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erschienen in EXIT! 4, Juni 2007

Roswitha Scholz

Homo Sacer und „Die Zigeuner“

Antiziganismus – Überlegungen zu einer wesentlichen und deshalb „vergessenen“ Variante des modernen Rassismus

1. Einleitung: Antiziganismus – der „vergessene“ Rassismus

Die Beschäftigung mit dem Antiziganismus, d.h. dem spezifischen Rassismus gegenüber Sinti und Roma, ist auch innerhalb der Linken marginal. Manche wissen gar nicht, was „Antiziganismus“ überhaupt meint. Wolfgang Wippermann schreibt hierzu: „Mein Berufsstand, Professoren und Historiker, haben sich mit den Sinti und Roma nicht beschäftigt, weil es als unfein galt und immer noch gilt. Auch die kritische Intelligenz hat versagt, weil sie die Auseinandersetzung mit diesem Aspekt deutscher Geschichte viel zu lange versäumt hat. Das gilt auch für linke Gruppen, denen das Schicksal der Sinti und Roma bis heute nicht sehr interessant erscheint“ (Wippermann, 1999, S. 106). Und es gilt leider genauso für wertkritische Kontexte. Als wäre die moderne Konstruktion des „Zigeuners“ als arbeitsscheu, sinnlich, „wild and free“ nicht gerade für eine wert- und arbeitskritische Position von Interesse. Vergessen wird, dass die eigenen verdrängten Bedürfnisse keineswegs bloß auf „Exoten“ projiziert wurden, „Schwarze“ und „Wilde“ irgendwo in Afrika oder in der Karibik, sondern „sie“ sind schon seit Jahrhunderten in nächster Nähe, sozusagen mitten unter uns: die „Zigeuner“, als fester Bestandteil der modern-westlichen Kultur selbst.

Neben Reaktionen auf dieses Artikelprojekt, die – nach kurzem Hinweis auf die Wichtigkeit des Themas – eine Beschäftigung damit aus einer distanzierten Perspektive spontan als „spannend“ empfanden, gab es auch Reaktionen wie: „Ach, um diese armen Teufel/Kreaturen (die uns eigentlich nichts angehen) muss sich ja irgendwer kümmern. Ein Hoch auf Mutter Teresa! Gott sei Dank machst du’s!“; aber es gab auch die Ansicht, dass es sich um etwas Abseitiges und Spezielles, eigentlich Unwichtiges handelt. Eine antiziganistische Geringschätzung und Verachtung, wie sie für die kapitalistische Gesellschaft im Ganzen charakteristisch ist, zeigt sich so bis in wertkritische Szenen hinein.

Genau besehen überraschen derartige Reaktionen nicht. Im Zentrum wertkritischer Analysen stand lange Zeit das männliche, weiße Arbeitssubjekt des Fordismus, das sich im Zuge von Individualisierungsprozessen, während die abstrakte Arbeit obsolet wird, in der Postmoderne verflüchtigt. Die Beschäftigung mit dem „Lumpenproletariat“ war verpönt – durchaus im Sinne eines traditionellen Marxismus, vom dem man doch eigentlich nichts mehr wissen wollte; ganz zu schweigen vom Ur-Unmenschen in Gestalt des „Zigeuners“, der noch innerhalb des Lumpenproletariats als „der letzte“ galt und den man von vornherein abschrieb, der noch nicht einmal erwähnt zu werden brauchte, ja der einem überhaupt nicht in den Sinn kam. Und eine neue Beschäftigung mit dem Thema Rassismus hat diese Haltung offensichtlich nicht unbedingt aufgeweicht (Scholz, 2005a).

Komplementär zu derartigen Positionen existieren, wie wir sehen werden, im links-alternativen (Wissenschafts-)Spektrum auch romantische Auffassungen, die den „Zigeuner“ im Kapitalismus im Sinne der guten alten Randgruppenideologie als schon immer „Widerständigen“ feiern, auch wenn diese Sicht innerhalb des einschlägigen Diskurses keine große Rolle spielt. Übrigens konnte ich mich auch bei den selteneren Reaktionen auf mein Artikelprojekt, die es geradezu überschwenglich begrüßten, manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich hierbei um eine problematische Identifikation handelt. Man setzt sich allzu schnell mit den verfolgten „Zigeunern“ im Kapitalismus gleich. Dabei schimmert nicht nur die Angst vor der eigenen Diskriminierung als potentiell Herausgefallene durch, sondern gleichzeitig auch eine Romantisierung der eigenen prekären Situation, die man sich schönfärben will – ein wenig à la der „arme Poet“ von Spitzweg.

Romantische, sentimentale Kapitalismuskritik ist aber keine, jedenfalls keine wert-abspaltungskritische. Gerade weil das Zigeunerstereotyp nicht nur auf schroffe Abgrenzung stößt, sondern sich einer oberflächlichen Arbeitskritik (in der romantisierenden Vereinnahmung) womöglich als utopische Variante anbietet, muss ihm eine ernsthafte Gesellschaftskritik auch in dieser Hinsicht die Stirn bieten. Es gilt herauszuarbeiten, welche Bedeutung dem Antiziganismus als spezifischer Variante des Rassismus im arbeitszentrierten Kapitalismus zukommt. Meine zentrale These, die ich in diesem Aufsatz entfalten will, lautet, dass „der Zigeuner“ der „Homo sacer“ (Agamben, 2002) par excellence ist, d.h. dass er als für vogelfrei erklärter Typus sich schon immer außerhalb des Gesetzes befindet und dadurch geradezu dessen uneingestandene Matrix darstellt, wobei Ausgrenzung und romantische Verklärung zwei Seiten ein und derselben rassistischen Medaille bilden. Die Verachtung des „Zigeuners“ zeugt nicht zuletzt von der Angst vor dem eigenen Absturz als Grundbefindlichkeit schlechthin im Kapitalismus. Von daher vermutlich auch die fehlende oder defizitäre Beschäftigung mit dem Antiziganismus und dem „Zigeuner“ bis in die Linke hinein.

Eine Untersuchung der Funktion des „Zigeuners“ bzw. des entsprechenden Klischees im Kapitalismus und die Thematisierung des Antiziganismus (dieser scheinbar bloß marginalen Rassismusvariante) ist deshalb vielleicht eher geeignet, Einsicht in die Abgründe, Ur- und Untiefen des Kapitalismus zu erlangen (gerade wenn im Zuge des Obsoletwerdens der abstrakten Arbeit immer mehr Menschen überflüssig werden) als die Befassung mit der Krise des armen, identitätsgebeutelten Mannes, der allerhand Unheil anrichtet, weil er unter „Bewältigungsdruck“ (Lothar Böhnisch) steht, oder als die Beschäftigung mit der Frage, ob die Klassengesellschaft zurückkehrt oder nicht – alles Dinge, die heute allenthalben vordringlich verhandelt werden und geeignet sind, das abgehalfterte (männlich)-weiße Subjekt selbstmitleidig wieder zum Hauptopfer zu stilisieren. Erst recht lässt die mittlerweile entfachte Unterschichts- und Prekariatsdebatte die Thematisierung des Antiziganismus geraten erscheinen, gerade wenn auch der Absturz der Mittelklasse in den Focus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt.

2. Moderne und Antiziganismus

„Zigeuner“ treten in Mitteleuropa zu Beginn des 15. Jahrhundert erstmals in Erscheinung. Ein paar Jahrzehnte lang waren sie als bettelnde und umherziehende Pilger weithin akzeptiert. Gelegentlich wird deshalb im Hinblick auf das 15. Jahrhundert geradezu vom „Goldenen Zeitalter“ der „Zigeuner“ gesprochen. Erst an der Wende zur Neuzeit werden sie per Edikt verfolgt und vertrieben. Der Feudalismus ist in die Krise geraten, alte Gewissheiten und Bindungen lösen sich auf. Das Weltbild ändert sich von Grund auf. Seuchen und Kriege erzeugen Angst und Schrecken. Wulf D. Hund bringt die Voraussetzungen für die Herausbildung des Zigeunerstereotyps treffend auf den Punkt. Durch ökonomische und soziale Prozesse wurden viele freigesetzt und waren zur Vagabondage und zum Betteln verurteilt: „Das Zigeunerstereotyp erhält seine spezifische Färbung dadurch, dass seine Entwicklung mit der Durchsetzung territorialstaatlicher Verhältnisse und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung in Mitteleuropa zusammenfällt. Die vagierenden Teile der Bevölkerung gelten als politisch unkontrollierbar und ökonomisch unproduktiv. Sie werden deshalb mit hoheitlicher Unterdrückung und Verfolgung überzogen. Die von Karl Marx so genannte doppelte Freiheit der Lohnarbeiter ist trotzdem wenig attraktiv. Sie besteht darin, gleichzeitig rechtlich frei und sozial mittellos zu sein, das heißt, keinen feudalen Abhängigkeitsverhältnissen mehr zu unterliegen und, frei von jeglichem Besitz, gezwungen zu sein, die Arbeitskraft zu verkaufen. Unter diesen Bedingungen reicht es, wenn denen, die sich in die neuen Bedingungen nicht fügen dürfen, können und wollen, zugeschrieben wird, sich nicht unter Entbehrungen und Entsagungen den Zumutungen der Lohnarbeit zu unterwerfen, damit um ihre Lebensweise eine Aura von Widerständigkeit entstehen kann. Soziale und romantische Dimension des Zigeunerstereotyps sind deswegen eng verzahnt. Gleichzeitig verleiht ihnen das ideologische Gewicht des neuzeitlichen Arbeitsverständnisses mit der Gegenüberstellung von Arbeit und Müßiggang eine enorme Dynamik“ (Hund, 2000, S. 20f.).

In dieser Zeit dringen die Türken aus dem Balkan vor, wobei es heißt, dass „die Zigeuner“ Spione der Türken seien. Aus den „Bildern von schwarzen wunderlichen Gauklern, von Türken vertriebenen Almosenempfängern und vagabundierenden diebischen Kundschaftern entwickeln die Reichsstände binnen kurzem den für die Türken spionierenden vagierenden Zigeuner. Auf dem Reichstag von Freiburg wird er 1498 für vogelfrei erklärt und ‚soll sich aus den Landen Teutscher Nation thun’“ (Hund, 1996 S. 20f.). Dabei war das Bild des „Zigeuners“ zunächst bis in die Ära der Aufklärung nicht eindeutig rassistisch bestimmt. Die Auffassung war durchaus gängig, dass „Zigeuner“ „ein zusammen gelaufenes böses Gesindel (seien), so nicht Lust zu arbeiten hat, sondern von Müßiggang, Stehlen, Huren, Fressen, Sauffen, Spielen u.s.w. Profession machen will, (...) ihre fremde Erscheinung (dürfe) nicht ernst genommen werden (...), denn ihre Sprache hätten sie verabredet, um ‚communicieren (zu) können’, ohne dass ‚andere Leute sie (...) verstehen’ und ihre Hautfarbe hätten sie einfach ‚durch allerhand Schmierereyen’ künstlich erzeugt“ (Zedler, 1749, zit. n. Hund, 2000, S. 15). Und Sebastian Münster schreibt schon 1550: “Von den Zigeunern und Heyden heißt es, sie seien ‚ein ungeschaffen, schwartz, wüst und unflätig Volck, das sonderlich gern stielt’, hätten ‚kein Vaterland’ und zögen müssig im Land umher“ (Münster, zit. nach Hund, 1996, S. 21). Auch hier wird betont, dass unter ihnen Menschen verschiedener Herkunft anzutreffen seien: „Sie leben ohne Sorg, ... nehmen auch Mann und Weib in allen Ländern, die sich zu inen begeren zu schlahen“ (a.a.O.). Zigeuner galten vor allem deshalb als Fremde, weil sie sich den neuen Anforderungen widersetzten: „abhängige Arbeit und sesshafte Untertänigkeit“ (Hund, 1996, S. 22).

Zwar gab es auch Stimmen, die dem Bild vom müßiggängerischen Zigeuner widersprachen, wie z. B. die folgende: Die „‚Czingaros’ stellten ‚Tag für Tag und Stunde um Stunde ... in schwerer Handarbeit Schmiedewerk her und strebt(en) emsig nach Nahrung und Kleidung‘“ (Crusius, 1596, zit. n. Hund, 1996, S.22). Schmied, Kesselflicker, Korbflechter u.ä. waren typische Zigeunerberufe. Jedoch kamen derartige Äußerungen nicht gegen das Zigeunerstereotyp an. Dieses Stereotyp zeigt dennoch schon vor dem Aufkommen eines „wissenschaftlichen“ Rassebegriffs in der Aufklärung Momente rassistischer Auffassungen: „Es betreibt die Herstellung und kategoriale Fixierung einer wesensmäßigen Differenz zwischen Menschen. Dabei bedient es sich der polarisierenden Rhetorik der Ausgrenzung, die Gemeinsamkeit (Vaterland, Gemeinwesen) nicht zuletzt dadurch herzustellen oder zu festigen sucht, dass sie ein negatives Bild derer erzeugt, die zu ihr nicht fähig sein sollen oder sie gar gefährden. Bei der Stigmatisierung bedient sie sich einer Kombination moralischer (faul) und ästhetischer (schwarz und hässlich) Argumente und versucht so, ein angeblich kulturelles Defizit mit einem visuellen Indikator zu verbinden. Und sie verschiebt die Kausalität des Andersseins aus dem Bereich äußerer Ursachen (Vertreibung, Enteignung, Not) in den des Wesens (Müßiggang als Beruf)“ (Hund, 1996, S. 25f.). Für eine prärassistische Variante der Zigeunerfeindlichkeit spricht auch, dass man sie, im Gegensatz zum müßiggängerischen Vaganten oder Bettler, ob ihrer dunkleren Hautfarbe mit dem Teufel im Bunde wähnte und von daher ihre heidnischen, magischen Fähigkeiten erklärte, obwohl das Gros von ihnen katholisch war.

Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die „Zigeuner“ in vielen deutschen Kleinstaaten dann noch einmal vogelfrei erklärt. Und es trat sogar eine Verschärfung ein: Jeder männliche Zigeuner über 18 Jahre sollte an den Galgen gebracht werden, egal, ob ihm ein Verbrechen nachgewiesen werden konnte oder nicht. Absicht war die Ausrottung. Vorher waren die „Vogelfrei-Erklärungen“ von der Bevölkerung und selbst der Polizei nicht unbedingt ernst genommen worden; nun sollten sie durch Androhung drakonischer Strafen seitens der Obrigkeit durchgesetzt werden. Dieses Nichternstnehmen in der Bevölkerung wird in der einschlägigen Fachliteratur mit dem Unterhaltungsbedürfnis, mit den notwendigen ökonomischen Funktionen, die „Zigeuner“ in den agrarischen Gesellschaften ausübten, und schließlich mit der Angst vor ihren magischen Fähigkeiten spekulativ begründet. Auch gab es parallel zu derartigen Vogelfrei-Erklärungen immer noch hin und wieder Schutzbriefe der Landesfürsten für „Zigeuner“, wobei wohl in Rechnung zu stellen ist, dass dies auf Widersprüchen innerhalb der ständischen Gesellschaften bei ihrem Weg in die Modernisierung selbst beruhte (vgl. Meuser, 1996, S. 111ff.). Möglicherweise spielte es auch eine Rolle, dass es in der „Normalbevölkerung“ selbst noch massiven Widerstand gegen die Unterwerfung unter den kapitalistischen Arbeitsprozess gab (vgl. auch Kurz, 1999) und man daher den als müßiggängerisch verschrieenen „Zigeunern“ noch nicht mit einem so großen eliminatorischen Aggressionspotential begegnete wie später.

Im 18. Jahrhundert trat Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann als “Zigeunerforscher“ und „Zigeunerexperte“ auf den Plan. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Umwelttheorien fordert er, dass „jeder Zigeuner ein Vaterland erkennen und gezwungen seyn (...)(wird), sich von seiner Hände Arbeit zu nähren“ (Grellmann, 1783, zit. n. Hund, 1996, S. 26.). Zu dieser Zeit wurde der moderne Nationalstaat auf den Weg gebracht. Dementsprechend gab es (wenngleich nur wenige) Umerziehungsprojekte, deren bekanntestes von Maria Theresia und Joseph II ausging. „Zigeuner“ sollten sesshaft gemacht werden und einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen; das Romanes (die Sprache von Sinti und Roma) wurde verboten, Heiraten unter „Zigeunern“ untersagt, die Kinder sollten den Eltern ab dem 4. Lebensjahr abgenommen und in die umliegenden Ortschaften verteilt werden. Zigeuner sollten nun „Neu-Ungarn“ heißen. Derartigen Projekten war allerdings nur wenig Erfolg beschieden (Gronemeyer, 1988a, S. 66 ff.).

Bekanntlich setzte sich dabei in der Diskussion der Aufklärung bald die Meinung durch, dass nur die „weiße Rasse“ zur Zivilisation fähig sei. Der natürliche Hang zur Faulheit könne dabei nicht ohne Zwang überwunden werden, solle sich der Mensch aus dem rohen Naturzustand herausarbeiten. So entwickle sich das Tier zum Menschen (so etwa Kant). Es verwundert nicht, dass Kant fragt, ob „Zigeuner“ (dafür spräche ja schon ihre „indische Hautfarbe“) „keine größeren Anlagen zu Tätigkeit“ hätten (zit. n. Hund, 1996, S. 28). Von diesem Zeitpunkt an erfolgt die Ethnisierung des Stereotyps; „Zigeuner“ werden nun zu einer primitiven Rasse gemacht. Da sie aus Indien kommen, wird vermutet, dass sie von den Parias abstammen. Dabei hält der polizeiliche Sprachgebrauch, ungeachtet der („wissenschaftlichen“) Ethnisierung, bis ins 20. Jahrhundert an der „Asozialität“ des „Zigeuners“ fest. Entscheidend ist dabei die Auffassung, dass „Zigeuner“ ohnehin nicht mehr „reinrassig“ seien. „Zigeuner“ seien deshalb alle Landfahrer ohne festen Wohnsitz, die einer gauklerischen oder schaustellerischen Tätigkeit nachgehen bzw. überhaupt ohne Beruf sind – so sinngemäß eine „Denkschrift über die Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ von 1911 (vgl. Hund, 1996, S. 32).

Dabei gab es „wissenschaftliche“ Annahmen wie die von Robert Ritter, der sich im Nationalsozialismus als „Zigeunerexperte“ hervorgetan hat. Dessen Ausgangspunkt lässt sich nach Hund in drei Thesen zusammenfassen: „Zigeuner seien fremdrassig; mehrheitlich handele es sich bei ihnen allerdings um Mischlinge aus Verbindungen von Zigeunern mit Angehörigen ihrer Wirtsvölker; die Zigeunermischlinge seien überwiegend asozial. Hervorgegangen aus der Paarung von Zigeunern und erbminderrassigen Deutschen (‚bestenfalls mit Musikanten, Schaustellern und Hilfsarbeitern’), zeigten sich die Mischlingszigeuner als arbeitsscheues Lumpenproletariat, das alle ‚Zigeunereigenschaften’ bewahre“ (Hund, 1996, S.33). Herr Ritter wird uns in dieser Untersuchung noch öfter begegnen.

Gemutmaßt wurde, dass deutsche „Asoziale“ letztlich Abkömmlinge primitiver Stämme des frühen Mittelalters seien. Derartige Vorstellungen gipfelten in der Annahme eines „Zigeuner“- bzw. „Asozialen“-Gens. Wurden die „Zigeuner“ im Konstitutionsprozess der Moderne anfangs noch tendenziell mit inkriminierten Vaganten und Bettlern gleichgesetzt, so wurden umgekehrt im Nationalsozialismus Vaganten und sogenannte Asoziale mit der fremden „Rasse“ der „Zigeuner“ identifiziert, wie Hund (1996, S. 33 ff.) bemerkt.

Gleichzeitig enthält das Zigeunerbild, wie schon angedeutet, romantische Elemente. In diesem Bild kommt auch das „Unbehagen in der (modernen) Kultur“ zum Ausdruck. Den Zigeunern werden „musikalische Fluchten“ zugeschrieben. „Insbesondere rühmt man ihre musikalische Anlage (...) Sie spielen die Violine und die Maultrommel und blasen Waldhorn, Flöte und Oboe. Ihre Tanzmusik ist froh und gefühlvoll“ (Brockhaus Real-Ezyklopädie 1848, zit. n. Hund, 1996, S. 13). Musikalische Tätigkeit wird dabei naturalisiert; sie ist nicht Produkt von Leistung und Disziplin, sondern der müßiggängerische „Zigeuner“ hat's im Blut.

Hund bringt diesen Rassismus, den er „romantischen Rassismus“ nennt, in seinem projektiven Charakter (der mit entsprechenden Stereotypen einhergeht) folgendermaßen auf den Punkt: „Freiheit, die sich nicht fügen will, erscheint als Eigenschaft einer fremden Rasse. Bürgerliche Freiheit gibt es nur im Rahmen von äußerer Ordnung und innerer Selbstbeherrschung. Ungehemmte Freiheit führt zum Untergang. Um sie zu charakterisieren, schreibt Merimee über Carmens Volk: ‚Pour les gens de sa race, la liberté est tout’. Gemeint ist, wie Carmen selbst erläutert, die Freiheit, nicht kommandiert zu werden, und zu tun, was einem gefällt, keine bürgerliche Tugend, sondern wilde Zügellosigkeit“ (Hund, 1996, S, S. 16).

3. Antiziganismus und Geschlecht

Hund, auf dessen Ausführungen zum Zusammenhang von Moderne und Antiziganismus ich mich bisher hauptsächlich gestützt habe, sieht den Antiziganismus vor allem mit der Herausbildung von abstrakter Arbeit und Warenproduktion in Zusammenhang (auch wenn er in mancher Hinsicht dem traditionellen marxistischen Denken verhaftet bleibt, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann). Ihm entgeht allerdings, dass abstrakte Arbeit und Wert nur im Kontext einer Abspaltung des Weiblichen existieren können. Frauen wurden in der Moderne die minderbewerteten Reproduktionstätigkeiten (Haushalt, Kindererziehung, „Liebe“, Hege und Pflege usw.) zugeteilt. Im Gegensatz zum Mann, der als rational, kontrolliert, willensstark usw. konstruiert wurde und für „Kultur“ stand, wurden in die Frau Sinnlichkeit, Emotionalität, Charakter- und Verstandesschwäche hineinprojiziert. Dabei stand die Frau zwar einerseits für die „Natur“. Im Rahmen der westlichen Zivilisation wurde sie aber schon von vornherein in den Vorstellungen einer domestizierten Natur gefasst, ausgestattet mit den Tugenden der Sittsamkeit und Keuschheit. Diese Wert-Abspaltung stellt das Grundprinzip des warenproduzierenden Patriarchats dar, und zwar nicht als dualistische Entgegensetzung, sondern in der dialektischen Verschränkung, unabhängig von den empirisch-konkreten Individuen. Sie stellt kein starres Prinzip dar, sondern verändert sich im Gang der Moderne bis hin zum Verfall und der Verwilderung des warenproduzierenden Patriarchats heute (dieser Gedankengang kann hier nicht umfassend dargestellt werden; vgl. dazu ausführlich vor allem Scholz, 2000). Uns interessiert hier vor allem der Zusammenhang von Antiziganismus und Geschlecht vor dem Hintergrund der Wert-Abspaltungstheorie.

Hierzu gibt Wolfgang Wippermann einige Hinweise, auf die ich mich im folgenden beziehe (Wippermann, 2000). Das Bild der Sintezza wird vor allem (als Gegenbild zur sittsamen und keuschen bürgerlichen Hausfrau) als sexuell verführerisch und hexenhaft konstruiert. Dabei wurde behauptet, dass sich vor allem die „Zigeunerinnen“ im Stehlen hervortun. Insbesondere die alten Frauen, aber nicht nur sie, wurden des Wahrsagens und damit der Hexerei bezichtigt. Interessant ist auch, dass der Hexenhammer (1487 erstmals erschienen) und die erste Vogelfrei-Erklärung der „Zigeuner“ auf dem Freiburger Reichstag (1498) ungefähr zur gleichen Zeit auftauchten. „Zigeunerinnen“ wurde jedoch nur selten ein Hexenprozess gemacht, da sie aufgrund der Vogelfrei-Erklärung, die in manchen Gegenden Männer und Frauen gleichermaßen traf, auch ohne Prozess aufgehängt werden konnten (Kinder sollten versklavt werden). Dies widersprach den seinerzeit üblichen Gepflogenheiten, denn normalerweise wurden Frauen milder bestraft als Männer, wenn sie etwas begangen hatten. Allerdings haben aus Angst vor Schadenszauber viele Bauern auf eine Verfolgung der Sinti und Sintezzas verzichtet (vgl. Wippermann, 2000, S. 283f.). Dabei glaubte man noch lange nach Beendigung der Hexenverfolgung, dass „Zigeunerinnen“ hexen können.

Schon im Hexenhammer wurde das Weib als besonders triebhaft, lüstern und ungezügelt dargestellt. Und so verwundert es nicht, dass die schöne, junge, verführerische Zigeunerin einen festen Stammplatz in der Literatur hat (Carmen usw.). „Es gibt unzählige Romane von unterschiedlicher Qualität, in denen ‚Flämmchen‘, oder ‚Mignon‘ genannte ‚Zigeunerinnen‘ auftreten, die einsame (männliche) Jäger und Wanderer becircen. Teilweise bekommen sie am glücklichen Ende sogar ihren Traumprinzen. Doch dies nur dann, wenn sich glücklicherweise herausstellt, dass sie doch keine richtigen ‚Zigeunerinnen‘, sondern schöne Fürstentöchter sind, die ihren Eltern von einer bösen ‚alten Zigeunerin‘ geraubt worden waren“ (Wippermann, 2000, S. 285 f.). Bis in die Trivialliteratur und die „Hotelbildmalerei“ hinein ist bekanntlich die sinnliche und verführerische Zigeunerin häufig anzutreffen.

Dementsprechend dienten auch die angeblich versuchte Verführung von Passanten durch junge und die Belästigung durch ältere „Zigeunerinnen“, die einem aus der Hand lesen wollten, im Nationalsozialismus als Begründung, Zwangslager für Sinti und Roma zu errichten. Der männliche Teil der „Volksgemeinschaft“ sollte so nicht gefährdet werden (Wippermann, 2000, S. 288). Bis in moderne Schlager hinein ist die Figur der sexuell verführerischen und/oder hexenhaften Zigeunerin anzutreffen. So etwa bei dem Schlagersänger Adamo:

Die Geschlechterordnung wird aber auch sehr augenfällig von der immer wieder fotografierten Frau mit Kopftuch und Pfeife im Mund in Unordnung gebracht. Diese Kombination ist, in der gutbürgerlichen Ideologie, „unmöglich“. Denn eine Pfeife ist eindeutig männlich konnotiert. „Wurde und wird der männliche ‚Zigeuner‘ schon negativ genug wahrgenommen, ist die ‚Zigeunerin‘ schon deshalb noch schlechter, weil sie die ihr in der männlichen Welt zugewiesene Geschlechterrolle nicht ausfüllt. Außerdem ist sie noch diebischer als der ohnehin schon notorisch stehlende Sinto“ (Wippermann, 2000, S. 292). Beliebt ist jedoch auch das Bild von der armen „Zigeunerin“, die von ihrem Mann schrecklich unterdrückt ist; andererseits wird auch der (männliche) „Zigeuner“ nicht selten als „weibisch“ dargestellt. Wie dem auch sei, auf jeden Fall ist ersichtlich, dass der Antiziganismus geschlechtsspezifisch bestimmt ist. Die „Zigeunerin“ steht im herkömmlichen Stereotypenhaushalt geradezu für „die Zigeuner“ schlechthin.

Es mag noch andere Klischees von der „Zigeunerin“ geben. Da aber Figuren wie die alte Hexe einerseits und „Carmen“ andererseits bei der Produktion weiblicher antiziganistischer Stereotypen (als Gegenbild zur domestizierten, züchtigen Hausfrau und Mutter der Moderne, die das Pendant zum disziplinierten Arbeiter darstellt) dominieren, wurden sie hier besonders berücksichtigt.

4. Zur Geschichte des Antiziganismus in Deutschland

4.1 Kaiserreich und Weimarer Republik

Seit Beginn der Neuzeit waren Vertreibungen und Vogelfrei-Erklärungen in mehreren europäischen Ländern immer wieder an der Tagesordnung, wobei die Verfolgung von Sinti und Roma schließlich in der massenhaften Ermordung im Nationalsozialismus gipfelte (vgl. auch Haupt, 2006, S. 115 ff.). Wulf D. Hund beginnt einen seiner Aufsätze mit einem Bericht von Fania Fénelon,, die dem sogenannten Mädchenorchester von Auschwitz angehörte. Kurz nach der Liquidierungsaktion an den „Zigeunern“ wird sie nachts von einem betrunkenen SS-Mann aufgeweckt. „Was er hören wollte? Schlager und Zigeunermusik (...) (Zum) Glück ist er im Rausch nicht tobsüchtig, sondern sentimental (...) Lily spielt ihm mit ihrer Geige sehnsüchtige Zigeunerweisen ins Ohr, er weint dicke Tränen“ (Fénelon zit. n. Hund, 1996, S. 11). Hund kommentiert: „Es mag keinen Ort geben, an dem sich die rassistische Chimäre aus Einfühlung und Ausgrenzung perverser gezeigt hätte“ (Hund, 1996, S. 11).

Im folgenden sollen nun einige Stationen der Verfolgung der Sinti und Roma, ausgehend von Kaiserreich und Weimarer Republik, als Vorgeschichte ihrer Vernichtung im Nationalsozialismus (wie auch ihrer Diskriminierung nach 1945) nachgezeichnet werden.

War die Verfolgung der Sinti und Roma bis zur Aufklärung durchaus widersprüchlich, so wurde sie im 19. Jhd. systematisch im Kontext der Bestrebungen zur Reichsgründung betrieben: „Sinti und (...) Roma sind schon im Kaiserreich aus rassistischen Gründen diskriminiert worden“ (Wippermann). Repräsentativ ist dabei die Äußerung des Fürstlich Reuß- Plauenschen Criminalraths Richard Liebich, der postulierte, „dass alle Sinti und Roma nur, weil sie ‚Zigeuner’ waren, Personen minderen Rechts seien, weshalb eine Einzelfallprüfung unnötig sei (...) Wenn der Richter sonst allenthalben zu individualisieren hat, d.h. das zu behandelnde Subject erst in seiner Eigenthümlichkeit erforschen und kennen lernen, und danach den Gang seines Verfahrens bestimmen muss, so darf der eingeweihte, mit dem Wesen der Zigeuner bekannte Inquirent bei diesen ohne Gefahr generalisieren und keinen Fehltritt zu thun besorgen, wenn er alle mit dem gleichen Maße misst, in gleicher Weise behandelt; denn ein echter, wahrer Zigeuner ist der Typus aller anderen“ (Liebich zit. n. Wippermann, 1997, S. 113f.).

Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden über Sinti und Roma systematisch Akten angelegt. Man unterwarf sie diversen Einschränkungen, z. B. wurden Wandererwerbsscheine verweigert und ihre Kinder in Erziehungsheime gebracht (wobei die Kommunen manchmal illegal derartige Scheine ausstellten, damit die „Zigeuner“ in andere Gegenden weiterzogen). Das Reisen in „Horden“, d.h. in familienähnlichen Zusammenschlüssen, wurde verboten. Ausländische „Zigeuner“ sollten abgeschoben, inländische möglichst restriktiv behandelt werden. „Schließlich wurde ihre ‚zigeunerische Eigenart’ sogar in ihren Pässen und Ausweispapieren vermerkt. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gingen die Behörden (...) dazu über, möglichst alle in Deutschland lebenden Sinti und Roma zu erfassen, wobei selbst die damals noch sehr teuren Lichtbilder angefertigt und Fingerabdrücke abgenommen wurden (...) Sie standen unter einem Sonderrecht und waren Staatsbürger minderen Rechts. Dies war bereits im Kaiserreich der Fall und änderte sich auch in der Weimarer Republik nicht wesentlich“ (Wippermann, 1997, S. 114f.).

Zum Teil kam es sogar zu Verschärfungen. 1926 trat das bayerische „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitscheuen“ in Kraft. Danach konnte „jeder Sinto und Rom, der ‚den Nachweis einer geregelten Arbeit nicht zu erbringen‘ vermochte, ‚aus Gründen der öffentlichen Sicherheit bis zur Dauer von zwei Jahren in einer Arbeitsanstalt untergebracht werden‘ (...). In diesen ‚Arbeitsanstalten‘ oder ‚Arbeitshäusern‘ unterlagen die Sinti und Roma einem Arbeitszwang und einer äußerst rigiden ‚Hausordnung‘, die die Vorlage für die ‚Ordnungen‘ in den späteren nationalsozialistischen Konzentrationslagern bilden sollte“ (Wippermann, 1997, S. 115). Im NS entschied dann die Rassenkunde darüber, wer „Zigeuner“ ist.

4.2. Porrajmos: Die Massenvernichtung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus

Dabei sollte gleichzeitig für das „deutsche Volk“ Lebensraum im Osten gewonnen und der „gesunde“ Volkskörper von „fremdrassigen“, „erbkranken“ und „asozialen“ Elementen gereinigt werden. „Asozialen“ der „Dominanzkultur“ (Birgit Rommelspacher) wurde jedoch prinzipiell noch ein Besserungsvermögen zugestanden (vgl. Schatz/Woeldicke, 2001, S. 101), auch wenn sie ebenfalls unter dem Verdacht einer Erbschädigung standen. Wissenschaft und „Alltagswissen“ entsprachen sich in vielerlei Hinsicht.

Der prominenteste „Zigeunerforscher“ war der bereits erwähnte Robert Ritter. Ritter wurde 1936 Direktor der neugeschaffenen „Rassenhygienischen und erbbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamts“. Obwohl sie manchmal nicht ausdrücklich erwähnt sind, wurden die ersten Rassegesetze der Nationalsozialisten auf Sinti und Roma angewandt. So wurden sie nach einem Gesetz von 1933 zwangssterilisiert und viele von ihnen als „schwachsinnig“ bzw. „sozial schwachsinnig“ eingestuft. Auch wendete man die Nürnberger Rassegesetze, die sich zunächst nicht auf Sinti und Roma bezogen, sondern auf die Juden, ebenfalls auf diese Bevölkerungsgruppe an. Inhalt war das Verbot der „Eheschließung von deutschblütigen Personen mit Zigeunern, Negern oder ihren Bastarden“ (Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 26. November 1935, zit. n. Wippermann, 2005, S. 32). Seit 1935 ging man dazu über, Sinti und Roma in sogenannten Zigeunerlagern zu internieren, was zunächst von den lokalen Behörden ausging (mit Wissen und Billigung des „Chefs der deutschen Polizei“ Heinrich Himmler), wobei wie schon erwähnt besonders die „Mischlingszigeuner“ als geborene Asoziale und Verbrecher galten. Himmler war nun nicht nur für die Vernichtung der Juden, sondern auch für die der Zigeuner zuständig.

1938 ordnete er die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage (...) aus dem Wesen der Rasse heraus“ an. Grundlage waren dabei die Untersuchungen der Forschungsstelle Ritters, die viele der 30 000 Sinti und Roma mit Hilfe staatlicher Stellen und der Kirchen in „Vollzigeuner“, „Zigeuner-Mischlinge mit vorwiegend zigeunerischem Blutsanteil“, „Zigeuner-Mischlinge mit gleichem zigeunerischen und deutschen Blutsanteil“ und „Zigeuner-Mischlinge mit vorwiegend deutschem Blutsanteil“ ausdifferenziert hatte (vgl. Wippermann, 2005, S. 34). Dabei galten noch Personen mit einem Urgroßelternteil, der als „Zigeuner“ firmierte, als „Zigeunermischlinge“. Nichterfasste Sinti und Roma hatten dagegen (anders als Juden, die u.a. über Mitgliederlisten der jüdischen Gemeinden ausfindig gemacht werden konnten) noch die Chance, sich als Angehörige der mit Deutschland befreundeten Länder (etwa als Italiener) zu tarnen, was manche auch taten (Wippermann, 2005, S. 36).

Mit dem systematischen Mord an Juden, Sinti und Roma wurde nach dem Angriff auf Polen 1939 begonnen. Alle Sinti und Roma sollten nach Polen deportiert werden. Diese Aktion wurde 1940 zunächst gestoppt, vor allem weil einige „Zigeunerforscher“ (u.a. auch Ritter) und Zigeunerpolizisten sich gegen die Deportation ausgesprochen hatten mit dem Argument, dass die Sinti und Roma fliehen und nach Deutschland zurückkehren würden. „Im Oktober begann dann die Massendeportation der deutschen Juden nach Osten. (...) Im November 1941 wurden ca. 5000 Sinti und Roma aus dem Burgenland, Ungarn, Rumänien sowie auch aus Deutschland in das Ghetto Lodz (...) deportiert. Dies geschah gegen den heftigsten Protest der für das Ghetto und die Stadt Lodz verantwortlichen deutschen Stellen, die dabei nicht nur alle möglichen antiziganistischen Vorurteile anführten, sondern selbst hohen SS-Offizieren, die auf Aufnahme von weiteren ‚Zigeunern’ drängten, vorwarfen, sie hätten ‚von den Zigeunern’ gewisse ‚Roßtäuschermanieren‘ übernommen (...). Interessant sind diese Schreiben deshalb, weil sie zeigen, dass diese SS-Männer die ‚Zigeuner’ noch mehr hassten als die Juden.

Ähnlich war es auch im Osten, wo unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion neben Juden, politischen Kommissaren der Roten Armee, Geisteskranken und sog. ‚Asiatisch-Minderwertigen’ auch Sinti und Roma in die Vernichtungsaktionen einbezogen wurden, ohne dass es dazu eines ausdrücklichen Befehls bedurft hätte. Erst am 4. Dezember 1941 ordnete der für das Baltikum und Weißrussland zuständige Reichskommissar Hinrich Lohse an, dass die ‚Zigeuner’ in der Behandlung ‚den Juden gleichgestellt werden’ sollten“ (Wippermann, 2005, S. 41).

Entscheidungen wurden dabei den Kommandeuren der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes überlassen, mit dem Ergebnis, dass zahlreiche Sinti und Roma sofort erschossen bzw. in Vernichtungslager gebracht wurden. In den okkupierten Gebieten der Sowjetunion wurden Sinti und Roma wie Juden von der Wehrmacht, der Polizei und den Angehörigen von Einsatzgruppen ermordet. „Zigeuner“ wurden dabei nach wie vor verdächtigt, Agenten zu sein. Juden galten als wesentlich an der Partisanenkriegführung beteiligt, während die „Zigeuner für besondere Grausamkeiten und den Nachrichtendienst (des Feindes ) verantwortlich (seien)“ (Turner zit. n. Wippermann, 2005, S. 43). Wippermann kommentiert: „Diese Quellenzeugnisse deuten darauf hin, dass die deutschen Täter keineswegs nur Juden hassten, wie dies von Daniel Jonah Goldhagen behauptet worden ist. ‚Hitlers willige Vollstrecker’ zeigten beim Massenmord an den Sinti und Roma einen noch größeren fanatischen Eifer, weil die antiziganistischen Ideologien und Stereotypen offensichtlich noch tiefer verwurzelt waren als die antisemitischen. Doch ist dies eine Vermutung. Keine Vermutung, sondern einwandfrei bewiesene Tatsache ist jedoch, dass Sinti und Roma wie Juden in den Vernichtungslagern vergast und von Angehörigen der Einsatzgruppen, der Polizeibataillone und der Wehrmacht erschossen worden sind. In dieser Hinsicht gab es, wie der Führer der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, 1945 vor den alliierten Vernehmern freimütig gestand, ‚kein(en) Unterschied zwischen Zigeunern und den Juden’“ (Wippermann, 2005, S. 44; vgl. dazu auch aus wert-abspaltungskritischer Perspektive die Ausführungen zur Bedeutung von Goldhagen in der Holocaustdebatte: Dornis, 2005).

1943 wurden übrigens alle „Zigeuner“ sowie „Zigeunermischlinge“ aus dem Wehrdienst ausgeschlossen, was sogar im Militär auf Unverständnis stieß. „Schließlich waren verschiedene ‚Zigeunermischlinge’ und offensichtlich auch ‚reinrassige Zigeuner’ wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet und zum Teil sogar zu Unteroffizieren befördert worden“. Sie trafen „teilweise noch in voller Uniform und bedeckt mit Orden und Ehrenzeichen erst Anfang 1943 im ‚Zigeunerlager’ Auschwitz-Birkenau (ein)“ (Wippermann, 2005, S. 45). Erwähnt werden muss hierzu, dass „Zigeuner“ traditionell u.a. den Beruf des Soldaten ergriffen. Das mutet zunächst merkwürdig an, da soldatischer Drill dem Zigeunerstereotyp entgegengesetzt zu sein scheint. Eine derartige Tradition soll jedoch – so die Spekulation in der einschlägigen Fachliteratur – u.a. mit dem typischen „Zigeuner“-Beruf des Schmieds in Zusammenhang stehen, der beim Militär gebraucht wurde.

Im Juli 1944 fand die letzte Vergasung statt. Sinti und Roma wurden auch in Holland, Belgien, Frankreich, Kroatien, Rumänien, der Slowakei usw. ermordet. Skurrilerweise hatte Himmler zunächst den Plan, „reinrassige Zigeuner“ am Neusiedlersee in einem Reservat anzusiedeln, wo sie, ihre Sitten und Gebräuche behaltend, einer „artgemäßen“ Arbeit nachgehen sollten. Die reinrassigen „Zigeuner“ als (wenngleich minderwertige) „Arier“ hätten einen wichtigen Beitrag zum germanischen Brauchtum zu überliefern – nicht zuletzt hinsichtlich ihrer okkulten und magischen Fähigkeiten. Dieser Plan wurde von Bormann und Hitler jedoch verhindert (vgl. Wippermann, 2005, S. 45 f.).

Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, dass „arbeitsscheu“ ein wichtiges Attribut von „Asozialität“ im Nationalsozialismus und ein zentraler Vorwurf gegenüber Sinti und Roma (neben den Juden) war. So schreibt Ritter: “Inmitten hochentwickelter Völker mit differenziert organisierten Gemeinwesen lebten demnach ‚fremdartige Horden, die im Gegensatz zu der bodenständigen Bevölkerung nomadenhaft umherziehen und sich nicht durch Arbeit ernähren’ würden (...) Sie eignen sich an, wessen sie habhaft werden können (...) Sie begnügen sich mit einem Platz an der Sonne, sie spüren keine Not, weshalb sie Arbeit auch nicht als not-wendig empfinden (...) Alle Bemühungen, sie ein anderes – artfremdes – Leben zu lehren, schlagen fehl, da alle fremden Darlegungen sie nicht ansprechen, sie nicht zum Mitschwingen bringen können, d.h. ihnen im Grunde unverständlich sind“ (Ritter, zit. n. Schmidt, 1996, S. 140).

4.3 Repressive Behandlung der Sinti und Roma nach 45, (fehlende) Wiedergutmachung und die Bürgerrechtsbewegung

Eigentlich hätte man gemäß den Beschlüssen der Alliierten die Gesetze aus der Weimarer Republik und NS-Zeit aufgeben müssen; dies umging man in den 50er Jahren, indem man etwa die „Bayerische Landfahrerordnung“ erließ, die bis in die 70er Jahre gültig war und de facto mit den entsprechenden Inhalten auf Sinti und Roma abzielte, auch wenn es nur noch wenige Sinti gab, die ständig reisten. Dabei knüpfte man an das oben erwähnte „Bayerische Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Asozialen“ von 1926 an. Wer ständig reisen wollte, brauchte eine Sondergenehmigung. Bis 1957 galt in Hessen das aus dem Jahre 1929 stammende „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“. Andere „Zigeuner“-Verfügungen u.a. aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts waren sogar bis 1976 gültig. Doch selbst wenn derartige Gesetze und Verfügungen abgeschafft waren, wurden Sondermaßnahmen weiterhin durchgeführt. In verschiedenen Städten gab es Strategiepapiere, um den Aufenthalt von „Zigeunern“ auf jeden Fall zu verhindern. In polizeilichen Lehrbüchern hielten sich rassenhygienische Einschätzungen aus der NS-Zeit. „Zigeuner“ galten nach wie vor als arbeitsscheu und vom Wandertrieb beseelt.

„Generell herrschte bei der Polizei eine ‚Haltung des prinzipiellen Verdachts’, derzufolge alle Sinti und Roma als potentielle Straftäter galten. In der polizeilichen Verwaltung implizierte dies die möglichst umfangreiche Erfassung der Sinti und Roma bis hin zur Registrierung des ‚ZN-Zigeunernamens’ oder der KZ-Häftlingsnummer. Bis Ende der siebziger Jahre wurde die ‚Landfahrerkontrollmeldung’ über die Landeskriminalämter an die ‚Landfahrerzentrale‘ in München weitergegeben, die über eine bundesweite ‚Zigeunerkartei’ verfügte. Zuständig vor Ort für die Erfassung der Daten und weitere Maßnahmen war ein ‚Zigeunersachbearbeiter’, zuständig bei den Landeskriminalämtern war die ‚Landfahrerstelle’. Zur Informationsverteilung wurden Merkblätter zur ‚Kontrolle der Landfahrer’ und Anweisungen der LKAs in Landes- und Bundesskriminalblättern veröffentlicht. Nach 1981 kam es unter dem Druck öffentlicher Proteste gegen diese Sondererfassung zur Änderung des Sprachgebrauchs. Aus ‚Landfahrern‘ und ‚Zigeunern’ wurden die ‚HWAO’ (häufig wechselnder Aufenthaltsort)- und ‚TWE’ (Tageswohnungseinbruch)-Täterkreise (...) Statt an die ‚Landfahrerzentrale’ in München wurden die Daten nun über LKAs an das Bundeskriminalamt weitergeleitet. Informationen wurden über Fernschreiben, Anweisungen und Sonderausgaben des Bundeskriminalblattes distribuiert“ (Reemtsma, 1996, S. 128 f.). Illegale erkennungsdienstliche Behandlungen gab es auch in den 90er Jahren, um deutsche Sinti und (ausländische) Roma polizeilich zu überwachen und zu kontrollieren (vgl. Reemtsma, 1996, S. 130).

Lange Zeit wurden die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Roma nicht anerkannt. „Zigeunerwissenschaftler“ wie Robert Ritter und seine Assistentin Eva Justin wurden nach 1945 entweder nicht verfolgt oder freigesprochen und arbeiteten in einschlägigen Stellen ungehindert weiter. NS-Material wurde bei anthropologischen Untersuchungen weiter verwendet. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Hermann Arnold, der seine Forschungen im Sinne Ritters weiter betrieb und zeitweilig, bis Ende der siebziger Jahre, mit seinem biologistischen Ansatz sogar Berater der Bundesregierung und der Caritas war. Sinti und Roma galten weiterhin als infantil und dem magischen Denken verhaftet. Die Gutachter der Wiedergutmachungs-Anträge der Verfolgten des Naziregimes waren die ehemaligen Mitarbeiter der „Zigeunerleitstelle“ beim Reichssicherheitshauptamt und der „Rassenhygienischen Forschungsstelle beim Reichsgesundheitsamt“. Ergebnis war u.a. ein Runderlass des Baden-Württembergischen Innenministers von 1950: „Die Prüfung der Wiedergutmachungsberechtigung der Zigeuner und Zigeunermischlinge (sic!) nach den Vorschriften des Entschädigungsgesetzes hat zu dem Ergebnis geführt, dass der genannte Personenkreis überwiegend nicht aus rassischen Gründen, sondern wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert worden ist. Aus diesen Gründen ordnen wir hiermit an, dass Wiedergutmachungsanträge von Zigeunern und Zigeunermischlingen zunächst dem Landesamt für Kriminalerkennungsdienst in Stuttgart zur Überprüfung zugeleitet werden“ (zit. n. Reemtsma, 1996, S. 134).

1963 wurde ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1956 aufgehoben, wonach Sinti und Roma erst seit 1943 und nicht schon seit 1938 rassistisch verfolgt worden seien. Zu diesem Zeitpunkt waren viele der Opfer schon gestorben; viele haben von dieser Rechtsprechung nie erfahren. Bereits 1969 lief die Antragsfrist ab. 1981 wurden allerdings neue Richtlinien zur „Abgeltung von Härte in Einzelfällen für Verfolgte nichtjüdischer Herkunft“ erlassen. 5.000 DM war dabei die Höchstsumme, bzw. es wurde eine niedrige Rente gewährt. Nicht zuletzt aufgrund von öffentlichen Kampagnen und Gerichtsverfahren erhielt letztlich die Mehrheit der Sinti und Roma in Deutschland eine Entschädigung, wenngleich eine völlig unzureichende und schäbige (vgl. Reemtsma, 1996, S. 135). Dabei „empfanden viele den Umgang mit ihrem Schicksal durch deutsche Behörden als ‚zweite Verfolgung’“ (Reemtsma, 1996, S. 135). Entschädigung bekamen nur die deutschen Sinti und Roma; osteuropäische Roma gingen leer aus (es sei denn, sie waren Opfer medizinischer Versuche oder Zwangsarbeiter in Deutschland). Dabei ist zu sagen, dass manchen Sinti und Roma die deutsche Staatsbürgerschaft nach 1945 nicht zurückgegeben wurde, die ihnen von den Nazis vor der Deportation entzogen worden war (vgl. Wippermann, 2005, S. 73).

Margalit weist darauf hin, dass im Gegensatz zum „sekundären Antisemitismus“, also einem Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, einerseits und einem Philosemitismus andererseits, der sich nach 1945 herausbildete, im Hinblick auf die „Zigeuner“ etwas Adäquates nicht existiert. Weder wurde in der Nachkriegszeit das antiziganistische Vorurteil in nennenswerter Weise bearbeitet noch die Massenvernichtung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus genügend ins Bewusstsein gerufen, um entsprechende Reaktionen hervorrufen zu können. Margalit unterscheidet drei Verarbeitungsweisen im öffentlichen Diskurs nach 1945: Das „nazistische Narrativ“ (im Grunde hatten die Nationalsozialisten mit ihrer eliminatorischen Praxis im Hinblick auf die „asozialen Zigeuner“ Recht), das „quasi-jüdische Narrativ“ (die „Zigeuner“ wurden wie die Juden vernichtet, und das ist ein Skandal) und das „synkretistische Narrativ“, das vorherrschend ist. Damit ist folgendes gemeint: „Es (das synkretistische Narrativ, R.S.) sah die verfolgten Zigeuner einerseits als fragwürdige Elemente und nicht als unschuldige Opfer an, andererseits betrachtete es sie in Anlehnung an das ‚jüdische Narrativ‘ dennoch als Opfer und verurteilte ihre Verfolgung und den an ihnen verübten Massenmord als Verbrechen. Diese Synthese reflektiert die allgemeine Haltung der deutschen Bevölkerung nach 1945 gegenüber der Zigeuner- und Judenverfolgung“ (Margalit, 2001, S. 222).

Insgesamt kann man sagen, dass sich die behördliche Behandlung der Sinti und Roma erst seit den 70er Jahren ansatzweise verbesserte (vgl. Reemtsma, 1996, S. 135). „Keine Minderheit wurde in der Bundesrepublik von der Polizei und den Medien so hartnäckig kriminalisiert und unter Pauschalverdacht gestellt wie die Sinti und Roma“, schreibt Michail Krausnick (1996, S. 147). Als günstig für das Anliegen der Sinti und Roma erwies sich das vergleichsweise liberale Nach-68er-Klima. 1971 gründete Vizenz Rose das „Zentralkomitee der Sinti Westdeutschlands“. Vereinzelt hatte es auch schon vorher Vorstöße zur Interessenorganisation gegeben (vgl. Wippermann, 2005, S. 76). Zu entscheidenden Veränderungen kam es jedoch Ende der 70er Jahre. Mit Protestaktionen und Demonstrationen wurde versucht, den Massenmord und die fortgesetzte Diskriminierung ins öffentliche Bewusstsein zu heben.

Prominentester Aktivist war Romani Rose, der auch heute noch Vorsitzender des 1982 gegründeten „Zentralrats der Sinti und Roma“ ist. Vorher waren Sinti und Roma vor allem Objekte staatlicher, kommunaler und kirchlicher Sozialarbeit, der oftmals traditionell-diskriminierende Zigeunerbilder zugrunde lagen. Im Oktober 1979 wurde in Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ eine Gedenkkundgebung unter dem Titel „In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt“ (so auch der Titel eines einschlägigen Sammelbands; Zülch 1979) mit großem Erfolg in der Gedenkstätte Bergen-Belsen durchgeführt, bei der u.a. die Präsidentin des Europarats und ehemalige KZ-Gefangene Simone Veil sprach. 1980 gab es einen siebentätigen Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau, um Bürgerrechte für Sinti und Roma einzufordern und die behördliche Sonderbehandlung abzuschaffen. Unter anderem wurde Auskunft über den Verbleib der NS-Akten verlangt. Darüber hinaus war es das Ziel, als ethnische Minderheit anerkannt zu werden. Diese Aktion erregte weltweit Aufsehen. So kam es wie oben gezeigt zu einer Wiederaufnahme von Entschädigungsverfahren. Die Verfolgung und Massenvernichtung der Sinti und Roma wurde anerkannt, auch wenn gesagt werden muss, dass das Gedächtnis daran – aufs Ganze gesehen - bis heute ziemlich schwach geblieben ist.

Als Linke, die allen völkischen/ethnischen/nationalistischen Konstruktionen mehr als skeptisch gegenübersteht, stutzt man zunächst einmal, wenn nun auch Sinti und Roma die Anerkennung als ethnische Minderheit einfordern. In diesem Zusammenhang rümpft man auch die Nase ob der Zusammenarbeit mit der suspekten „Gesellschaft für bedrohte Völker“. Es gilt hier jedoch zu bedenken, dass sich keine sonstigen (linken) Gruppierungen und Institutionen des Anliegens von Sinti und Roma angenommen haben. Auch gilt im spezifischen Fall der Sinti und Roma, dass diese bislang vor allem unter „Asozialität“ subsumiert und als soziales Problem betrachtet wurden. So gesehen erscheint die Forderung nach Anerkennung als eigene „Ethnie“ gerade im Hinblick auf diese Bevölkerungsgruppe in einem anderen Licht.

Heute existieren in vielen Bundesländern Büros des jeweiligen Landesverbands der deutschen Sinti und Roma, die bei Wiedergutmachungsanträgen und in rechtlichen und sozialen Fragen helfen, Diskriminierungen aufdecken, kulturelle Arbeit leisten (Vorträge, Diskussionen, Musikfeste usw.). Gerade die Aufdeckung von Diskriminierungen und die Einleitung rechtlicher Schritte ist auch bitter nötig, wie Änneke Winckel etwa anhand antiziganistischer Einstellungen heute bei staatlichen Stellen, Justiz, Polizei, den Medien usw. zeigt (Winckel, 2002). Die Anerkennung der Sinti und Roma als ethnische Minderheit (wie die Dänen und die Friesen in Schleswig-Holstein oder die Sorben in der Lausitz) ist inzwischen durchgesetzt. Streitigkeiten gab es, ob zunächst einmal ein zentraler Minderheitenschutz auch in anderen Ländern (Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechien usw.) gefordert oder für ein grundsätzliches Bleiberecht für alle Roma vor dem Hintergrund der deutschen NS-Verbrechen plädiert werden soll, was auch zu Aufsplitterungen innerhalb der Organisationen der Sinti und Roma führte (vgl. Wippermann, 2005, S.81). Mittlerweile gibt es ein Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Schwerpunkte sind Geschichtsforschung, Gedenkstättenarbeit, Kulturarbeit, Pflege von Tradition usw. (vgl. Krausnick, 1996, S. 154).

Seit 1989 hat sich die Situation der Roma gerade in den Ostblockstaaten rapide verschlechtert. Vertreibung und Pogrome sind an der Tagesordnung, was zu entsprechenden Migrationsbewegungen führt. Darüber wird in den Medien der BRD jedoch weniger berichtet als über angeblich ungerechtfertigte Asylanträge, Ladendiebstähle und bettelnde Kinder. Insgesamt kann seit 1989 bei staatlichen Stellen, den Medien usw. ein Wiedererstarken antiziganistischer Stereotypen festgestellt werden: sie seien kriminell, würden betteln und Kinder kriegen „wie die Karnickel“, sie seien dreckig, abergläubisch, primitiv u.ä. (siehe dazu Winckel, 2002).

Soviel zur Geschichte des Antiziganismus in Deutschland. Zum Schluss sei noch eine Warnung ausgesprochen: Auch wenn es zutrifft, dass die „Grundstrukturen der Exklusion“ in allen europäischen Ländern ähnlich sind (Haupt, 2005, S. 111), so kann doch davon ausgegangen werden, dass es auch erhebliche Unterschiede gibt. In den Niederlanden etwa gab es nie Zigeunersondergesetze, und eine gewisse „Wohnwagenkultur“ der Niederländer samt dazugehöriger Infrastruktur brachte es mit sich, dass sich die Diskriminierung der „Zigeuner“ in Grenzen hielt (vgl. Völklein, 1981, S. 102 f.). In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass das Stereotyp des „kriminellen Zigeuners“ in Großbritannien nicht durchgängig zu existieren scheint, sondern gewohnheitsmäßiges kriminelles Verhalten dem Landfahrer der „Dominanzkultur“ zugeschrieben wird (vgl. Völklein, 1981, S. 101). Von 1830 bis 1870 waren die „Romanicals“ in England vergleichsweise integriert und verdienten gut im Handel mit den Bauern, bis Kornimporte aus den USA dem ein Ende setzten. Auch wird um 1800 von den Roma auf der Krim berichtet, dass sie durch ihre Tätigkeiten als Astrologen, Schmiede und Musiker teilweise sehr wohlhabend waren (vgl. Haupt, 2006, S. 294).

All dies muss hervorgehoben werden, da sich an derartigen Beispielen gut zeigen lässt, dass gängige Stereotypen von „dem Zigeuner“ einfach nicht haltbar sind und es wesentlich die sozialen Bedingungen sind, die das Verhalten von gesellschaftlichen Gruppen und Einzelnen prägen. Sie zeigen überdies, dass die Geschichte der Zigeunerverfolgung sich simpler Verallgemeinerungen enthalten muss, auch wenn davon auszugehen ist, dass Vertreibung und Eliminierungswille in der Tat den Grundzug des Antiziganismus darstellen. Bemerkenswert ist auch, dass im Gegensatz zum Nachkriegsdeutschland in Frankreich Ende der 40er Jahre soziale Missstände für die spezifische Situation der „Zigeuner“ verantwortlich gemacht wurden und nicht ein „böswilliger Charakter“ (was eine entsprechende Sozialpolitik zur Folge hatte; vgl. Margalit, 2001, S. 100).

5. Antisemitismus und Antiziganismus

Wolfgang Wippermann kommt das Verdienst zu, erstmals Antisemitismus und Antiziganismus verglichen zu haben. So wurde etwa sowohl Juden als auch „Zigeunern“ eine innige Verbindung zum Teufel nachgesagt. Auch gibt es Parallelen zum „ewigen Juden“ Ahasver, der unstet wie der ewige Zigeuner herumziehen muss. Hatten Juden Schutzbriefe und waren sie zumindest in einigen Territorien geduldet, so wurden „Zigeuner“ in der frühen Neuzeit für vogelfrei erklärt, selbst wenn auch sie gelegentlich Schutzbriefe bekamen. Eine pauschale Vogelfrei-Erklärung der Juden hat hingegen nicht existiert. Zigeuner versuchte man als „orientalisches Volk“ zu zivilisieren. Auch sollten Sinti und Roma sesshaft gemacht werden, was jedoch doppelbödig war, weil sie gleichzeitig ständiger Vertreibung ausgesetzt waren. Juden galten hingegen als überzivilisierte Übermenschen, auch wenn es zeitweilig Überschneidungen zwischen den Stereotypen von „Zigeunern“ und „Ostjuden“ gab. „Doch während die ‚Konzentrationslager’ für oder gegen ‚Ostjuden’ aufgrund von heftigen öffentlichen Protesten 1923 wieder aufgelöst wurden, blieben die ‚Konzentrationslager’ für ‚Zigeuner’ bis 1933 bestehen, weil wirklich niemand, nicht die Juden, auch nicht die deutsche Arbeiterbewegung und schon gar nicht die linken deutschen Intellektuellen etwas daran auszusetzen fanden, dass die deutschen Sinti und Roma rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt waren und Staatsbürger zweiter, ja dritter Klasse blieben, was die deutschen Juden erst wieder in der NS-Zeit wurden“ (Wippermann, 1997, S. 240). Dies sind nur einige wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Antisemitismus und Antiziganismus, die Wippermann benennt.

Wippermann bleibt hierbei als Historiker verständlicherweise auf der historisch-empirischen Ebene. Uns interessieren die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Antisemitismus und Antiziganismus jedoch vor allem im Hinblick auf eine gesellschaftskritische Wert-Abspaltungstheorie. Hierzu gibt Franz Maciejewski einige wichtige Hinweise, wenn er auf den „psychologischen Kern des Antiziganismus“ zu sprechen kommt: „In der Konfrontation mit einer überwunden geglaubten Entwicklungsstufe der eigenen Zivilisation blitzt eine magisch-archaische Zeit auf; primitive Überzeugungen werden bestätigt, regressive Wünsche und mythische Angst wiederbelebt. Die Schuld der Sinti und Roma – wenn man denn so unvorsichtig sein will, davon zu reden – besteht darin, das Verdrängte (...) wachgerufen, die Gespenster hervorgelockt zu haben. Es spukt im eigenen Seelenhaus. Als Überbringer dieser schlimmen Botschaft werden die Zigeuner totgeschlagen. Sie zu beseitigen ist der Versuch, der ‚verhassten übermächtigen Lockung, in die Natur zurückzufallen’, Herr zu werden“ (Maciejewski, 1996, S. 20).

Wie gezeigt, stehen die „Zigeuner“ dabei für Ungebundenheit und Arbeitsverweigerung. Aus einer arbeitskritischen Perspektive stellen Schatz/Woeldike dabei den Vergleich zum Antisemitismus an: Der „Antiziganismus (bildet) eine Komplementierung der antisemitischen Projektion. Während ‚die Juden’ als die Exponenten und Urheber der gesellschaftlichen Modernisierung, vor allem jedoch als unverschämte Nutznießer entsprechender Emanzipationspotenziale galten, fungierten die so genannten Zigeuner ‚als Repräsentanten der untergegangenen Welt der Vormoderne, als das ‚eigene Alte der europäischen Kultur’. Der Hass auf die Nicht-Arbeit besteht also sowohl aus dem Hass gegenüber einer möglichen Aufhebung der Arbeit auf der Basis gesellschaftlichen Fortschritts, dem ‚Lohn der Arbeit’, und aus dem Hass auf die Erinnerung an ein Leben ohne die Friktionen der Arbeitsgesellschaft“ (Schatz/Woeldike, 2001, S. 123).

Während „die Zigeuner“ als minderwertig betrachtet werden, sind die Juden in der antisemitischen Vorstellung vornehmlich mit Macht und Herrschaft im Kapitalismus verkoppelt. “Gemeinsam ist jedoch jener Mechanismus, welcher durch die Abgrenzung und die physische Verfolgung der ‚Nichtidentischen` eine vermeintliche psychische Entlastung ermöglicht und andererseits verdrängte Wünsche nach außen projizieren lässt. Dieser Mechanismus lässt sich als negativ gewendete Wunschvorstellung bezeichnen, negativ im Sinne eines sich im Hass auf ‚die anderen’ manifestierenden Selbsthasses (...). Was man selbst nicht haben kann, soll auch kein anderer besitzen. Der ‚Gedanke an Glück’ muss ausgetrieben werden“ (Schatz/Woeldike, a.a.O.). Dabei ist hervorzuheben, dass es sich beim Antiziganismus im Gegensatz zum Antisemitismus um einen „romantischen Rassismus“ handelt, verquickt mit Vorstellungen von sozialem Elend und von Verfolgung, wobei gerade den „einfachen Leuten“ signalisiert werden soll: Ihr seht schon, wohin ihr kommt, wenn ihr dem nachgebt. Es droht der Fall in die „Asozialiät“, die Nichtintegration, den Ausschluss. In gewisser Weise könnte man vielleicht sagen: Der „Jude“ ist der „Zigeuner“ der Oberschicht, und der „Zigeuner“ ist der „Jude“ der Unterschicht.

Es wäre sogar zu erwägen, ob nicht der „Zigeuner“ noch viel mehr den Glücksvorstellungen der Massen – zumindest bis zum Fordismus – entsprochen hat als der „Jude“, gerade wenn man bedenkt, dass in der fordistischen Phase der Großteil der Bevölkerung tatsächlich noch aus Arbeitern und Bauern bestand. Das gefühlvolle Volkslied, der Rummelplatz, der Zirkus, unbewusst auch das „Auf-und Davon-Gehen“, die mit dem Zigeunerstereotyp in Verbindung gebracht werden, waren gewiss den Glücksempfindungen der „einfachen Leute“ näher als die als reich und mächtig imaginierten Juden, die auch für eine fremde bürgerliche Kultur standen. Auch wenn sich der gemeinsame Nenner im Vorwurf des „arbeitsscheuen Parasiten“ finden lässt, ging von den „Zigeunern“ primär womöglich der verführerische „Klang der Sirenen“ aus, je mehr Selbstdisziplin auch von den Subalternen der „Dominanzkultur“ gefordert wurde (vgl. Horkheimer/Adorno, 1973, S. 57).

Im Gegensatz zu anderen „Wilden“ (etwa Indianern oder Südseeinsulanern), die ebenfalls mit „Natur“ gleichgesetzt wurden, ist der „Zigeuner“ aber Bestandteil der eigenen Kultur, Bestandteil der Gesellschaft, in der man selbst lebt. Die „Zigeuner“ sind von Beginn der Moderne an durch und durch Bestandteil des Westens selbst. Margalit schreibt mit Blick auf Deutschland, dass die „Sinti – die deutschen Zigeuner – einige Generationen nach ihrem Eintreffen in Deutschland, ähnlich wie die Juden, von unbekannten Fremden zu bekannten ‚Anderen‘ und damit zu einem integralen Bestandteil der deutschen Kultur und Folklore wurden“ (Margalit, 2001, S. 33). Der „Zigeuner“ übernimmt (bzw. übernahm) zudem bestimmte ökonomische Funktionen; er hat von Anfang an dieselbe Religion wie die Mitglieder der „Dominanzkultur“, obschon mit magischen Einsprengseln (weshalb ihm ein „legeres“ Verhältnis zur Religionszugehörigkeit nachgesagt wird). Dass er dergestalt mit der „Dominanzkultur“ auch musikalisch eine Symbiose eingegangen ist (man denke etwa an den Czardas oder den Flamenco) und ihm nachgesagt wird, dass er dies gar noch virtuos auf die Spitze treibt, ist sein Verhängnis; deswegen, und weil er sich – im Gegensatz zum „Schwarzen“ – nicht versklaven lässt (verbunden damit, dass er an die immerwährende Angst des Abgleitens in die „Asozialität“ erinnert), wird er verfolgt. Der „Zigeuner“ ist dabei im Gegensatz zu anderen Rassismustypen (dazu im folgenden mehr) der Homo sacer par excellence im Binnenraum der modernen Gesellschaft selbst.

6. Homo sacer und „die Zigeuner“

In den letzten Jahren hat Giorgio Agambens Buch „Homo sacer oder das nackte Leben“ Furore gemacht (Agamben, 2002). Dieses Buch scheint mir gerade im Hinblick auf die Bedeutung des Antiziganismus im Kapitalismus aufschlussreich zu sein, freilich ohne dass Agamben selbst diesen Zusammenhang auch nur annähernd gebührend benennt (er erwähnt den Antiziganismus der Nationalsozialisten nur einmal kurz nebenbei). Um dies herausarbeiten zu können, stelle ich zunächst einige zentrale Gedanken Agambens aus dieser Schrift dar. In Anlehnung an Carl Schmitt, Hannah Arendt und Walter Benjamin geht Agamben von der Grundannahme aus, dass der Ausnahmezustand den „Nomos“ der Moderne bildet, die geheime Basis, auf der Recht und Politik fußen. In der Ausnahme „wird das, was draußen ist, nicht einfach mittels eines Verbots oder einer Internierung eingeschlossen, sondern indem die Gültigkeit der Ordnung aufgehoben wird, das heißt indem zugelassen wird, dass sich die Ordnung von der Ausnahme zurückzieht, sie verlässt. Es ist nicht die Ausnahme, die sich der Regel entzieht, es ist die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme stattgibt; und die Regel setzt sich als Regel, indem sie mit der Ausnahme in Beziehung bleibt. Die besondere `Kraft` des Gesetzes rührt von dieser Fähigkeit her, mit einem Außen in Beziehung zu bleiben“ (Agamben, 2002, S. 28).

Dabei nimmt für Agamben die Souveränität die Form einer Entscheidung über die Ausnahme (und das heißt: über das Leben) an, was „die eigene Aufhebung in sich einschließt“. In diesem Zusammenhang führt Agamben den Begriff des „Banns“ ein: „Diese Potenz (...) des Gesetzes, sich im eigenen Entzug zu unterhalten, sich in der Abwendung anzuwenden, nennen wir, einem Hinweis Jean-Luc Nancys folgend, Bann (...) Die Ausnahmebeziehung ist eine Beziehung des Banns. Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen (...), das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen (...)“ (Agamben, 2002, S. 39). Der Bann ist „eine Beziehungsform (...) die reine Form des Sich-auf-etwas-Beziehens im allgemeinen, das heißt die einfache Setzung einer Beziehung mit dem Beziehungslosen“ (Agamben, a.a.O.). Das Individuum wird hierbei zum „bloßen Körper“, zum „nackten Leben“ degradiert. Eine entscheidende Rolle spielt hier die Figur des „Homo sacer“, die seinem Buch auch den Namen gab und die aus dem römischen Recht stammt. Der Homo sacer ist ein Vogelfreier, der aus dem Recht herausfällt (aber gerade deswegen in es eingeschlossen ist) und ungestraft getötet, aber nicht geopfert werden kann.

Nach Agamben ist das Lager, nicht das Gefängnis der Ort, in dem der Ausnahmezustand sich letztlich realisiert. Es ist das „biopolitische (...) Paradigma der Moderne“ (Agamben, 2002, S. 127 ff.), der Ort, „der sich öffnet, wenn der Ausnahmefall zur Regel zu werden beginnt“ (Agamben, 2002, S. 177). Besonders in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus (aber nicht nur hier) drückt sich dies aus. Juden, Behinderte, Geisteskranke, „lebensunwertes Leben“ werden hier auf das nackte Leben reduziert, ermordet und zu medizinischen Versuchszwecken missbraucht. Dabei sieht Agamben gerade heute den Ausnahmezustand in einem krisenhaften Verfallsprozess wieder hervortreten, so etwa in der Zersetzung staatlicher Organisation im Ostblock, die zur Errichtung von Lagern und zu „illegitimen Übergriffen“ (wie z.B. Massenvergewaltigungen) führt; zu Erscheinungen, die Agambens Auffassung zufolge gerade die Voraussetzung des Rechts sind – ein Menetekel für die ganze Welt. Potentiell sind nach Agamben somit alle Menschen „homines sacri“ (siehe etwa Agamben, 2002, S. 124). Damit allerdings, wie Deuber-Mankowsky Agamben zu Recht kritisiert, „sind wir alle potentielle Jüdinnen und Juden, die der Autor als `Repräsentanten schlechthin und beinah als lebendiges Symbol des ‚Volkes‘, jenes ‚nackten Lebens‘ bezeichnet, das ‚die Moderne zwangsläufig in einem Innern erzeugt, aber dessen Präsenz sie auf keine Weise mehr ertragen‘ könne“ (Deuber-Mankowsky, 2002, S. 107). Es zeige sich hier „deutlich, wie das Denken im Ausnahmefall funktioniert und wohin es führt. So verspricht die Orientierung am Extrem höchste Konkretion und führt doch, wie die pauschalierende Verallgemeinerung, wir seien potentiell alle homines sacri, deutlich macht, in die reine und leere Abstraktion. Als solche ist sie nicht nur ein Affront gegenüber den konkreten Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen. Sie nivelliert nicht nur die Differenzen zwischen Opfern und Tätern, zwischen Zeugen und Nachgeborenen. Sie verwischt auch die vorhandenen und sich im Zuge der Durchsetzung der Globalisierung und der Reproduktionstechnologien verschärfenden (...) Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Norden und Süden, zwischen der Norm entsprechenden und den von der Norm abweichenden Menschen“ (Deuber-Mankowsky, a.a.O.).

Auffällig ist jedoch, dass der Antiziganismus auch bei Deuber-Mankowsky (wie schon bei Agamben selbst) keine Rolle spielt. Bevor ich hierauf näher eingehe, möchte zunächst einige Aspekte der wertkritschen Reinterpretation von Agamben durch Robert Kurz in Augenschein nehmen. Kurz bringt die Thesen von Agamben mit der „Konstitution von Politik und Ökonomie, von abstrakter Arbeit und Staatsmaschine“ der Moderne zusammen, wobei die leere Form der betriebswirtschaftlichen Logik im Mittelpunkt steht (Kurz, 2003, S. 351). Was Kurz hier aber nicht mitdenkt, ist die Logik der Abspaltung, dass nämlich diese betriebswirtschaftliche Logik, um existieren zu können, einen mit ihr dialektisch verbundenen „weiblichen“ Gegenbereich braucht, der einer anderen (Zeit-)Logik gehorcht, wobei Frauen eben Sinnlichkeit, Emotionalität; Charakterschwäche u.a. zugeschrieben wird, und zwar als „domestizierten Naturwesen“. Das heißt, die Abspaltung ist gerade nicht „die Ausnahme“, sondern die Regel, gebunden an die Notwendigkeit der Kindererziehung, Kranken, - Altenpflege usw. sowie der Reproduktion der Arbeitskraft. Die Wert-Abspaltungslogik ist also selbst die Voraussetzung des wiederum damit verschränkten Ausnahmezustands, in dem die Nichtidentität sichtbar wird, die der Regel entgegengesetzt ist und in ihrer Eigenqualität gesehen werden muss – und zwar gerade deshalb im Hinblick auf verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen und Formen der Ausgrenzung. Festzuhalten ist hier abermals, dass diese Wert-Abspaltung kein starres Prinzip, sondern ein Prozess ist; d.h. sie verändert sich im Laufe der historischen Entwicklung und macht Metamorphosen durch (siehe Scholz, 2000).

Dabei ist – so Kurz – der „Kapitalismus (...) das Paradox einer permanenten außergewöhnlichen Belastung. Es ging (in der Geschichte des Kapitalismus, R.S.) darum, den gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozess in einen einzigen ‚Geldbeschaffungsprozess’ oder ‚Geldvermehrungsprozess‘ und die Menschen in abstrakte Arbeits- und Leistungsmaschinen dieses ihnen zunächst äußerlichen und aufgeherrschten ‚Gesetzes’ zu verwandeln. (...). Die ‚weißen’ Unterworfenen des permanenten Ausnahmezustands konnten sich (im Prozess der äußeren Kolonialisierung R.S.) als Sub-Herrenmenschen den ‚farbigen’ Unterworfenen gegenüber gerieren, wobei letztere eigentlich nie so richtig aus dem ursprünglichen, konstituierenden Zustand der totalen Reduktion auf ‚nacktes Leben’ heraustreten konnten. Der soziale Raum der ausschließenden Einschließung, der Reduktion auf das ‚nackte Leben’ war von Anfang an ein Raum des Zwanges. Das Lager hatte in der Frühmoderne noch den Namen des Hauses (...). Das Armenhaus, Arbeitshaus, Zuchthaus, Irrenhaus, Sklavenhaus – die ‚Häuser des Schreckens’, in denen exemplarisch für die Gesamtgesellschaft die Einübung in die fremdbestimmte abstrakte Arbeit stattfand, ein in den Lagern der späteren Modernisierungs- und Krisendiktaturen verschärfter Vorgang. Dieser ursprüngliche Ausnahmezustand ist zum modernen Normalzustand geworden, der aller Rechtstaatlichkeit zugrunde liegt“ (Kurz, 2003, S. 354).

Kurz spricht in diesem Zusammenhang vom „geronnenen Ausnahmezustand“. Nur in der Privatsphäre befinden sich die Individuen außerhalb dieses Zustandes und Zwanges; genauer müsste hier wohl strukturell von männlichen Individuen die Rede sein, die auf die Frau als „domestiziertes Naturwesen“ rechnen. „Die Rechtsfähigkeit dieses Daseins ist an seine Reduktionsfähigkeit gebunden, und deshalb bildet das ‚nackte Leben’ den Kern des ‚freien autonomen Individuums’. Diese Autonomie ist aber nichts anderes als die Verinnerlichung des permanenten, geronnenen Ausnahmezustands in einem mehrhundertjährigen repressiven und selbstrepressiven Gewöhnungsprozess (von Elias frecherweise als ‚Zivilisationsprozess’ beschönigt). Das daran gebundene ‚Streben nach Glück’ in der Tretmühle der universellen Konkurrenz kann immer nur in die völlige Verlassenheit münden“ (Kurz, 2003, S. 355).

Kurz geht von der „Verflüssigung des Ausnahmezustands“ und der Souveränität in Krisen aus. Der Zustand der Normalität des „geronnenen Ausnahmezustands“ ist nun ausgesetzt. Es erfolgt ein Zugriff auf das ‚nackte Leben’ jenseits der Arbeitssphäre durch die Institutionen der „Souveränität“. Jedoch unterscheidet sich die Weltkrise der „dritten industriellen Revolution“ von vorhergehenden Krisen dadurch, dass jetzt auch die Souveränität selbst sich zu „verflüssigen beginnt, weil auch der Raum der einschließenden Ausschließung sich auflöst (...). Die Souveränität, in dem Maße wie sie noch weiter existiert, reagiert darauf reflexhaft mit ihren gewohnten Krisenmaßnahmen, obwohl diese ins Leere laufen“ (Kurz, 2003, S. 356). Zwangsarbeit und in diesem Zusammenhang Billiglohn, das Lager, Menschenverwaltung usw. werden nun für die Überflüssigen in der Krise der Arbeitsgesellschaft auf einem neuen Verfallsniveau aktiviert. Sie fallen sukzessive aus dem Rechtszustand heraus.

Im Gegensatz zu Agamben geht Kurz jedoch nicht einfach davon aus, dass wir heute potentiell alle „homines sacri“ sind, sondern er nimmt Differenzierungen vor. Von Anfang an gab es alle möglichen Überflüssigen, Alte, Behinderte, Bettler, Dauerarbeitslose usw. einerseits, die „Juden als Macht und Fremdartigkeit, auf die das ungeheure Entfremdungspotential der modernen Fetischgesellschaft projiziert wurde“, andererseits. Dabei muss zwischen Lagern, Gefängnissen, Arbeitshaus und Auschwitz insofern unterschieden werden, als dieses „das reine Vernichtungslager um der Vernichtung willen (war)“ und keinen anderen Zweck hatte (Kurz, 2003, S. 360f.). Und auch heute noch, in der Zerfallsepoche des Kapitalismus, vollzieht sich die „einschließende Ausschließung (...) im polaren Muster von Rassismus und Antisemitismus, von Definition eines ‚lebensunwerten Lebens’ einerseits und phantasmatischer Projektion eines auszulöschenden, ‚fremdrassigen‘ Prinzips andererseits“ (Kurz, 2003, S. 362).

Auffallend ist nun, dass sowohl in der Kritik von Deuber-Mankowsky als auch von Kurz an Agamben, und trotz ihrem Pochen auf Differenzierungen, „die Zigeuner“, die doch gleichermaßen wie die Juden in Auschwitz umgebracht wurden, fehlen und aus der Darstellung herausfallen. Neben den Juden waren die „Zigeuner“ die Bevölkerungsgruppe, die nicht nur als „fremdrassig“ galt, sondern (im Gegensatz zu diesen) in der Geschichte der Modernisierung mehrmals tatsächlich für „vogelfrei“ erklärt wurde. Manche bislang getroffene Feststellung muss wiederholt und ins Gedächtnis gerufen werden, um die tatsächliche Dramatik des Antiziganismus in der Moderne, im Kapitalismus, aufzuzeigen und in diesem Zusammenhang die Homo-sacer-Rolle des „Zigeuners“, die eigentlich auf der Hand liegt, deutlich zu machen. Hier ist Wolfgang Wippermann noch einmal anzuführen: „Ich kenne keine Parallelerscheinung, in der eine ganze Gruppe, ein ganzes Volk für vogelfrei erklärt worden ist. Dies ist ein Sonderfall in der deutschen Rechtsgeschichte“ (Wippermann, 1999, S. 95). Die Verfolgung der „Zigeuner“ erklärt sich zum einen aus dem neuzeitlichen Disziplinierungsprozess und dem Aufkommen der „protestantischen Ethik“, zum anderen aus „Fremdenfeindlichkeit“, von der Vaganten und Bettler verschont blieben. Sie hing zusammen mit jener Zuschreibung magischer Fähigkeiten und dem Vorwurf, dass „Zigeuner“ aufgrund der dunklen Hautfarbe mit dem Teufel im Bund seien. Einen religiösen Antiziganismus gab es schon vor dem Rassenantiziganismus.

Und im 20. Jahrhundert gab es wie gezeigt „Zigeunerlager“ schon in der Weimarer Republik: „Die Sinti und Roma wurden nach wie vor diskriminiert, obwohl sie deutsche Staatsbürger waren, Steuern zahlten und zum Militär mussten (...). In verschiedenen Städten wurden die Sinti gezwungen in ‚Zigeunerlagern’ zu leben, die teilweise, so in Frankfurt am Main, auch offiziell ‚Konzentrationslager‘ genannt wurden“ (Wippermann, 1999, S. 101). Die „zigeunerische Eigenart“ war ja schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Sondererfassungen und Ausweispapieren vermerkt. Und wir erinnern uns: „Sinti und Roma waren eine Bevölkerungsgruppe, die in einer beispiellosen Weise aus primär rassischen Gründen diskriminiert, entrechtet und überwacht wurde. Sie standen unter einem Sonderrecht und waren Staatsbürger minderen Rechts“ (Wippermann, 1997, S. 114 f.), sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik, obwohl die „Zigeunergesetze“ eindeutig verfassungswidrig waren. Ohne wie gesagt Sinti und Roma in seinen Ausführungen zu nennen, konstatiert Robert Kurz: „Was den eigentlichen Ausnahmezustand kennzeichnet, wie er vor der Moderne kaum je in Erscheinung trat, ist eine spezifische Erscheinungsform der ‚Abnormalität‘, die von einer spezifischen Art der Internierung großer oder wenigstens exemplarischer Bevölkerungsanteile begleitet wird; daher auch der Begriff des ‚Lagers‘. Es handelt sich dabei nicht um herkömmliche Gefängnisse im Rahmen von Strafrechtsverhältnissen, sondern um vor oder jenseits aller Rechtsverhältnisse liegende ‚Erfassungen‘. Die Erfassung geht hier über den Zugriff vermittelnder Instanzen hinaus; sie wird unmittelbar“ (Kurz, 2003, S. 352).

Über Sinti und Roma wurde in der Moderne eigentlich ein permanenter Ausnahmezustand verhängt. Sinti und Roma wurden im Nationalsozialismus im KZ vernichtet und von Polizei- und Militärbataillonen z.T. ohne (Rechts-)Vorgabe „von oben“ umgebracht. Nach 1945 wurden ihnen z.T. ihre deutschen Pässe nicht zurückgegeben und eine adäquate Wiedergutmachung verweigert. Als Opfer des Parrojmas bleiben die Sinti und Roma bis heute häufig unbeachtet. Diese Sonderbehandlung und Sondererfassung setzte sich auch nach 1945, teilweise bis heute, fort. Schon seit der Wende zur Neuzeit verhielt es sich so: „Mit der Stigmatisierung der vaterlandslosen Müßiggänger will das Zigeunerstereotyp nicht von außen kommende Fremde abwehren, sondern die eigenen Reihen von jenen säubern, die der bürgerlichen Arbeitsmoral unfähig und unwillig zu begegnen scheinen. Dabei bezieht es sich nicht auf einzelne Akte des Ungehorsams oder nachweisbare Vergehen. Es zielt vielmehr auf die Diskriminierung und Ablehnung einer Lebensweise. Behauptet wird, dass Zigeuner nicht aus Not herumziehen und stehlen, sondern aus Passion, dass sie nicht gelegentlich gegen Gesetze verstoßen, sondern außerhalb der Gesetze leben. Herrenlos zu sein wäre kein von zufälligen Anlässen hervorgerufener akzidenteller Zustand, sondern der substanzielle Modus zigeunerischen Daseins“ (Hund, 1996, S. 24).

Obwohl also die „Zigeuner“ „homines sacri“ par exellcellence sind, wie ihre Verfolgungsgeschichte beweist, werden sie in aller Regel – selbst noch in kritischen Darstellungen des Rassismus – vergessen; und gerade in diesem Vergessenwerden drückt sich der Umstand aus, dass der „Zigeuner“ noch unter den „Überflüssigen“ überflüssig ist, dass er sozusagen den Homo sacer des Homo sacer darstellt, dass es sich bei ihm gewissermaßen um das Urbild des Homo sacer, den Ur-Homo-sacer handelt. Der Antiziganismus ist gewissermaßen der Paria unter den Rassismustypen. Der „Zigeuner“ ist in der rassistisch-asozialen Konstruktion der Allerletzte in der Gesellschaft, der „Abschaum der Menschheit“, wie der deutsche „Zigeunerexperte“ der Aufklärung Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann (zit. n. Ufen, 1996, S. 75) erklärt hatte. Er stellt somit das abschreckende Beispiel schlechthin für den „Normalen“ dar; er zeigt ihm, „wohin er kommt“, wenn er nicht funktioniert und pariert, sondern sich „wie ein Zigeuner“ verhält. „Zigeuner“ sollten nach Grellmann als unterprivilegierte, die Drecksarbeiten verrichtende Arbeitskräfte auf unterster Stufe in die Gesellschaft „integriert“ und entsprechenden Umerziehungsprozessen unterworfen werden (vgl. Ufen, 1996, S. 86).

Es kann nicht genug hervorgehoben werden: „Der Doppelcharakter des Zigeunerstereotyps ist durch dessen von der Aufklärung initiierte und im 19. Jahrhundert vorangetriebene Ethnisierung manifest geworden. Er demonstriert die Dialektik rassistischer Diskriminierung. Sie legitimiert die Unterdrückung und Gängelung vorgeblich unterentwickelter Rassen durch sich edle Abkunft bescheinigende Völker. Und sie erlaubt deren selbst sozial diskriminierten Unterschichten, Vorstellungen von Höherwertigkeit und Zugehörigkeit zu entwickeln oder zu befestigen. Gleichzeitig hält sie diesen aber auch ständig mahnend vor Augen, dass ein Scheitern an den Zumutungen der Klassengesellschaft ihnen gegebenenfalls nicht nur als vorübergehende Unpässlichkeit oder unverschuldeter Schicksalsschlag ausgelegt werden könnte, sondern als Zeichen rassischer Minderwertigkeit. Dabei ist die modernisierte Konstruktion des Zigeuners besonders flexibel. Sie lässt die wechselseitige Verwandlung diskriminierter sozialer und rassischer Eigenschaften zu. Ihre beiden Seiten des nomadisierenden und primitiven Fremden wie des müßiggehenden und gesetzbrechenden Asozialen können je nach Bedarf stufenlos gegeneinander verschoben werden“ (Hund, 1996, S. 32). Diese strukturelle Verbindung zur „Asozialität“ ist es, was den „farbigen Untermenschen“ im Kolonialisierungsprozess, aber auch den „slawischen Untermenschen“, den die Nationalsozialisten ebenfalls im Auge hatten und der für die Deutschen Sklavendienste verrichten sollte, vom „Zigeuner“ unterscheidet.

Um die Funktion des „Zigeuners“ als Homo sacer herausarbeiten zu können, bedarf es jedoch nicht bloß rechtsphilosophischer und politökonomischer Analysen bzw. Untersuchungen, wie „der Zigeuner“ im Diskurs hergestellt wird, sondern ebenso sehr auch psychoanalytischer Überlegungen. Erst so kann die Totalität des antiziganistischen Syndroms – und damit die Homo-sacer-Funktion des „Zigeuners“ als Grundvoraussetzung des Kapitalismus – schon seit den frühmodernen Anfängen begriffen werden: „Die Härte der Maßnahmen entspringt nicht dem Ausmaß des devianten Verhaltens einer zahlenmäßig geringen Minderheit; sie erklärt sich vielmehr aus der Angst, dass ‚Ungehorsam und Frevelmuth’ auf die Mehrheitsbevölkerung übergreifen könnten. Gesprochen wird von der Gesetzlosigkeit der Zigeuner, gemeint ist der bröckelnde Gehorsam der Untertanen. Sinti und Roma werden aber nicht nur als Objekte der Abschreckung gebraucht, sie dienen der potentiell aufsässigen Bevölkerung zugleich als sehr reale Hassobjekte. Wenn der durchschnittliche Untertan im Konflikt zwischen Neigung und Aufruhr und dem Respekt vor der Obrigkeit steht, dann stellt ihm eben diese Obrigkeit über den Umweg der Projektion die Erfüllung der beiden gegensätzlichen Triebregungen in Aussicht. Die antiziganistische Gewalttat erlaubt es, sich dem Wunsch nach Abfuhr hinzugeben, dessen Erfüllung aber gleichwohl als Ausdruck respektvollen Gehorsams, nämlich als Antwort auf die Befehle der herrschenden Mächte zu erleben. In dem Zusammenspiel zwischen Triebstruktur der Untertanen und dem Machtinstinkt der Obrigkeit steckt das Geheimnis für den Erfolg antiziganistischer Propaganda“ (Maciejewski, 1996, S. 19).

Alte, Kranke und Behinderte als Kategorien der Überflüssigen „können nichts dafür“, aber „die Zigeuner“ waren schon immer willentlich deviant; ihnen wird jedwedes Mitgefühl und Mitleid verweigert, auch wenn ihnen dann letztlich doch unterstellt wird, dass sie nicht anders können (vgl. Hund 1996, S. 25). Zynisch zugespitzt könnte man geradezu sagen: Das ist ja gerade das Schöne am „Zigeuner“. Er will es auch freiwillig so haben! Er ist gewissermaßen ein Homo sacer, ein Verbannter, ein Gesetzloser aus Leidenschaft. So stellt es sich nicht nur für den direkten Antiziganisten dar, sondern auch für die Romantiker. Faria, Faria, ho!

Die „Zigeuner“ stellen als homines sacri par excellence eben nicht wie in der antiziganistischen Sicht den „Bodensatz“ der Gesellschaft dar, sondern den Boden der Gesellschaft selbst: „Arbeit (...), verwertbare abhängige Arbeitskraft, ist das Scheidewasser, das die Moderne nicht erst seit der Aufklärung, sondern seit Beginn der Konstruktion des Zigeuners bereithält, um diejenigen, von denen sich bei Anwendung irgendwie heilsamen Zwangs immerhin noch einiger Nutzen könnte erwarten lassen, von jenen zu trennen, die als gänzlich unnütz verworfen werden müssen“ (Ufen, 1996, S. 84). Im Grunde ist der im ewigen Ausnahmezustand befindliche und von den Institutionen der Souveränität möglichst total erfasste „Zigeuner“ der Nomos der Moderne. Fast wie bestellt taucht er an der Wende zur Neuzeit auf. Verräterisch zeigt dies auch darin, wie dieser spezifische Rassismus in der Behandlung der Rassismen ausgeblendet wird. Gerade dieser gigantische blinde Fleck verweist auf die Tiefendimension des Antiziganismus in Moderne und Kapitalismus.

Erwähnt werden muss jedoch, dass es auch fragwürdige Problematisierungen des Zigeuners als „Untermensch“ geben kann, auch wenn dies eher selten vorkommt. Aber immerhin gibt es auch die Variante, dass der Holocaust mit Hinblick auf den Porrajmos relativiert wird (vgl. Margalit, 2001). Als könnte das eine gegen das andere ausgespielt werden! Vorstellbar wäre gerade in der heutigen Globalisierungsära, wenn das Überflüssigwerden auch viele Mitglieder der „Dominanzkultur“ bedroht, Folgendes: Während den Juden unterstellt wird, dass sie Banken, Politik und Medien im Weltmaßstab beherrschen, könnte auf einmal so mancher Deutscher oder dominanzkultureller Europäer seine „proziganistische“ Einstellung, die bislang wohl jahrzehntelang verschüttet war, entdecken (während extrem antisemitische Einstellungen sich bei 20% der Bevölkerung finden, sind antiziganistische Einstellung bei 2/3 der Bevölkerung vorhanden; vgl. Margalit, 2001, S. 191). Die Heuschrecken und Juden „da oben“ kommen über uns, und „wir da unten“ werden dadurch zu Ausländern und zu „Zigeunern“. Zigeuner und wir sitzen doch in einem Boot als Opfer der Jüdischen Weltverschwörung, wogegen sich die „parasitären Juden“ zum Opfer schlechthin stilisieren, auf Kosten aller! Dass derlei philoziganistische Projektionen Diskurshegemonie erreichen könnten, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich. Die „Geschichte (lehrt), dass Antisemitismus und Antiziganismus so etwas wie mit einander kommunizierende Röhren waren. Ein Erstarken des Antiziganismus hat immer sofort zu einem Anschwellen des Antisemitismus geführt“ (Wippermann, 2005, S. 136), wobei der Antiziganismus jedoch unterbelichtet blieb, weil der „Zigeuner“ (wie ich – ceterum censeo – behaupte) eben den „Homo sacer“ par excellence darstellt. Darauf, wie sich antiziganistische Haltungen heute äußern und was dies mit einer allgemeinen Tendenz des Überflüssigwerdens, des Homo sacer-werdens in der Globalisierungsära bedeutet, gehe ich im weiteren genauer ein.

7. Linke Romantik und „die Zigeuner“

Wie schon gezeigt, wurden traditionell die „Zigeuner“ in der Linken dem Lumpenproletariat zugeordnet (bzw. als „Zigeuner“ waren sie dies schon seit eh und je), Als prototypisch „schräge“ und „falsche“ Erniedrigte und Beleidigte, die ja bloß „Zigeuner“ sind und denen es womöglich irgendwie auch recht geschieht, brauchten sie daher nie eigens erwähnt zu werden. Zur Emanzipation, die prinzipiell auf einem arbeitsontologischen Fundament imaginiert war, hatten sie nichts beizutragen. So sieht bereits Marx im „Achtzehnten Brumaire“ das „Lumpenproletariat“ als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“, wobei er zum „Lumpenproletariat“ zählt: „Neben zerrütteten Roues (Wüstlingen R.S.) mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuerlichen Ablegern der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni (Räuber R.S.), Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus (Zuhälter R.S.), Bordellhalter, Lastenträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen“ (MEW, Bd. 8, 1982, S. 160 f.). Es ist offensichtlich, dass „die Zigeuner“ hier mitgemeint sind, etwa wenn Marx Spieler, Scherenschleifer, Kesselflicker, „Lumpensammler“ u.ä. nennt, die traditionell „Zigeunerberufe“ waren. Und freilich gehören Betteln, Stehlen und „Zigeuner-Sein“ schon immer zusammen usw. Auch bei Marx verschieben sich so das Zigeunerstereotyp und „Asozialität“ „stufenlos gegeneinander“.

Im Realsozialismus wurde die den „Zigeunern“ zugeschriebene Lebensweise als „kleinbürgerlich“ diffamiert, und man zwang sie zur Sesshaftigkeit. Und noch schlimmer: „Zwangsarbeit war auch im kommunistischen Rumänien für Roma vorgesehen. Im Dekret Nr. 153 aus dem Jahr 1970 wurde ‚soziales Parasitentum‘, ‚Anarchie‘ und ‚Abweichung vom sozialistischen Lebensstil‘ mit Gefängnis oder harter Arbeit bestraft. Obwohl Roma wie überhaupt in der Diktatur Ceausescus nicht genannt wurden, waren sie die Hauptbetroffenen dieses Gesetzes“ (Haupt, 2006, S. 194).

Anders war dies allerdings etwa Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, zu Zeiten der westlichen Alternativbewegung. Nun entdeckte man „die Zigeuner“ als „Widerständige“ gegenüber den Zumutungen des Industriekapitalismus. Die Intention von Gronemeyer & Co., die in den 70er und 80er Jahren an der Universität Gießen ein Projekt zur „Tsiganologie“ (ein neuer Begriff im Gegensatz zur alten Zigeunerkunde) durchführten, ist es, „ihre (der Zigeuner, R.S.) Geschichte (nicht) nur als die Geschichte von Opfern (zu beschreiben), weil man ihnen dann ihre Würde als Handelnde nimmt. Die Beschreibung der Verfolgung darf nicht verdecken, dass sie unter den Bedingungen einer feindselig gesinnten Umwelt außergewöhnliche Fähigkeiten, Phantasie und Kraft entwickelt haben, um dennoch zu überleben“ (Gronemeyer/Rakelmann, 1988, S. 22). Weiter heißt es: „Im Umgang mit dem Thema Zigeuner kann es (...) heute keine wissenschaftliche Neutralität mehr geben, nur befangene, interessierte Formen der Untersuchung. Es kann nicht um eine Fortsetzung der Polizeiwissenschaft gehen, sondern nur um die Benennung der Opfer und um die Beschreibung der Aggressivität der sesshaften Kultur“ (Gronemeyer, 1988b, S. 219).

Vor diesem Hintergrund wird nun gewissermaßen eine Rekonstruktion der Kultur der „Zigeuner“ im gesellschaftlichen Wandel versucht. Kernpunkt einer Kritik an diesem Projekt ist folgender Einwand, der immer wieder geäußert wurde: „In der Tsiganologie durchlebt das herkömmliche Zigeunerbild eine Metamorphose. Rasse wird in Eigensinn und Asozialität in Flexibiliät überführt. Das lustige Zigeunerleben verwandelt sich in die Freiheit eines widerständigen Subjekts. Was traditionell Primitivität genannt wurde, gilt als Alternative zu den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Muster und Rechtfertigungen von Diskriminierung werden durch die Tsiganologen einer Umwertung unterworfen“ (Niemann, 2000, S. 35). Und „(der) angebliche Widerstand der Zigeuner wird zum Vehikel der Zivilisationskritik, denn die Zigeuner hätten sich den Zwängen der Mehrheitsgesellschaft entzogen“ (ebd., S. 37). Gesellschaftskritik werde so „durch das Medium einer romantischen Darstellung der zigeunerischen Lebensweise zu formulieren (versucht)“ (a.a.O., S. 37).

Hierzu nun einige Stellen, die diese Behauptung stützen. Joachim Hohmann, ein „Zigeunerforscher“, der nicht unmittelbar zum Gießener Projekt für Tsiganologie gehört, allerdings einige Schriften in Zusammenarbeit mit diesem verfasst hat, schreibt unter Berufung auf Hans Schütte: „Das Verhalten der Zigeuner ist zutiefst sozial, nur ist es nach innen, in Richtung der eigenen Sippe gerichtet und erhebt nicht den Anspruch, auch für die ‚Außenwelt‘, die Nichtzigeuner zu gelten. ‚Niemand ist stärker organisch verwurzelt als sie – freilich in ihrer Gesellschaft‘, schreibt Hans Schütte und fährt fort: ‚Sie haben ihre eigenen ungeschriebenen Gesetze und Sanktionen, selten dringen ihre internen Konflikte nach außen, so gut wie nie bemüht ein Zigeuner gegen einen anderen ein Gericht‘“ (Hohmann, 1980, S. 107). Den „Zigeunern“ werden Eigenart und Eigenheit allenthalben bescheinigt. So etwa auch bei Georgia Rakelmann: „Die Zigeuner haben meisterhafte Formen entwickelt, ihre kulturelle Identität zu schützen – ihre Überlebenstechniken. Sie sind auf jeder Ebene angesiedelt, zu ihnen gehört das unauffällige Reisen und Campieren, in einem Wohnwagen in einem Heer von Urlaubern, genauso wie das Verstecken hinter der bunten Show und der Provokation – indem z.B. unzählige zerlumpte, barfüßige Kinder aus einem goldenen Rolls Royce auf einer Hauptgeschäftsstraße steigen. Die eigene Sprache, das Romani, dient (...) als Schutz (...) Die wissenschaftliche Einkreisung des Phänomens Zigeuner hat die Regeln des Umgangs zwischen den Zigeunern und den ‚Gadsche‘ (in der Zigeunersprache Bauer, Nicht-Zigeuner) nicht aufgehoben – im Gegenteil: Im Widerstand der Zigeuner gegen ihre Erfassung und im Bestreben der Nicht-Zigeuner, sie zu ergründen, spiegelt sich das unveränderte Verhältnis wieder“ (Rakelmann, 1980, S. 150). Weiter schreibt Rakelmann: „In meiner Nachbarschaft leben in einem Hochhaus mehrere Rom-Zigeunerfamilien. Sie halten sich zwischen ihren Reisen in den Appartmentwohnungen auf, die Wohnwagen des Verwandtenbesuchs finden auf den Parkplätzen der Umgebung Platz. Sie leben in der Anonymität des Hochhauses in der gleichen Abgeschlossenheit, wie in einem Lager außerhalb der Stadt. Auch die Lebensweise der Zigeuner in den nordamerikanischen Metropolen, mit ihren alten und neuen Formen, zeigt an, dass Zigeunerkultur keineswegs an das Leben im Pferdewagen auf Waldlichtungen gebunden ist“ (Rakelmann, 1980, S. 169f.).

Die Kontrolle und Erfassung durch den Staat ist immer wieder Angriffspunkt: „Die Regulierung und Disziplinierung der Zigeuner seit ihrem Auftreten in Europa hat auch und vor allem ihren Erwerbsformen gegolten, die eher am Rande der Macht angesiedelt sind – in der Schattenökonomie (...). Regierungen ist die Schattenökonomie ein Dorn im Auge. Sie möchten eben kontrollieren, ordnen und steuern. Es ist der erstaunlichen Flexibilität zigeunerischer Kultur zu danken, dass sie in ökonomischen Nischen hat überdauern können und dort eine stupende Fähigkeit bewiesen hat, sich zu modernisieren. Im Zeitraffer: Als der Pferdemarkt nicht mehr einträglich war, sattelten manche Händler auf den Gebrauchtwagenmarkt um“ (Gronemeyer, 1988c, S. 107). Der Versuch, „Zigeuner“ zu regelmäßiger und abhängiger Erwerbsarbeit zu bewegen, sei gescheitert (vgl. Gronemeyer, 1988, S. 122).

Niemann kritisiert an der Tsiganologie, dass bei ihr „die Zigeuner außerhalb der modernen Arbeitsgesellschaft stehen (...). Die angebliche Scheu vor anstrengender Arbeit, der Hang zum Nichtstun verwandelt sich in die von heutigen Zwängen freiere Schattenökonomie (...). Was früher als Nichtarbeit gekennzeichnet wurde, erhält die Patina einer Alternative zu der herrschenden Wirtschaftsweise“ (Niemann, 2000, S. 41). Er fasst zusammen: „Der tsiganologische Zigeuner wird als Antipode zu Begrifflichkeiten wie Disziplin, (fremdbestimmte) Arbeit, Untertanentum, Erfassung, Ordnung und Formierung entworfen. Er bildet somit das Gegenstück zum modernen Fabrikarbeiter und Angestellten – dem Durchschnittsbürger (...). Das nicht industriös strukturierte soziale und wirtschaftliche Leben gilt den Tsiganologen durch Organisationsformen wie Stamm und Familie geprägt“ (Niemann, a.a.O., S. 41 f). Hier haben wir nun also gewissermaßen, wie oben schon erwähnt, die positive Umdrehung der Homo-sacer-Rolle und -Existenz in der romantisierenden Sicht vor uns.

Nun gilt es zu bedenken, dass diese „alternative“ Erforschung der „zigeunerischen“ Gegenkultur gerade in den 80er Jahren, zu Zeiten der Alternativ-, Frauen-, Ökologie- und Friedensbewegung (in der auch Multikulti-Konzepte und das Habermassche „Theorem der Kolonialisierung der Lebenswelt“ hoch im Kurs standen) betrieben wurde. In dieser Zeit kamen auch im Feminismus Vorstellungen einer „neuen Weiblichkeit“ zu Ehren. Die androzentrischen Philosophen sollten hinsichtlich ihrer Weiblichkeitsbilder gegen den Strich gelesen werden, um ihren Texten die „Wahrheit“ zu entlocken, die bei ihnen bloß auf verquer patriarchale Weise anzutreffen sei. Man entdeckte die Indianer als Hüter tieferer, nicht westlicher Wahrheiten, eines ökologischen Denkens usw. Derartige Sichtweisen wurden in den 90er Jahren nicht nur verworfen, sondern als essentialistische Denkweisen, die eine gar nicht vorhandene „Authentizität“ konstruieren, scharf kritisiert. Es kam zu einem „Wandel der Episteme“, um mit Foucault zu sprechen. Fortan stand die Dekonstruktion und nicht die Rekonstruktion von Identitäten im Mittelpunkt. Intendiert war die Infragestellung von traditionellen Stereotypen und Identitätsannahmen. De facto traf sich diese Strategie jedoch mit einer objektiven Tendenz im Zuge der „Globalisierung“, die „feste Identitäten“ gar nicht mehr gebrauchen konnte und auf Flexi-Identitäten angewiesen war (vgl. Scholz, 2000, S 122 ff.), und kam dieser somit entgegen.

Folglich wollte man so auch die „gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners“ aufzeigen (Giere, 1996). Und in diesem Zusammenhang gerieten auch Gronemeyer & Co. in den Ruf, gewissermaßen Neo-Produzenten des romantischen Zigeunerstereotyps zu sein. Dies mit einigem Recht, wie die obigen Zitate zeigen. Zwar soll „den Zigeunern“ die „Würde des Handelns“ zurückgegeben werden, allerdings geschieht dies vornehmlich im Kontext der Rekonstruktion der „zigeunerischen“ Kultur, der „zigeunerischen“ Lebensweise, weniger im Sinne des Handelns des Individuums, das es – zumindest im bürgerlichen Sinne – traditionellerweise bei Sinti und Roma wegen ihrer starken Familienorientierung gar nicht geben soll. Andererseits muss gesagt werden, dass sich die Ausführungen von Gronemeyer & Co. manchmal nachgerade als „dekonstruktionsgeeignet“ erweisen. Gerade durch die problematische Behauptung, dass Flexibilität und Fluidität gewissermaßen Wesensmerkmale der „zigeunerischen Kultur“ seien (nicht selten werden „Zigeuner“ in der sonstigen Literatur als träge und veränderungsresistent gezeichnet), sind sie durchaus dazu geeignet, manches Klischee in Frage zu stellen. Dabei gehen sie, um in poststrukturalistischer Terminologie zu sprechen, davon aus, dass jedwede Kultur schon immer „hybrid“ ist. Sie versuchen beispielsweise, falsche Verallgemeinerungen und Reinheitsvorstellungen wie überhaupt jede stereotype Sichtweise von „zigeunerischer“ Kultur zu vermeiden bzw. diese zu relativieren. So schreibt etwa Rakelmann über das Romanes und den „Ursprung“ der Sinti und Roma: „(...) die Suche nach einer lupenreinen indischen Vergangenheit (stößt) an eine Grenze – die Philologie hat eine Spur gewiesen, einen Rückfahrschein kann sie nicht liefern (...). Die fanatische Suche nach einem eindeutigen Ursprung der Roma erweckt fast den Eindruck, als wolle man sie an irgendeinen Ort zurückverweisen – wenigstens theoretisch sollen sie irgendwo ‚eigentlich‘ hingehören. (...) Von Beginn an ging mit der Entdeckung der zigeunerischen Urgeschichte eine Reinheitsvorstellung einher, die vielleicht auch verursacht wurde durch die Verblüffung über die Verbindung dieser Minderheit mit dem ehrwürdigen Sanskrit“ (Rakelmann, 1988 a, S. 185).

Ebenso weist Rakelmann Vereinfachungen hinsichtlich der „Stammes“-Einteilung von sich: „Ob die Stammeseinteilung nun nach der Sprachgruppe, der Berufsgruppe oder der Nationalität vorgenommen wird, die Versuche einer eindeutigen Festlegung bringen in jedem Fall irreführende Ergebnisse. Bestenfalls geben sie ein Abbild der Stammeseinteilung von jener Gruppe aus gesehen, von der der Forscher Informationen bezog. (...) Die Gedichte einer polnischen Romanes-Dichterin sind für albanische Gurbeti fremdsprachige Gedichte, die Texte der Romanes-Lieder deutscher Sinti-Musiker kann ein Angehöriger der Gitanos-Catalanes kaum verstehen. Gleichwohl gibt es für Linguisten in allen Romanes-Arten Vergleichbares“ (Rakelmann, 1988 b, S. 89f.).

Ansonsten interessieren uns ethnologische Forschungen hier nicht. Es geht um das Thema Antiziganismus, und diesen gäbe es wohl auch, wenn es keine Sinti und Roma alias „Zigeuner“ gäbe, da er ein inneres Bedürfnis bürgerlich-kapitalistischer Subjektivität ist. So gesehen könnten die „Zigeuner“ genauso gut erfunden sein, mit allerdings fatalen Folgen: der Verachtung und Vernichtung realer Menschen, die dafür stehen. Festzuhalten gilt es jedenfalls, dass sich die Wert-Abspaltungskritik jedweder Romantisierung einer „zigeunerischen Lebensweise“ und der Unterstellung und Instrumentalisierung einer angeblichen damit verbundenen „Widerständigkeit“ zu entschlagen hat. Gerade heute wieder könnte jedoch eine arbeitskritische Linke im Kontext einer bloß oberflächlichen Kapitalismuskritik auf den „Zigeuner“ als Widerstands-Ikone zurückkommen (worauf noch einzugehen sein wird). Wie gezeigt, sind Romantik und Faszination einerseits und Verachtung und Vernichtung andererseits bloß zwei Seiten der einen antiziganistischen Medaille im Kapitalismus, in dem die „Zigeuner“ den Homo sacer par excellence darstellen.

8. Die „Zigeuner“ in der Postmoderne und das Hybriditäts-Tabu

Nun denn, wir leben in der Postmoderne; traditionelle Lebensformen und Identitäten erodieren, irgendwie haben alle „hybride Identitäten“ und müssen hyperflexibel sein. Dies geht heute so weit, dass die Inkaufnahme des eigenen sozialen Absturzes im Zuge von Hartz IV „drin“ sein muss und die neue Qualität der Flexibilisierung sich im ersten Dezennium des neuen Jahrhunderts gerade darin zeigt, dass sie in der dynamischen Deklassierung, dem permanenten Drinnen- und Draußen-Sein zu erstarren bereit ist, wenn die fundamentale Krise des Kapitalismus sich zuspitzt. Also kann es doch auch um „die Zigeuner“ nicht so schlecht bestellt sein, so könnte es zumindest dem oberflächlichen Blick erscheinen. Und überhaupt: Gehen sie heute nicht geradezu in der Vielzahl der „Fremden“ unter? Tatsächlich wird häufig konstatiert, dass infolge von Modernisierungsprozessen die Traditionen der Sinti und Roma in Auflösung begriffen sind. So ist ein Artikel im „Spiegel“ (bereits 1976) überschrieben: „Eingemeindet, ausgefiedelt“; darin wird von Nachwuchsproblemen von Musikern in Budapester Lokalen berichtet (Der Spiegel, 46, 1976, S. 178). So heißt es in einer Roma-Zeitschrift: „Die Konstruktion einer Kollektivität, die meist mit ethnologischen Kategorien erfolgt (Sippe, Stamm, Boss, Volk) blendet den Differenzierungsprozess aus, der heute bei den Roma ebenso schnell abläuft, wie bei anderen Minderheiten, vor allem zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen, Kleinfamilie und Verwandtschaft“ (Jek cip, 1, 1993, S. 2).

Reimer Gronemeyer stellt in seinen oben erwähnten umstrittenen Studien zur „Tsiganologie“ in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zwar fest, dass typische „Zigeunerberufe“ wie Bärenführer, Scherenschleifer, Pferdehändler usw. nicht einfach obsolet geworden sind, sondern in modifizierter Form (als Autohändler, Schausteller und in Recyclingtätigkeiten) wieder auftauchen. Er räumt aber ein, dass es „Zigeuner“ heute in nahezu allen Berufen geben dürfte: „Da findet man die Münchner Psychoanalytikerin, die Frankfurter Friseuse, den EDV-Mann in Stockholm und den Fabrikarbeiter in Budapest. Menyhert Lakatos in Ungarn und Mateo Maximoff in Frankreich sind erfolgreiche Schriftsteller. Bekannte Künstler sind Zigeuner (der Maler Serge Paliakoff ebenso wie der Gitarrist Django Reinhardt), man findet sie als Matador in Spanien und als Dozentin in Prag. Wir wissen wenig darüber, ob es nicht immer schon so war (...), es ist aber wahrscheinlich: Von Offizieren und Musikern ist es bekannt und unzweifelhaft. Die Zigeuner sind also nicht generell beruflich ghettoisiert“ (Gronemeyer, 1988 c, S. 107f.). Es gilt also: „Man kann (...) nicht alle über einen Kamm scheren, es gibt reiche und arme Zigeuner. Es gibt den Mercedes mit Wohnwagen, aber auch spanische Gitano-Slums“ (Gronemeyer, 1988 b, S. 212), und man kann sagen: „Als Dachdecker, Kindergärtnerin, Autoschlosser oder Friseuse leben inzwischen viele, ohne dass eine Beziehung zu den alten Erwerbsformen noch erkennbar wäre“ (Gronemeyer, 1988 c, S. 124). Auch hier verläßt Gronemeyer durchaus die ausgetrampelten Pfade des ihm oft pauschal unterstellten gängigen Zigeunerstereotyps, auch wenn seine Forschungen sicherlich „sozialromantisch(e)“ Züge aufweisen (Zimmermann, 1996, S. 32).

Demnach dürften Vorstellungen von hybriden Identitäten, wie sie in postkolonialen Konzepten zu finden sind, längst auch in Bezug auf Sinti und Roma gang und gäbe sein. Es ist aber nicht so. Bevor hierauf eingegangen wird, soll zunächst geklärt werden, was unter „Hybridität“ verstanden wird. Elka Tschernokoshewa schreibt hierzu: „Mit der hybridisierenden Beobachterperspektive werden Differenzen gesehen, erforscht, ernst genommen und zugleich durchschnitten. Kulturelle Differenzen werden nicht als naturwüchsige Gegebenheiten, sondern als historisch gewordene Konstellationen studiert. Diese Beobachterperspektive ist höchst empfindlich für Unterschiede zwischen Kulturen und innerhalb von Kulturen, ohne diese zu verabsolutieren, ohne sie für angeboren oder unveränderbar zu halten, und was besonders wichtig ist, ohne aus ihnen unerbittlich alle Daseinsakte im Leben abzuleiten. In diesem Sinne finde ich all jene Äußerungen sehr kurzgreifend, die versuchen, die hybriden Welten als eine Angelegenheit für sozial privilegierte Vielreisende, Globetrotter oder nur für ‚aufgeklärte‘ Intellektuelle zu fassen. So wenig sich irgendjemand heute dem Globalisierungsprozess entziehen kann, so wenig kann jemand nur eins sein (...) Die signifikanten Momente für diese Beobachterperspektive sind also einerseits die ausdrückliche und offene Anerkennung von Differenz, andererseits der Versuch, Differenz und Similarität, Andersheit und Gemeinsamkeit konzeptionell zu bündeln“ (Tschernokoshewa, 2001, S. 72/73).

Diverse Konzepte zu „hybriden Identitäten“ sind seit Mitte der 90er Jahre geradezu schick geworden im feministischen und postkolonialen Diskurs. In der Diskussion um Antiziganismus findet man derartiges – soweit ich sehe – bezeichnenderweise kaum. Diese Diskussion wird übrigens keineswegs zufällig hauptsächlich von Nicht-Zigeunern geführt, eben weil ein Hybriditäts-Tabu besteht, wie ich behaupte. Dies liegt wohl an der Struktur des Antiziganismus selbst, als Schnittstelle von (Ethno-) Rassismus und gleichzeitiger Sozialdiskriminierung, weswegen der „Zigeuner“ die unterste Charge im sozialen Gefüge bezeichnet und den Homo sacer par excellence des warenproduzierenden Patriarchats darstellt. Deswegen darf er sich auf gar keinen Fall zu erkennen geben, will er sich selbst entfliehen und zugleich er selbst sein. Die Romni Elisabeta Jonuz zitiert Birgit Rommelspacher: “Multiple Identität bedeutet, dass niemand entweder nur Frau oder Mann ist, Schwarz oder Weiß, Deutsche oder Türkin, arm oder reich, sondern Frau und Weiße oder Deutsche und Türkin zugleich, und je nachdem in welchem Kontext frau sich bewegt, tritt mal der eine, mal der andere Aspekt in den Vordergrund. Das Selbst ist als offenes System zu begreifen, in dem unterschiedliche Identitätselemente gleichzeitig wirksam sind, sich gegenseitig beeinflussen und ständig gegeneinander verschieben“ (Rommelspacher, zit. n. Jonuz, 1996, S. 175). Jonuz kommentiert lapidar: „Die Romni ist in den westlichen Industriegesellschaften in Europa immer in erster Linie Roma“ (Jonuz, 1996, S. 175).

„Der Zigeuner“ – und etwas anderes gibt es im derzeitigen Diskus nicht, und damit gerade auch keine realen, vor sich selbst aufgrund der Verfolgung schon immer fliehen müssenden Sinti und Roma – darf auf keinen Fall „aufmucken“, sonst wird ihm sogleich ein Maulkorb angelegt. Zwar sind Wiedergutmachungsansprüche (wenngleich nur mangelhaft) in Bezug auf den Porrajmos anerkannt, und Sinti und Roma werden neben Dänen, Friesen und Sorben in Deutschland als ethnische Minderheit geführt. Dennoch dürfen reale Sinti und Roma alias „Zigeuner“ sich im Alltag nicht zu erkennen geben, viel weniger noch als andere „ethnischen“ Minderheiten, auch wenn einzelnen prominenten „Zigeunern“, die sich in Lobbyorganisationen für Sinti und Roma engagieren, bekannten Musikern etc., sofern sie als solche überhaupt bekannt sind und somit als „integer“ gelten, mittlerweile gewissermaßen ein Hybriditäts-Status eingeräumt wird. Im Gegensatz zu dem schon älteren Begriff des Antisemitismus, der Feindschaft gegenüber Juden meint, gibt es den Begriff des Antiziganismus bezeichnenderweise erst seit ungefähr 25 Jahren, sowohl im Deutschen als auch in anderen Sprachen, und selbst viele Linke wissen immer noch nicht, was damit gemeint ist.

So wird berichtet: „Als Zigeuner in Deutschland zu leben, heißt schon seit Jahrhunderten verfemt, verfolgt und ausgestoßen zu sein. Und Zigeuner sein heißt auch, die eigenen Identität im Umgang mit Nichtzigeunern oft verleugnen zu müssen (...), sogar die Sprache zu verbergen. Bitter erfahren mussten das vor allem jene Zigeuner, die sich in der jüngeren Vergangenheit aus ihrem Familienverband und den überkommenen Wanderberufen gelöst haben oder lösen mussten. Der Plankstätter Romani Rose zum Beispiel, der vor Jahren ein Orientteppich-Geschäft eröffnet hat und damals vorsichtig genug war, seine ersten Kunden nicht darüber aufzuklären, dass er Zigeuner ist: ‚Die hätten doch aufgrund ihrer Vorurteile sofort geglaubt, dass ich sie betrüge‘, und er berichtet von seiner Vermieterin, die ihn jahrelang für einen Italiener gehalten habe, oder seinem Sohn, der seinen Klassenkameraden nicht erzählen sollte, dass er ein Sinti ist: ‚Glauben Sie, der würde sonst noch zu einem Kindergeburtstag eingeladen?‘“(Völklein, 1981, S. 128). In einem anderen Interview äußert sich Rose in neuerer Zeit über die nach wie vor existierenden Zigeunerstereotypen: „Das Problem wird deutlich, wenn ich aus meiner Erfahrung mit Journalisten bemerke, dass viele von ihnen einen Sinto, der in einem Großbetrieb leitender Angestellter ist, gar nicht kennenlernen wollen. Das passt nicht in ihr Bild“ (Romani Rose, in: Erziehung und Wissenschaft 1, 2000, S. 35).

„Zigeuner“ gehören grundsätzlich den Unterschichten an und haben ein niedriges Bildungsniveau. Basta! Die Sintezza Maria Winter berichtet in einem Interview: „(...) suchen Sie mal eine Wohnung als Zigeuner. Das ist schlimmer wie für einen Neger. Da gucken Sie in die Zeitung, ja, eine Anzeige: Wohnung frei. Sie gehen hin, alles klar mit dem Vermieter, er denkt Sie kommen aus Italien oder Spanien, wegen der Haut und den Haaren. Dann sagt er: Sie sprechen aber gut Deutsch. Dann sagen Sie: Wieso ich bin doch Deutscher. Dann sagt er: Ach ja, ich dachte nur, weil Sie so eine dunkle Haut haben. Dann sagen Sie: So eine Haut haben wir alle, wir sind Zigeuner. Und dann ist die Wohnung weg“ (Völklein, 1981, S. 194). Die Sintezza und Filmemacherin Melanie Spitta fasst dergleichen Erfahrungen zusammen: „Was ich hier in der Gesellschaft immer kennenlerne, ist: Man setzt voraus, dass der Zigeuner stiehlt, dass er schlecht, abgrundtief schlecht ist, und dass er einen schlechten Einfluss haben könnte. Man begegnet ihm mit Vorsicht“ (Spitta/Schmidt-Hornstein, 1992, S. 178). Das Individuum wird also unter einem Schuttberg von Stereotypen begraben, wenn es „zugibt“, zur Gruppe der Sinti bzw. Roma zu gehören, eben weil „der Zigeuner“ als der Homo sacer par excellence gilt. Mag schon in jüdischen Kontexten gelten: „Sag niemand dass du jüdisch bist“ – in Bezug auf eine „zigeunerische“ Herkunft gilt dies noch mehr. Auch wenn hierzulande kaum jemand einen „Zigeuner“ kennt: „Sinti und Roma (sind) die in Deutschland am stärksten verachtete Minderheit“ (Margalit, 2001, S. 193). Dies gilt auch für viele andere europäische Länder (Margalit, 2001, S. 191 f.). Laut einer Emnid-Umfrage aus dem Jahr 1994 wollen 68% der befragten Deutschen keinen „Zigeuner“ als Nachbarn haben, jüdische Nachbarn wollen 22% und Afrikaner 37 % nicht akzeptieren (vgl. Margalit, 2001, S. 192).

Ging man einige Zeit im Gefolge der 68er-Bewegung davon aus, dass sich intolerante und kleinkarierte Haltungen im Laufe von (Post-) Modernisierungsprozessen und im Zuge der damit einhergehenden Liberalisierungstendenzen langsam verflüchtigen würden, so zeigt sich im Voranschreiten des „Kollaps der Modernisierung“ und damit des Niedergangs einer ehemals positiv konnotierten Postmoderne, dass sich klassisch antiziganistische Stereotypen, anstatt destabilisiert zu werden, eher noch verfestigen, je mehr der „Absturz der neuen Mittelklasse“ (Kurz, 2005) in der Dominanzkultur selbst Züge einer traditionell als „zigeunerisch“ angesehenen Lebensweise hervorbringt.

Es kann also meines Erachtens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks durchaus von einer neuen Qualität des Antiziganismus gesprochen werden. Auch bringen es Bürgerkriege und „Weltordnungskriege“ (Robert Kurz) mit sich, dass nicht zuletzt Sinti und Roma in Ethnokonflikten zerrieben werden. So schreibt Romani Rose: „Fast 60 Jahre nach den nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen werden Sinti und Roma jedoch in vielen europäischen Ländern noch immer zu Opfern von Diskriminierung und rassistischer Gewalt. Eine besondere Tragödie spielte sich als Folge des jugoslawischen Bürgerkriegs im Kosovo ab, wo Roma jahrelang einem brutalen Terror von Seiten albanischer Nationalisten ausgesetzt waren, der vom Verbrennen ihrer Häuser bis zu Folter, Vergewaltigung und Mord reichte. Bis heute kommt es zu gewaltsamen Übergriffen. Zehntausende Roma wurden aus ihrer Heimat vertrieben, ohne dass die internationale Staatengemeinschaft dem wirksam Einhalt geboten hätte. Nachdem einige der wichtigsten Täter in während des Bürgerkriegs begangenen Verbrechen – allen voran der ehemalige Diktator Milosevic – inzwischen als Angeklagte vor dem Haager Tribunal stehen, müssen die Verbrechen an den Roma im Kosovo nun ebenso konsequent geahndet werden. Ungeachtet dieser schrecklichen Vorgänge gibt es bei den politisch Verantwortlichen in den Ländern Ost- und Südeuropas immer noch kein ausreichendes Bewusstsein für die Gefahren des Antiziganismus. Viele Angehörige unserer Minderheit müssen als Folge ihrer Ausgrenzung unter menschenunwürdigen Bedingungen in Gettos leben. Sie sind rassistisch motivierten Angriffen bis hin zu Pogromen schutzlos ausgeliefert. Nicht selten geht die Diskriminierung von Sinti und Roma von den staatlichen Institutionen – etwa der Polizei und Justiz – aus“ (Rose, 2003, S. 10 f).

Dabei werden als Folge von Migrationsbewegungen antiziganistische Vorstellungen auch hierzulande im Alltag aktiviert, etwa in Zuschreibungen von Kleinkriminalität, Primitivität, Bettelei usw. (vgl. Winckel, 2002). So verständlich es ist, dass Rose hier auf Grundrechten beharrt, weil gerade „Zigeuner“ als Homines sacri diese nie hatten und rechtliche Schritte pragmatisch gesehen tatsächlich nötig sind, um das schreiende Unrecht gegenüber Sinti und Roma zu skandalisieren, so sehr muss auch bewusst gemacht werden, dass hier unter den unüberwundenen Bedingungen der Moderne im Geheimen eine Schranke aufgerichtet ist, weil „das Gesetz“ strukturell schon immer die Gesetzlosigkeit außerhalb seiner selbst braucht: und deswegen „den Zigeuner“. Dies zeigt die gesamte moderne Geschichte bis zur Postmoderne, wie Romani Rose selbst deutlich gemacht hat. Nicht zuletzt gehen die Diskriminierungen auch heute – wie er selbst schreibt – immer wieder von Polizei und Justiz aus. Gerade deshalb gilt ein Hybriditäts-Tabu in Bezug auf „Zigeuner“, wie vielleicht für keine „ethnische Gruppe“ sonst. Identitäre Brechungen „dürfen“ hier nicht berücksichtigt werden, vielleicht gerade weil „Zigeuner“ im Ganzen gesehen tatsächlich nicht gerade zu den gutsituierten Gruppen gehören und ganz unabhängig davon für „Asozialität“ schlechthin stehen, vor der man gerade heute in Krisenzeiten wieder große Angst hat. Der „Zigeuner“ soll gerade in der Globalisierungsära, in der sonst „hybride Identitäten“ gefragt sind, nur „eins“ sein – entweder er ist ein „Zigeuner“, oder er muss sich radikal verleugnen; ein „Dazwischen“ gibt es nicht. Es scheint, als sollten die Sinti und Roma zum „ewigen Rom-Sein“ vergattert werden.

9. Struktureller Antiziganismus und die verfallende Postmoderne.

Heute ist in gewisser Weise jeder und jede, selbst und gerade in der berühmten Mittelklasse, vom Absturz bedroht. Man könnte fast von einer „Ziganisierung“ der sozialen Verhältnisse sprechen, wäre es nicht so abgedroschen, und wäre nicht geradezu inflationär von einer „Beirutisierung“, „Balkanisierung“ usw. die Rede. Jedoch zielt der Terminus „Ziganisierung“ auf eine historisch-theoretische Tiefendimension, auf die tatsächlichen Wurzeln der heutigen Zustände im Innern der modern-kapitalistischen Geschichte und Gesellschaft. Auch wenn dieser Begriff mit den realen Sinti und Roma bloß vermittelt etwas zu tun hat – er rührt an die Ur-Ängste bürgerlicher Subjektivität. Wie bereits erwähnt, spricht Kurz heute vom „geronnenen Ausnahmezustand“: „Am Ausgang der kapitalistischen ‚Arbeitsgesellschaft’ zeigen sich dieselben Ein- und Ausschlussprozesse wie an ihrem Eingang, nur in umgekehrter Richtung (...) Die frühmoderne Souveränität erfand neue Formen der Delinquenz und verfrachtete die Delinquenten massenhaft in ihre Schreckenshäuser, um die abstrakte Arbeit zu materialisieren. Nunmehr erfindet die postmoderne Souveränität in ihrem Absterben ebenfalls neue Formen der Delinquenz, des Lagers, der Massenverwaltung und der Bestrafungsindustrie, aber jetzt für die Massen der ‚Überflüssigen‘, in deren Existenz sich die abstrakte Arbeit dematerialisiert. Die Souveränität erhält die Aufgabe der einschließenden Ausschließung von der Betriebswirtschaft nur zurück, um sie in einem schwarzen Loch verschwinden zu lassen. Die Projekte von staatlich induziertem Billiglohn und kommunaler Zwangsarbeit sind zum Scheitern verurteilt, weil sie keine eigenständige Akkumulationsbasis konstituieren können, sondern nur eine Zwischenstation für neue Paria-Schichten darstellen“ (Kurz, 2003, S. 356 f.). Damit gehen Plünderungsökonomie und anomische Gewaltverhältnisse (bislang hauptsächlich in der Peripherie) einher; in den westlichen Zentren, die noch relativ gutbetucht sind, werden die „Überflüssigen“ wie die „Illegalen“ zunehmend in Internierungslagern und lagerähnlichen Einrichtungen festgehalten (vgl. Kurz, 2003, S. 357).

Eine gewisse Verallgemeinerung des Zigeunerstereotyps zeigt sich nicht bloß in der Denunziation von Hartz IV- Empfängern und in einer Allroundüberwachung (angeblich zum Schutz vor Terroristen) inklusive physiometrischen Ausweisen und digitalisierten Fingerabdrücken zwecks schneller Identifikation. Potentiell kann jeder als Bettler oder Vagabund sich letztlich im Elendsviertel wiederfinden und „das Allerletzte“ sein. Es kommt zu einer „Zwangsbohèmisierung“ (Diedrich Dietrichsen), aber mit Verpflichtung zur Zwangsarbeit. Der „Ruck durch Deutschland“ (Roman Herzog) bedeutet für viele verschärfte Mobilitätszumutungen bei gleichzeitiger Absturzgefahr. „Fundraising“, die neue, postmoderne Art des Bettelns und Klinkenputzens, ist schon seit Jahren als Geldbeschaffung überall verbreitet.

Im Kontext der neuen Massenmigration sind Flüchtlinge, die „Stütze“ brauchen, per se schon in der klassischen „Zigeuner“-Position. Auch das Problem der „Ausweislosigkeit“, der „sans papiers“, ist in der antiziganistischen Politik vorweg genommen: „Die Methode der Ausgrenzung der Roma in die papierlose Illegalität scheint ein zentrales Strukturmerkmal des Antiziganismus zu sein“ (Haupt, 2005, S. 175). Abschiebungen von „Zigeunern“ waren in der Modernisierungsgeschichte gang und gäbe. Dabei ist daran zu erinnern, dass es eine ziemlich neue Erscheinung ist, wenn Zentraleuropa und der Westen (infolge der eigenen Kolonialgeschichte!) in der postkolonialen Ära von „Aliens“ „heimgesucht“ werden. Vorher hatten diesen Part neben den (Ost-)Juden (die assimilierten Juden galten geradezu als zivilisierte gefährliche Übermenschen) primär die „Zigeuner“ gespielt. Das Zigeunerstereotyp steckt auch im medialen Bild von abgerichteten Kinderbettel-Gangs aus Osteuropa (Zigeuner haben ihre Kinder schon immer zum Stehlen abgerichtet und erzogen!), selbst wenn dabei „Zigeuner“ nicht explizit erwähnt werden. Nicht zu vergessen die Autoschieberbanden aus dem Osten. Von wem und mit welcher Mentalität wohl werden unsere teuren und mühsam erarbeiteten Mercedes-, Audi- und BMW-Kutschen aufgebrochen, geklaut, schnell umgespritzt und mit falschem Kennzeichen über die Grenze geschoben?

So wie von einem „strukturellen Antisemitismus“ gesprochen werden kann, der sich zentral im Angriff auf die Finanzmärkte und der Imagination einer Weltverschwörung zeigt, auch wenn von Juden gar nicht die Rede ist, so wäre auch von einem „strukturellen Antiziganismus“ zu reden, wenn in der Angst vor dem eigenen Absturz, der Deklassierung, dem Abgleiten in Asozialität und Kriminalität das antiziganistische Stereotyp implizit wirkt, auch wenn von den „Zigeunern“ gar nicht die Rede ist. Das Changieren zwischen sozialer Diskriminierung und rassistischer Ausgrenzung macht das Zigeunerstereotyp hierzu besonders geeignet. Das zeigt sich auch in neueren Umfragergebnissen. Wie schon erwähnt, möchten 68 % der Deutschen 1994 keine „Zigeuner“ als Nachbarn haben. Ungefähr die gleiche Prozentzahl zeigt Aversionen gegen Alkoholiker, Drogenabhängige und – interessanterweise – Linksradikale, wobei vermutlich weniger der biedere DKPler, sondern der anarchistische „Chaot“ gemeint ist (vgl. Margalit, 2001, S. 192).

Solche Befunde deuten darauf hin, dass in der Angst vor dem „Asozialen“, ja der eigenen potentiellen Asozialität, in der Angst, herauszufallen und es „nicht mehr packen zu können“ in Rahmen einer anständigen bürgerlichen Subjektivität, als irrationaler Abwehrmechanismus so etwas wie ein struktureller Antiziganismus existiert, d.h. die Angst in Projektion umschlägt. Dieser ist allerdings schwer zu erkennen, weil bezeichnenderweise Antiziganismus überhaupt kein Thema ist oder allenfalls marginal problematisiert wird – erkennt sich hier doch das moderne Subjekt mit seiner Homo-sacer-Angst im Spiegel und schaut deswegen von vornherein weg. Andererseits weiß es schon immer , dass „der Zigeuner schlecht ist“ und gibt diesem „Wissen“ in Befragungen auch ungeniert Ausdruck, wobei die Daten seit den 60er Jahren einigermaßen konstant sind (vgl. Margalit, 2001, S. 187 ff.).

Wir sind heute nicht einfach alle potentiell „homines sacri“, wie Agamben meint. Vielmehr ist vom „Zigeuner“ als Homo sacer par excellence auszugehen, wie gezeigt wurde. Zwar kommt der „Zigeuner“ in jedem zum Ausdruck, aber nicht jeder ist einer. Der reale „Zigeuner“ ist viel härteren Verfolgungen ausgesetzt als die Deklassierten der Dominanzkultur – und dies schon seit Jahrhunderten. Den „ewigen Rom“ gibt es zwar nicht, allerdings einen feststehenden Antiziganismus seit der Wende zur Neuzeit, der in der neuen Krisenepoche abrufbar ist.

Dabei kann in diesen Projektionen die fiedelnde, arbeitsscheue Grille, die dem Zigeunerstereotyp entspricht, jederzeit zur gefräßigen Heuschrecke mutieren, die über die (deutschen) Lande herfällt und diese kahl frisst (was dann vom anderen Ende der ideologischen Diskriminierung her dem antisemitischen Klischee entspräche). Im Voranschreiten der Krise, und nachdem die „Kunst der stilvollen Verarmung“ (Alexander von Schönburg) missglückt ist, könnte allerdings auch umgekehrt die romantisierende Identifikation mit den immer schon verelendeten „Zigeunern“ im Gewand der fröhlichen postmodernen Bohème-Armut schon recht bald wieder an Bedeutung gewinnen. Die Mutation des an der Börse zockenden (teutonischen) Yuppie der 90er Jahre (der dem Judenstereotyp nahe kam) zum fröhlich seine Armut zelebrierenden Abgestürzten (der dem Zigeunerstereotyp entspricht) kann die Kehrseite der antiziganisistischen Verfolgung und des antiziganistischen Eliminierungswillens bilden. Schon spricht Robert Leicht (im Kontext von Hartz IV) von den „Avantgardisten des Mangels“ im Hinblick auf die „Armut der freien Künstler“: „Wir alle wissen zu wenig vom Leben der Künstler. Wir sollten alle genauer hinschauen: Künstler sind Avantgarde im Umgang mit Knappheit und Unsicherheit. Wir werden von ihnen lernen müssen“ (Die Zeit, Nr.27, 2006, S. 39). „Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?“, fragt die Kultband des neuen Mittelschichtsprekariats „Britta“, jedoch kritisch (Der Spiegel, Nr. 31, 2006, S 52). Und schon ist, in Abwandlung Marxscher Terminologie, vom „Lumpenbürgertum“ (Claudio Magris) die Rede. „Zigeuner“ sind wir deswegen aber noch lange nicht! So riecht es eher nach einer Rationalisierung – jedoch gleichermaßen auf der Linie des strukturellen Antiziganismus liegend, wonach das Zigeunerleben furchtbar lustig ist, wenn Holm Friebe und Sascha Lobo ein Retro-Buch mit dem Titel „Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder das Leben nach der Festanstellung“ (2006) publizieren, worin die Aufstiegschancen der neuen Mittelschicht nach dem Zusammenbruch der New economy noch einmal beschworen werden.

10. Resümee: Wert-Abspaltung, die spezifische Struktur des Antiziganismus, andere Rassismen und die arbeitskritische Linke heute

Im Grunde genommen beruht der Kapitalismus auf der Angst, „vogelfrei“ zu sein, nur noch „nacktes Leben“ zu sein – und dies von Anfang an. Die Institutionen und Agenturen des Kapitalismus wie auch die Subjekte selbst tun in Form von „Disziplinierungsarbeit“ alles, um diese Gefahr abzuwenden. Man möchte auf gar keinen Fall „wie die Zigeuner“ sein, das Schreckgespenst, der Alptraum aller bürgerlich-kapitalistischen Subjektivität schlechthin. Von ihm gilt es sich fundamental zu unterscheiden, bündeln sich darin doch tiefste Unanständigkeit, Delinquenz, Asozialität, und „Fremdrassigkeit“ mit Müßiggang und Hedonismus, denen man zu entsagen hat, wenn man seine Lebensweise und seine Integration nicht gefährden will. Das Zigeunerstereotyp scheint wie kein anderes rassistisches Stereotyp geeignet zu sein, Aufschluss über die bürgerlich-kapitalistische Subjektivität zu geben. Das bürgerliche Subjekt erblickt hier wie im Spiegel seine ureigensten Ängste, und gleichzeitig seine hedonistischen Sehnsüchte. Es ist gerade diese Kombination, die es zutiefst entsetzt. Entsagt man nicht, so stürzt man ab, wird zum Outlaw, lebt nicht nur außerhalb des Gesetzes, sondern jenseits normierter Sozialität, ist „draußen“, deklassiert, asozial, der „Allerletzte“ in der Arbeitsgesellschaft – nicht bloß objektiv, sondern man „packt es“ auch selbst, subjektiv, nicht mehr. Deshalb ist der Kapitalismus schon immer auf die Existenz von Unterschichten angewiesen, mögen diese in wohlfahrtsstaatlichen Zeiten auch noch so marginal gewesen sein.

Dieser Zusammenhang hat sich auch schon implizit in der Heideggerschen „Existenzphilosophie“ gezeigt. Der Erfolg Heideggers erschließt sich aus seiner affirmativen, ontologischen Umdrehung dieser erschreckenden Erkenntnis. Im kapitalistischen Prinzip der Konkurrenz ist die Vernichtung (des anderen oder meiner selbst) schon immer eingeschlossen, vor allem wenn die anomische Grundlage der Moderne wieder manifest wird. Heideggers Philosophieren ist zutiefst von diesem Grundsachverhalt geprägt, der jedoch nie benannt werden darf, sondern auf Schritt und Tritt ins ahistorische „Sein zum Tode“ umgebogen wird. Was negativ historisch ist, wird durchgehend zur Transzendenz erhoben: „Da-sein heißt Hineingehaltenheit in das Nichts. Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über das Seiende im Ganzen hinaus. Dieses Hinaussein über das Seiende nennen wir Transzendenz. Würde das Dasein im Grunde seines Wesens nicht transzendieren, d.h. jetzt, würde es sich nicht im vorhinein in das Nichts hineinhalten, dann könnte es sich nie zu Seiendem verhalten, also auch nicht zu sich selbst. Ohne ursprüngliche Offenheit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit“ (Heidegger, 1998/1929, S. 38). Es ist dies ein Denken, das es bei sich selbst nicht aushielt und sich nicht als äußerlicher „Irrtum“, sondern aus seinem Inneren heraus mit dem Nationalsozialismus und seinem völkischen Denken als kompatibel erwies.

In diesem Zusammenhang ist der Terminus des „Homo sacer“ aus der ausschließlich rechtsphilosophischen Bestimmung bei Agamben zu entbinden und seine Bedeutung auch ökonomisch, kulturell-symbolisch und sozialpsychologisch im Kontext der kapitalistischen Verhältnisse zu erschließen. So betrachtet, „scheint der antiziganistische Impuls, der auf politisch-rechtlicher Ebene auf den Ausschluss der Sinti und Roma als Staatsbürger drängt, das bekannte Muster einer Selbstverfolgung im Anderen zu wiederholen“ (Maciejewski, 1996, S. 17). Die Abwehr, „da hinzuschauen“, ist wohl besonders groß – daher auch die weitgehende Nichtbefassung mit dem Antiziganismus. Der „Asoziale“ der „Dominanzkultur“ unterscheidet sich grundsätzlich vom „Zigeuner“, da für ihn prinzipiell die Möglichkeit bestehen soll, aus seiner Situation herauszukommen und wieder „dazu zu gehören“ (zumindest galt dies für die fordistische Phase der Nachkriegszeit mit ihren relativen sozialstaatlichen Pufferungen). Dennoch ist die Angst vor dem „Zigeuner“-Werden fundamental für die bürgerliche Subjektivität. Ihr kann sich heute das bürgerliche Subjekt in seinem Sinkflug endgültig nicht mehr entziehen. Vielleicht ist diese Angst sogar größer als die vor Bin Laden und den USA zusammen, die je nach Standpunkt als Gefahr Nummer 1 in den Medien präsentiert werden. Diese Angst wird auch dadurch motiviert, dass im Zigeunerstereotyp soziale und rassistische Diskriminierung changieren wie bei keiner anderen Rassismusvariante (von Anfang der Moderne an) und ineinander übergehen können. Im „Zigeuner“ wird heute – so kann vermutet werden – nicht mehr einfach die eigene Vergangenheit bekämpft wie lange Zeit hindurch im Modernisierungsprozess, sondern das, was kommt, wenn in der Phase des „Kollaps der Modernisierung“ der „Ausnahmezustand zur Regel“ wird. Vielleicht ist das Asozialen-Gen ja auch weiter verbreitet als man denkt? Vielleicht gab es noch viel mehr Gaukler usw. im Mittelalter als bisher angenommen? Bin womöglich auch ich ein Nachfahre davon? Solche Fragen stellen sich nun auch dem abstürzenden Mittelschichtler, der sich bislang für unentbehrlich hielt, was das Funktionieren des Kapitalismus betrifft.

In kapitalistisch-patriarchalen Verhältnissen ist die Wert-Abspaltung das Grundprinzip der Vergesellschaftung, nicht bloß der „Wert“. Die Abspaltung ist ebenso Voraussetzung für die Herausbildung der abstrakten Arbeit, wie diese umgekehrt Voraussetzung der Abspaltung ist. Es besteht ein dialektisches Verhältnis zwischen beidem, das sich in einem historischen Prozess verändert hat. In der Moderne gilt „die Frau“ als „domestiziertes Naturwesen“. Hingegen ist der „Zigeuner“ vogelfrei; er befindet sich außerhalb von Arbeit und Gesetz, und genau in diesem Ausschluss ist er dialektisch eingeschlossen in die Rechtsform als Homo sacer par excellence – freilich in anderer Weise als das bürgerliche Geschlechterverhältnis. Wenn sich die Wert-Abspaltung als Grundprinzip etwa darin zeigt, dass die „Zigeunerin“ als Hure, Flittchen und (nicht zuletzt) Diebin zum Gegenpol der tugendsamen Hausfrau und Mutter in der Moderne konstruiert wird, so hängt dies mit dem Dasein als „Homo-sacer“ zusammen, der das eigentliche, grundlegende „Gesetz“ der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung in der Form der Gesetzlosigkeit darstellt. Wichtig ist hier auch, dass bereits die weibliche Form, also das Bild der „Zigeunerin“, nicht zufällig den „Zigeuner“ schlechthin repräsentiert, wobei nicht vergessen werden darf, dass moderne Geschlechtervorstellungen auch scheinbar autochthone „zigeunerische“ Verhältnisse mitkonstituiert haben.

Es könnte so gesagt werden, dass die Wert-Abspaltung als Grundprinzip ihrerseits den „Zigeuner“ als Homo sacer par excellence zur Grundlage hat und umgekehrt. Diese Homo-sacer-Beschaffenheit ist das Spezifikum und der besondere Inhalt des Antiziganismus, dem es Rechnung zutragen gilt. Weder Geschlecht noch „Rasse“ in diesem spezifischen Sinn können hypostasiert und gegeneinander ausgespielt werden, weder die Wert-Abspaltung noch das Homo-sacer-Prinzip, bei dem es nicht so sehr um diesen von Agamben in historischer Metaphorik kreierten Terminus geht, sondern um den damit benannten Sachverhalt in der Konstitution der Moderne.

Andere Rassismen und der Antisemitismus haben andere Inhalte, die in ihrer ideologischen Eigenbedeutung nicht ignoriert werden dürfen. Den Juden, die in der antisemitischen Projektion auch als arbeitsscheu und parasitär gelten, werden Macht, Weltherrschaft und Überzivilisiertheit/negatives Übermenschentum zugeschrieben. Für die Wert-Abspaltungstheorie verbietet sich ein identitätslogisches Vorgehen. Während das Kontingente, Einzelne, Besondere im modernen androzentrisch-universalistischen Erkenntnisprozess infolge der Abspaltung des Weiblichen unterbelichtet blieb, ist die Wert-Abspaltungstheorie genötigt, verschiedenen Inhalten der jeweiligen rassistischen und ideologischen Projektionen Rechnung zu tragen, ohne den gesellschaftlich-historischen Gesamtzusammenhang auszublenden.

Dieses nicht-identitätslogische Vorgehen dementiert also keineswegs den Begriff des Wert-Abspaltungsverhältnisses als Grundprinzip; es zeigt allerdings, dass eine zureichende Kritik des modernen warenproduzierenden Patriarchats schon anhand seiner Voraussetzungen im Gegensatz zu einer bloßen Kritik der unterschiedslosen „leeren Form“ (was wie gezeigt auch bei Agamben noch deutlich wird) die Fähigkeit haben muss, sich selbst in ihrer Reichweite zu bescheiden und zurückzunehmen und insofern auch gegen sich selbst anzudenken, als sie den besonderen Gegenstand ohne Wenn und Aber in seinem Eigengewicht stehen lässt. Es ist dies die ihre ureigenste Voraussetzung: Um sich als Kritik des kapitalistischen Grundprinzips behaupten zu können, muss sie sich als Verständnis im Sinne eines universalistisch-identitätslogischen Begriffs selbst dementieren (vgl. dazu ausführlich Scholz 2005a).

Insofern ist etwa auch die Vorstellung zu kritisieren, Frauen, Schwarze, „Wilde“, „Zigeuner“ stünden alle gleichermaßen für „Natur“ und „Sinnlichkeit“ und stellten in gleicher Weise die Schattenseite des „Werts“ dar. Im Gegensatz zum „Schwarzen“, der ebenfalls als „sinnlich“ gilt, sich aber versklaven lässt, und zum ebenfalls als „sinnlich“ konnotierten Südseeinsulaner, der unschuldig naiv, gewissermaßen ungetrübt, das Paradies versinnbildlichen soll, stellt „der Zigeuner“ den rassistisch konstruierten Untermenschen in der eigenen Gesellschaft dar, verbunden mit der Zuschreibung von Asozialität, Kriminalität usw. Der „Schwarze“ ist als „Untermensch“ im Kontext von Kolonialisierungsprozessen konstruiert; er steht weniger für Asozialität (und ist deshalb für die Mitglieder der Dominanzkultur weniger angstbesetzt), er gilt weniger als Parasit und Krimineller, stiehlt nicht „von Natur aus“ (bzw. dies gehört nicht zu seiner „Kultur“). Nicht er nützt und trickst „uns“ aus, sondern „wir“ besetzen und plündern andere Kontinente zu seinem angeblich ureigensten zivilisatorischen Vorteil (auch wenn er „uns“ heute als „Asylant“ und „Wirtschaftsflüchtling“ dann angeblich doch bedroht).

Daran ändert auch nichts, dass sich bestimmte rassistische Zuschreibungen bei „Schwarzen“ und „Zigeunern“ überlappen, dass sie beide als geistig minderbemittelt, faul und triebhaft gelten. Deshalb erfährt „der Zigeuner“ im Gegensatz zum „Schwarzen“ (aber auch zum „Indianer“, dem ähnlich wie dem „Zigeuner“ nachgesagt wird, dass er sich nicht versklaven lässt, während ihm jedoch Asozialität und Kriminalität als rassistische Primärzuschreibung fehlen) seine Bedeutung als Homo sacer par excellence innerhalb der „fortgeschrittenen“ Gesellschaften der Moderne von Beginn der Neuzeit an. Er gehört durch und durch zum westlichen Teil der Menschheit als bekannter, verfemter Anderer. Deshalb ist es zurückzuweisen, dass, wenn man auf den Antiziganismus zu sprechen kommt, schnell der „mindestens genauso“ unterdrückte „Schwarze“ ins Feld geführt wird, als gelte es, eine Hierarchie der Beschäftigung mit unterschiedlichen Rassismen zu etablieren, die durch den Verweis auf die „unterrepräsentierte“ Rassismusvariante des Antiziganismus durcheinander gebracht werden könnte.

Im Gegensatz zu den Konstrukten der „Schwarzen“, „Wilden“, „Indianer“ gingen die „Zigeuner“ in der Neuzeit von vornherein eine Symbiose mit der Dominanzkultur kraft ihrer ökonomischen und kulturellen Funktionen (etwa in der Musik) ein, vergleichbar mit den Juden, aber in wieder anderer Weise. Dabei unterscheidet die apriorische Verbindung mit Asozialität die Rolle des „Zigeuners“ auch von der Vorstellung des slawischen „Untermenschen“ im Nationalsozialismus, der dazu ausersehen war, für „das deutsche Volk“ Sklavendienste zu verrichten. Holocaust und Porrajmos unterscheiden sich insofern von anderen Genoziden etwa im kolonialistischen Kontext, als es um keinerlei ökonomische Interessen und Kalküle ging, sondern um Identitätsbehauptungen innerhalb der „Dominanzkultur“ im Kontext bürgerlich-kapitalistischer Subjektbildung überhaupt. Dabei müssen Antisemitismus und Antiziganismus in einem Komplementärzusammenhang gesehen werden. Der Jude wird gewissermaßen als „Zigeuner“ der Oberschicht und der „Zigeuner“ als Jude der Unterschicht konstruiert, woraus seine Rolle als Homo sacer schlechthin erwächst.

Die Homo-sacer-Funktion des „Zigeuners“ konstituiert wie vielleicht bei keiner anderen Minderheit ein Hybriditäts-Tabu, das selbst Zwangs-Flexi-Forderungen in der Globalisierungsära nicht aufgebrochen haben. Im Gegenteil, je mehr im Zuge des „Kollaps der Modernisierung“ die Anomie und die Gefahr des massenhaften Absturzes wachsen, desto unverwüstlicher gebärdet sich der Antiziganismus, desto mehr wird den konkreten Individuen die Möglichkeit genommen, der Reduktion auf das „Zigeuner“-Klischee zu entkommen. Einem offenen Antiziganismus steht dabei der bereits angesprochene „strukturelle Antiziganismus“ (eine diffuse Anprangerung von schleichender Kriminalität, Devianz und sozialem „Parasitentum“) gegenüber, bei dem eine ausdrückliche Benennung der „Zigeuner“ unterbleibt.

Auf der anderen Seite gibt es in der linken Szene heute Orientierungen und Bestrebungen, die (selbst-)romantisierend an das gängige Stereotyp andocken könnten, wobei auch hier die „Zigeuner“ nicht ausdrücklich erwähnt werden müssen. Zur Phrase verkommene Slogans wie „Aneignung“, eine gewisse Bauwagenszene, die „Entdeckung der Faulheit“ (Corinne Meier) und eine oberflächliche, unvermittelte „Arbeitskritik“, die inzwischen verbreitet ist, sprechen dafür. Es wäre nicht verwunderlich, wenn da die alte Zigeunerromantik und der „Zigeuner“ (als schon immer „widerständig“ gedachter) in falscher Verarbeitung der eigenen Ohnmacht zu neuen Ehren kommen würden. Wertkritischen Kitsch, der in der Vergangenheit und im Heute schon unmittelbar Momente einer anderen Gesellschaft entdecken will (sei es im Copyleftprinzip, in der Pflege der Oma oder wo auch immer) gibt es schon längst (zur Kritik vgl. Scholz, 2005b). Wäre da vielleicht der noch nicht entdeckte „Zigeuner“ ein gefundenes Fressen für unmittelbarkeitssüchtige Betroffenheitsapostel der abstürzenden neuen Mittelschicht, die nach einer „konkreten Utopie“ im hier und heute gieren? Dem Hang, überall im Sosein „Widerständigkeiten“ zu entdecken (vgl. etwa bei Lohoff, 2006), nicht zuletzt in der eigenen „Alltagsexistenz“, die eine widersprüchlich-widerständige, gewissermaßen subjektabgewandte Seite im zur Identität verhaltenen Subjekt darstellen soll, könnte sich das Zigeunerbild erneut als „esoterischer Leitfaden für das entwurzelte Individuum (erweisen), Wahrhaftigkeit und Zuneigung in einer Welt zu erfahren, die ihm durch Handel, Vertrag und Kontrolle entfremdet ist“, wie Niemann auch gegen die neuere Tsiganologie polemisiert (Niemann, 2000, S. 39).

Der neuerdings in Mode gekommene „Open Marxism“, der den „Wert“ handlungstheoretisch unterfüttert als „offene“ Praxisform dechiffrieren will und dabei das Handeln gegenüber der Struktur letztlich hypostasiert, scheint hierfür geradezu prädestiniert zu sein. Ingo Elbe kritisiert in diesem Sinn die Konzeption John Holloways (Holloway, 2002) in seinem Aufsatz „Holloways ‚Open Marxism’“ unter der treffenden Überschrift „Bemerkungen zu Formanalyse als Handlungstheorie und Revolutionsromantik“: „Holloway gilt, wie dem Operaismus, bereits jeder noch so banale Diebstahl, jedes Blaumachen, jede Arbeitsverzögerung, jedes gewaltsame Aufbegehren gegen die Staatsmacht als unbewusster Ausdruck des Widerstands eines unschuldigen und humanen Prinzips, des ‚warme(n) Ineinander-Weben(s) des Tuns‘ gegen dessen Fragmentierung in ‚unzählige kalte Atome der Existenz‘“ (Elbe, 2006, S. 165 f). Elbe spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem „unausrottbare(n) Bedürfnis nach linker Wohlfühlliteratur“ (Elbe, 2006, S. 170). Selbst wenn Holloway dabei bezeichnenderweise nicht die Marginalisierten im Auge hat, ist es keineswegs ausgeschlossen, dass die realen Sinti und Roma wieder einmal von einer linken Romantik zu „Zigeunern“ als Widerstands-Ikonen gemacht werden – vom Homo sacer par excellence als „Musterabweichler“ (Reimer Gronemeyer) in der kapitalistischen Geschichte gewissermaßen zum „Widerständigen“ par excellence qua „Existenz“.

Dagegen muss eine Wert-Abspaltungs- und Arbeitskritik, die mit Vermittlungen rechnet, den Antiziganismus als spezifische Variante des Rassismus herausstellen und ihn als eine zentrale Form der Barbarei der zivilisierten Moderne sichtbar machen; sie muss aufzeigen, welche Gemeinheiten Sinti und Roma angetan wurden, und zwar jenseits aller Romantisierungen und Idealisierungen (die schon immer die andere Seite der Eliminierungswut im Hinblick auf „die Zigeuner“ sind), anstatt ihn in seiner schon immer bloß imaginären Gestalt anderen Utopieheiligen hinzuzugesellen und für das Interesse der „Dominanzkultur“ zu instrumentalisieren (ganz davon abgesehen, dass eine derartige romantisierende Arbeitskritik den realen Sinti und Roma einen Bärendienst erweisen würde, weil sie entsprechende Stereotypen affirmiert). Sinti und Roma sind, gerade als Diskriminierte, keineswegs Widerständige im Kapitalismus per se, sondern ebenso wie alle anderen durch und durch vom Kapitalismus gezeichnet; ihre soziale Lage ist durch die kapitalistische Arbeitsgesellschaft selbst bedingt, insofern als sie einerseits als deren Antipoden von ihr getrennt, andererseits als Matrix des Homo sacer par excellence die Voraussetzung für diese negative Vergesellschaftung darstellen.

Das Wohnen in Bauwagen und ähnliche Phänomene, die aufgrund der massiven Verelendungstendenzen in Zukunft wohl noch zunehmen werden, sind nolens volens Bestandteile einer Überlebensstrategie in der Krise; sie sind kein Licht am Ende des Tunnels auf dem Weg in eine andere Gesellschaft, die nur über komplexere Vermittlungen und im Rahmen einer weltgesellschaftlichen Transformation zu haben sein wird. Nur im Rahmen einer solchen weiter gefassten Perspektive kann auch das Stereotyp „des Zigeuners“ sein Ende finden, indem er einfach sein kann, aber nicht „so“ sein muss; vorher jedoch ist das Stereotyp als geheimes und „vergessenes“ Homo-Sacer-Fundament der patriarchalen Moderne ins Licht zu heben. Dies ist die Voraussetzung , dass überhaupt alle Individuen als reale und leibhaftige Menschen existieren können und „der Zigeuner“ weder sesshaft werden noch weiterziehen muss, weil er sonst ins Lager kommt, mit Sondergesetzten belegt, sich in einem permanenten Ausnahmezustand befindet und schließlich totgeschlagen und vernichtet wird.

Literatur