Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in der Wochenzeitung "Freitag"
am 17.08.2007

Robert Kurz

DAS ENDE DER SCHÖNWETTER-LEGALITÄT

Die Lokführergewerkschaft und die Krise des deutschen Tarifmodells

Unversehens haben die Forderungen und die Streikbereitschaft der Lokführer zu einer Auseinandersetzung um die Grundlagen des brüchig gewordenen deutschen Sozialpartnerschafts- und Tarifmodells geführt. Was bei den Ärzten der aus dem Verdi-Verbund ausscherende Marburger Bund und die Vereinigung Cockpit der Piloten erfolgreich vorexerziert haben, scheint Schule zu machen. Verdächtig einhellig ist die Klage von Arbeitgeberverbänden, großen Einheitsgewerkschaften und Politikern, hier wollten elitäre Gruppen unsolidarisch ihre Sonderinteressen durchsetzen. Aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Tatsächlich wurden die Flächentarifverträge durch gewerkschaftliche Zugeständnisse an unternehmerische Sonderinteressen und Akzeptanz von ausgelagerten Billiglohn-Strukturen längst ausgehöhlt. Seit den 90er Jahren ist das Lohnniveau in der BRD kontinuierlich gesunken und liegt mittlerweile auch in den qualifizierten Bereichen unter dem europäischen Durchschnitt, was zusammen mit der geringen Anzahl der Streiktage als „Standortvorteil“ gelobt wird.

Kein Wunder, dass sich immer mehr Beschäftigte nicht mehr vertreten fühlen, wenn die Einheitsgewerkschaften bloß noch den sozialen Rückschritt mitverwalten, wie zuletzt der blamable Lohnsenkungs-Abschluss bei der Telekom gezeigt hat. Die Gewerkschaft der Eisenbahner hat sich in „Transnet“ umbenannt, als wollte sie selber an die Börse gehen, und sowohl den Personalabbau als auch die Privatisierungspolitik mitgetragen. Der galoppierende Mitgliederschwund als Abstimmung mit den Füßen ist eine Folge dieser Zahnlosigkeit, das separate Agieren von „bissigen“ Berufsverbänden die nächste logische Konsequenz. Wenn die Lokführer vorrechnen, dass sie bei gestiegenen Anforderungen ihre Familien nicht mehr ausreichend ernähren können, ist das kein Standesdünkel, sondern ein Armutszeugnis für die bisherige Tarifpolitik bei der Bahn. Das geltend gemachte Sonderinteresse steht nicht für sich, sondern liegt gleichzeitig quer zur allgemeinen Tendenz von Billiglohn, Sozialabbau und mangelnder Gegenwehr. Das ist wohl auch der Grund, warum in Umfragen der Lokführerstreik bei mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Zustimmung findet.

Die Nürnberger Arbeitsrichterin Silja Steindl hat auf Antrag des Bahnkonzerns durch eine einstweilige Verfügung diesen Streik zunächst verboten. Begründung: Die volkswirtschaftlichen Schäden wären zu groß. Prominente Arbeitsrechtler zeigten sich entsetzt und sprachen von Rechtsbeugung. Aber die Arbeitsrichterin übte nur vorauseilenden Gehorsam. Schon fordern die Arbeitgeberverbände eine gesetzliche Begrenzung des Streikrechts. Margaret Thatchers „Zähmung“ der Gewerkschaften in den 80er Jahren lässt grüßen. Die deutschen Gewerkschaften mussten nicht erst gezähmt werden, sie waren von Haus aus zahm. Aber das Auftreten „aggressiver“ Berufsvertretungen in Konkurrenz zu den lahmen Großtankern schafft eine veränderte Situation, ähnlich wie früher in Großbritannien und heute noch in Frankreich. Dort hat der neue Präsident Sarkozy bereits ein Anti-Streik-Gesetz vorgelegt.

Das Ende der Schönwetter-Tarife ist auch das Ende der Schönwetter-Legalität. Wenn sich die ernsthafte Gegenwehr auf berufsständische Kleingewerkschaften beschränkt, kann sie wahrscheinlich an die juristische Kette gelegt werden. Die Verallgemeinerung des Widerstands und die Verbindung mit einer überfälligen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung über die Grenzen des Kapitalismus geht nicht durch dieses Nadelöhr. Allerdings verweist die starke Schlüsselstellung etwa der Lokführer, die juristisch ausgehebelt werden soll, auf die Anfälligkeit der Just-in-time-Produktion bei einer Unterbrechung der kapitalistischen Nervenbahnen. Diese könnten auch durch eine soziale Massenbewegung für allgemeine Forderungen blockiert werden. Solche neuen Kampfformen wären illegal. Aber das war der gewöhnliche Streik auch einmal und soll es jetzt wieder werden.