dass man etwas gegen die herrschende Ordnung tun muss, und zwar auf eigene Rechnung in eigenem Zusammenhang, wo man auch eigene Potenzen entwickelt, wo man eben gerade nicht die Umsetzung im Kopf oder Hinterkopf hat, wie mache ich das verkäuflich auf dem Markt. Sondern wo man ganz bewusst Zusammenhänge schafft, die gerade nicht mehr in den Markt zurückkehren, die sich bewusst dem Markt verweigern und damit aber auch dem Staat. Bewegungen, die eigenständig sind und die sich in vielfältiger Weise vernetzen müssten, aber auch nicht bloß als einfache Nischenexistenzen, sondern als eine Kritikbewegung, die an den Leidensbrüchen ansetzt.

STEFAN AMZOLL: Sie sagen, auf keiner einzigen Ebene könnten die immanenten Konflikte der warenproduzierenden Moderne mehr emanzipativ besetzt werden. Demgegenüber seien all die Forderungen nach einer anderen Lebens- und Arbeitsweise, die Ideen der Alternativen, die Bedürfnis- und Konsumkritik, die neuen Wohn- und Erziehungsformen usw. jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus aus den siebziger und frühen achtziger Jahren keineswegs erledigt. Sie schlagen Netzwerke vor, weisen auf die Ökologie-, Frauen- und Friedensbewegungen, deren verbliebene Organisationsformen und Initiativen von neuem gebündelt, konzentriert werden müssten. Sie beziehen sich in all dem freilich auf die Geschichte der alten Bundesrepublik. Sehen Sie Anknüpfungspunkte auch im Kontext von DDR-Geschichte, Wendezeit, ostdeutscher Gegenwart?

ROBERT KURZ: Das Problem, denke ich, liegt darin, dass im Westen man ganz klar sagen kann, es gab die sozialistisch-kommunistisch orientierte Bewegung oder auch die Organisationsformen der späten sechziger und siebziger Jahre als außerparlamentarische Opposition. Das war aufs gesellschaftliche Ganze gerichtet, als Kritik des Kapitalismus, war aber eben letzter Ausläufer dieses alten Arbeiterbewegungsmarxismus. Und an den neuen sozialen Bewegungen der achtziger Jahre finde ich gerade interessant dieses Moment von Selbstkonstitution, das heißt dieses Sich-nicht-mehr-Rückbeziehen auf einen positiven Standpunkt in dieser Gesellschaft. Aber gleichzeitig sind diese Bewegungen zu kritisieren, denn sie haben zu kurz gegriffen, weil sie eben nur Ein-Punkt-Bewegungen waren. Und ganz bewußt, weil sie dachten, sie müssen aus diesem obsolet, anachronistisch gewordenen Verständnis von Kapitalismuskritik herauskommen, das aber konkretistisch gewendet haben auf Ein-Punkt-Bewegungen. Und jetzt hat sich das natürlich selber wieder erschöpft. Diese Bewegungen sind längst an ihre Grenzen gestoßen. Die Aktivisten merken und wissen das auch. Da gibt?s auch Diskussionen. Und jetzt steht eigentlich an, das liegt in der Luft, zurückzukehren zu der gesamtgesellschaftlichen Kritik, aber in neuer Form. Man kann nicht an das Alte anknüpfen, sondern man muss wieder auf das Ganze stoßen. Man kann all die Fragen der Atomenergie, der Frauenemanzipation, der Antikriegsbewegung nicht für sich betrachten, sondern das steht in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, und auf die gesellschaftliche Form muss man sich wieder kritisch zurückbeziehen.

STEFAN AMZOLL: Hierdurch die Paralyse überwinden?!

ROBERT KURZ: Ja.

STEFAN AMZOLL: Und die Reichweite dessen im Blick auf Bewegungen in der DDR, in Ostdeutschland?

ROBERT KURZ: In der DDR war das, was im Westen die alte Arbeiterbewegungskritik war, die dann obsolet geworden ist, Staatsapparat. Solche Ein-Punkt-Bewegungen konnten sich unter dieser Form gar nicht entfalten. Sie sind praktisch in den Untergrund gedrängt worden oder waren marginal geblieben. Und die Bürgerbewegung, als das ganze System morsch geworden ist, die hat sich ja nicht auf die Kritik des Ganzen orientiert. Die hätte ja einen Sprung machen müssen zu einer übergreifenden Systemkritik, die das warenproduzierende System des Staatssozialismus und des Westens in seiner inneren Identität, in dem, was beide Systeme gemeinsam haben, hätte aufrollen müssen.

STEFAN AMZOLL: Mit solchem Sprung hätte sie sich selbst überwältigt.

ROBERT KURZ: Ich habe es nach der Vereinigung polemisch so formuliert, dass die Bürgerbewegungen Ideen hatten, die ungefähr vergleichbar sind, gegen Krebs Kamillentee verschreiben zu wollen. Ungeheuer blauäugig, westorientiert, aber im Sinne von blauäugigen Demokratievorstellungen. Die wurden teils furchtbar enttäuscht, teils von einem grölenden Pöbel überrollt. Und das hat sich dann zum anderen Teil sehr schnell in die politische Klasse der Rechtsparteien integriert.

STEFAN AMZOLL: Die der Spendenempfänger und Geldgeber.

ROBERT KURZ: Ja, und insofern ist im Osten das Problem, dass man dort nicht auf irgend etwas kritisch zurückgreifen kann, oder nicht auf sehr viel.

STEFAN AMZOLL: Kennen Sie denn Leute der Wendezeit im Osten?

ROBERT KURZ: Ich kenne den Studentenpfarrer von Chemnitz Hans-Joachim Vogel. Das sind welche, die auch immer Leute um sich scharen, wo ich denke, da ist so ein Impuls auf ganz eigene Art, wo so etwas fortlebt von Dissidenz, die sich auch ganz energisch gegen die jetzigen Zustände wendet, und überhaupt das nicht blauäugig. Insofern ist es überhaupt nicht null, sondern es ist etwas vorhanden.