Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in der Wochenzeitung "Freitag"
am 22.06.2007

Robert Kurz

ANGST VOR DEM MINDESTLOHN

Konturen einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung

Wenn die defensive Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn notwendig wird, ist das ein buchstäbliches Armutszeugnis für die herrschende Gesellschaftsordnung. Der Kampf um Mindeststandards war ein Kennzeichen des Frühkapitalismus. Nach 150 Jahren sozialer und politischer Regulation haben die Krisenprozesse von 3. industrieller Revolution und Globalisierung wachsende Teile der Lohnabhängigen auch in den kapitalistischen Zentren auf das Niveau des 19. Jahrhunderts zurückgebombt. Blamiert hat sich dabei jetzt schon die Gegenüberstellung eines angeblich mehr sozial ausgerichteten „rheinischen“ und eines hardcore-neoliberalen „angelsächsischen“ Kapitalismus. In Wirklichkeit ist die marktradikale Prekarisierung der Arbeit in Westeuropa nirgends so weit fortgeschritten wie hierzulande. Die BRD gehört zu den wenigen Industrieländern, die sich einem gesetzlichen Mindestlohn verweigern.

Allerdings kommt es darauf an, ob diese Regelung die Lebensbedürfnisse sichert oder nicht. Während der Mindest-Stundenlohn in Spanien bei 3,99 Euro, in Polen bei umgerechnet 1,34 Euro und in Bulgarien bei gerade mal 53 Cent liegt, beträgt er in Frankreich 8,27 und in Luxemburg 9,08 Euro. In Großbritannien ist er mit umgerechnet 7,96 Euro doppelt so hoch wie in den USA mit 3,98 Euro. Auch wenn man die Unterschiede in der Kaufkraft der jeweiligen Währungen berücksichtigt, handelt es sich bei den Niedrig-Mindestlöhnen in den USA sowie in Süd- und Osteuropa bloß um die „Garantie“ einer Elendsexistenz. Andererseits kann die Forderung der deutschen Gewerkschaften nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro im Vergleich mit den anderen westeuropäischen Ländern eher als zahm gelten. Die Behauptung des Münchner Ifo-Instituts, schon diese moderate Untergrenze würde mehr als 1 Million Arbeitsplätze gefährden, verweist nur auf den bereits überproportional hohen Anteil der „arbeitenden Armut“ in der BRD. „Arbeit“ als Selbstzweck um jeden Preis ist eine sehr deutsche Angelegenheit in der NS-Tradition.

In die zynische Abwehr der deutschen Funktionseliten gegen den gesetzlichen Mindestlohn mischt sich eine diffuse Angst, gerade weil die BRD in der Kontinuität der Krisenverwaltung von Kohl-Administration, Rot-Grün und Großer Koalition zur Speerspitze einer Deregulierung der Arbeitsmärkte in der EU geworden ist. Eine Trendumkehr durch einen allgemeinen Mindeststandard auf westeuropäischem Niveau müsste mit hohem Aufwand bereits verfestigte Hungerlohn-Strukturen aufbrechen. Dabei könnte eine Dynamik in Gang gesetzt werden, die zur Grundsatzfrage nach dem Warencharakter der Arbeitskraft führt. Die bedingungslose Unterwerfung dieser „Ware“ unter das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage bildet den Kern des parteiübergreifenden neoliberalen Programms, während Marx das „historische und moralische Element“ von unhintergehbaren Lebensansprüchen betont hatte.

Es geht also längst nicht mehr um das Stückwerk von Branchentarifen, sondern um eine weitreichende gesellschaftspolitische Auseinandersetzung. Für zunehmend zwangs-flexibilisierte Lohnabhängige mit fragmentierten Erwerbsbiographien, die zwischen verschiedensten Zweigen der gesellschaftlichen Reproduktion pendeln, ist die Fixierung auf Branchenregelungen ohnehin auch organisatorisch obsolet. Der hohe Grad kapitalistischer Vergesellschaftung erzwingt einen entsprechenden Grad von Allgemeinheit in den sozialen Konflikten. Das gilt heute für alle gesellschaftlichen Probleme des Krisenkapitalismus, nicht bloß hinsichtlich Klimawandel oder Kinderbetreuung, sondern auch hinsichtlich sozialer Mindeststandards. Jede Teilfrage wird sofort zur allgemeinen Grundsatzfrage, weil die herrschende Rationalität für nichts mehr garantieren kann.

Gerade deshalb darf der Kampf um eine flächendeckende Regelung nicht dem politischen Dienstweg überlassen bleiben. Die SPD konnte von der Linkspartei vorgeführt werden, weil sie unter dem Zwang der Koalitionsvereinbarungen gegen ihre eigene Krokodilstränen-Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn stimmen und einem faulen Kompromiss in Gestalt von beschränkten Branchenregelungen zustimmen musste. Das könnte allerdings auch der Linkspartei selber passieren, wenn sie sich nach dem Muster ostdeutscher Koalitionen auf eine Regierungsbeteiligung als Juniorpartner ausrichtet. Die staatliche Krisenverwaltung ist nicht der gute Onkel, der nur richtig beraten werden will, sondern der Gegner, dem ein entscheidendes Zugeständnis gegen die in der BRD weit fortgeschrittene Logik des reinen Warencharakters von Arbeitskraft abgerungen werden muss. Es ist dieses in der Auseinandersetzung um den Mindestlohn verborgene „Marxsche Gespenst“, das die Funktionseliten unruhig werden lässt. Die institutionelle Barriere gegen eine gesetzliche Regelung im Sinne der Lebensansprüche ist daher schon so hoch, dass es wohl der Entfesselung einer realen außerparlamentarischen Eingriffsmacht auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bedarf, die über begrenzte traditionelle Streiks hinausgeht.