aus: Krisis 15
Udo Winkel
MARX HAT UNS IM VORAUS ÜBERHOLT
Rosa Luxemburg nach 75 Jahren
Die Linke hatte immer schon ihre Probleme mit Rosa Luxemburg(1).
Zwar ließen sich ihre Schriften gut als Zitatenschatz mißbrauchen,
doch viel schwieriger war es, sie politisch zu instrumentalisieren. Anders als
etwa die zum »Leninismus« kodifizierte Theorie des russischen Revolutionsführers
taugten ihre Arbeiten einfach nicht zum verbindlichen Kanon. So etwas wie einen
»Luxemburgismus« erfanden in den 20er Jahren nur dessen posthume
Gegner während der sogenannten »Bolschewisierung«, d.h. der
administrativen Zurichtung der damaligen noch sehr heterogenen linksradikalen
Bewegungen für die Staatsinteressen der Sowjetunion. Bei diesem pejorativen
Konstrukt des »Luxemburgismus« handelte es sich aber lediglich um
eine karikaturhafte Verkürzung der unbequemen Ansichten von Rosa Luxemburg.
War sie für Lenin trotz ihrer Kritik am Bolschewismus noch ein »Adler«
des theoretischen Denkens gewesen, so verglich die »ultralinke«
Ruth Fischer, eine Führungsfigur im Apparat der sich bürokratisierenden
KPD, die in den fünfziger Jahren schließlich als Direktorin eines
Amerikahauses enden sollte, Rosa Luxemburg gar mit einem »Syphilisbazillus«.
Anders als etwa Engels oder Lenin wurde Rosa Luxemburg dann später in der
DDR-Literatur zwar häufig als Märtyrerin beschworen, aber kaum mehr
wissenschaftlich zitiert; sie eignete sich eben nicht dazu, in das Prokrustesbett
einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« eingespannt zu werden.
Gerade das Sperrige an Rosa Luxemburgs Denken macht es heute noch interessant.
Die Gefahren, die sie einst in der Entwicklung der sozialistischen Bewegung
konstatiert hatte, nämlich Rückfall in die Sekte oder Umfall in die
bürgerliche Reformbewegung, kehren in verwandelter Form für die Gesellschaftskritik
auch heute wieder: »realpolitisches« Beweihräuchern der Zivilgesellschaft
und Entdeckung der Reize der bürgerlichen Demokratie, übergossen mit
einer ethischen Vanillesoße - oder Weiterbeten des verdünnten und
versteinerten Marxismus der alten Arbeiterbewegung als falsche Alternative,
der gegenüber ein Denken wie das von Rosa Luxemburg ein Stachel im Fleisch
der theoretischen und gesellschaftskritischen Trägheit bleibt.
Die interessanten und unaufgehobenen Momente des Luxemburgschen
Denkens lassen sich nicht im Rahmen einer Ikonographie zu Tage fördern.
Schon bei Marx gilt es zu unterscheiden zwischen dem historisch gewordenen,
in die zeitgenössische Bewegung eingebundenen (und insofern heute überholten)
Kämpfer und Denker einerseits und dem Theoretiker, der die Formen der Vergesellschaftung
über den Wert entschleierte und die Endlichkeit des Kapitalismus nachwies,
andererseits(2). Diese Differenzierung gilt auch für Rosa
Luxemburg. Bei der Beschäftigung mit ihr kann es daher nicht um die vordergründige
Aktualisierung einer historisch vergangenen Epoche gehen, sondern um die Suche
nach in die Zukunft weisenden Antizipationen. Sie hat von der erst heute aktuell
werdenden Seite der Marxschen Theorie weit mehr begriffen als ihre Zeitgenossen.
Rosa Luxemburg hat ihre Vorstellungen natürlich im Zusammenhang
der zeitgenössischen Arbeiterbewegung entwickelt, die auch ihr Adressat
bleibt. Das Bemerkenswerte und Erstaunliche liegt heute aber nicht in ihrer
historischen Bedeutung, sondern in den Gedanken und Erkenntnissen, die diesen
Rahmen des »Marxismus der 11. Internationale« ebenso wie den ihres
leninistischen Ablegers überschreiten. Rosa Luxemburgs besondere Sensibilität
ist durch ihre Biographie begründet. Darauf kann hier nur kurz verwiesen
werden. Paul Frölich schrieb dazu: »Dreifach lastete das Joch der
russischen Zustände auf ihr: als Angehörige des vom Zarismus gefesselten
russischen Volkes, des von der Fremdherrschaft niedergeworfenen polnischen Volkes
und der getretenen jüdischen Minderheit«(3). Gleichzeitig
kannte Rosa Luxemburg aber auch die deutschen Verhältnisse sehr genau aus
der Innenperspektive, und sie wirkte Jahrzehnte in diesem Land mit der damals
entwickeltsten Arbeiterbewegung. Dieses Wandern zwischen den Welten erleichterte
es ihr, in ihrem Engagement eine kritische Distanz sowohl zur leninistischen
als auch zur sozialdemokratisch-zentristischen Version des Marxismus zu bewahren.
Das wird in allen ihren wesentlichen Aussagen immer wieder deutlich und hat
ihren theoretischen Ansatz im offiziellen Marxismus so unbeliebt gemacht.
Die Grunderfahrung des Grenzgängers teilte sie mit ihren
polnischen Landsleuten aus dem Führungskern der »Sozialdemokratie
des Königreichs Polen« (SDKP). Peter Nettl billigt dieser Gruppe,
zu der außer Rosa Luxemburg noch Leo Jogiches, Juhan Marchlewski und Adolf
Warski gehörten, einen im Rahmen der 11. Internationale einzigartigen Charakter
zu: »Sie war anders als die Vorstände der streng hierarchisch gegliederten
westeuropäischen Parteien, aber auch anders als die straff organisierten
Verschwörergruppen mit rigorosen Normen der Parteieinheit, wie sie später
die Bolschewiki verkörperten. Die SDKP-Führung war in der Hauptsache
eine Arbeitsgemeinschaft von Gleichen, die eine gemeinsame Politik festlegten,
sich aber das Recht auf eine eigene Meinung vorbehielten. Sie waren unabhängige
Persönlichkeiten und zugleich dienende Glieder einer festen Verbindung
mit bestimmten Zielen. Irgendein Widerstreit zwischen den beiden Rollen war
nicht zu bemerken. Das war unter allen Umständen eine ungewöhnliche
Form von Gruppenbindung. Etwas von ihrem Geist bewahrten alle Mitglieder, und
sie nahmen es mit in die verschiedenen Vereinigungen und Parteien, denen sie
später beitraten«(4).
Die Zusammenbruchstheorie Rosa Luxemburgs und ihr Sozialismusverständnis
Was Rosa Luxemburgs Marxverständnis
wesentlich vom »Marxismus der 11. Internationale« unterscheidet,
ist ihre »Totalitätsmethode«: der Versuch, die historisch-gesellschaftliche
Entwicklung und die aktuelle gesellschaftliche Situation als »organisches
Ganzes«, als Totalität zu fassen(5). Lelio Basso
hat dies richtig herausgearbeitet: »...der Kampf Rosa Luxemburgs gegen
die offiziellen Positionen ihrer Partei (war) nicht nur ein Kampf der Linken
gegen die Rechten und das Zentrum um determinierte Situationen oder für
oder gegen bestimmte taktische Haltungen..., sondern die Ursache (lag) im theoretischen
Aufeinandertreffen einer dialektischen und einer nichtdialektischen Interpretierung
des Marxismus ... «(6).
Dieses Totalitätsverständnis ist auch zentral für
die berühmte Luxemburgsche Zusammenbruchstheorie. Rosa Luxemburg ging es
in ihrer Arbeit »Akkumulation des Kapitals« um den Nachweis einer
objektiven Schranke der kapitalistischen Entwicklung. Für sie liegt der
schließliche kapitalistische Zusammenbruch in der Notwendigkeit eines
»nichtkapitalistischen Milieus« für die Realisation des Mehrwerts,
die jedoch in Widerspruch zur kapitalistischen Entwicklung selbst tritt: »Der
Akkumulationsprozeß hat die Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft
die einfache Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische
Wirtschaft zu setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche
Produktionsweise in sämtlichen Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft
zu bringen. Hier beginnt aber die Sackgasse. Das Endresultat einmal erreicht
- was jedoch nur theoretische Konstruktion bleibt -, wird die Akkumulation zur
Unmöglichkeit: die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts verwandelt
sich in eine unlösbare Aufgabe... Daraus ergibt sich die widerspruchsvolle
Bewegung der letzten, imperialistischen Phase als Schlußperiode in der
geschichtlichen Laufbahn des Kapitals«(7).
An ihrer Zusammenbruchstheorie wird Rosa Luxemburgs theoretische Problematik
deutlich. In Analogie zur Janusgesichtigkeit des Marxschen Werks kann man von
den »zwei Luxemburgs« sprechen. Einerseits hält sie, wie Marx,
an der objektiven Endlichkeit des Kapitalismus fest. Sie steht damit in der
Geschichte der Arbeiterbewegung fast allein da, denn eine explizite innerökonomische
Zusammenbruchstheorie hat außer ihr nur noch Henryk Grossmann formuliert.
Andererseits kann sie, befangen im Verständnishorizont der Arbeiterbewegung
mit ihrem affirmativen Arbeitsbegriff, den Zusammenbruch der kapitalistischen
Gesellschaft nicht als das Obsoletwerden der Vergesellschaftung über den
Wert und die »Arbeit« begreifen, sondern nur als das Problem der
Mehrwert-Realisierung (Zurückverwandeln des Mehrwerts in Geldkapital);
dabei deutet sie die dem Kapital gesetzte Schranke als eine gewissermaßen
bloß äußere geographische Grenze.
Die Luxemburgsche (natürlich auf die Arbeiterbewegung fixierte) Revolutionsvorstellung
und ihre Zusammenbruchstheorie bleiben daher unvermittelt. Dieses Auseinanderfallen
betrifft aber nicht nur die logische Ebene, sondern auch die zeitliche Dimension.
Darüber war sich Rosa Luxemburg durchaus selber im klaren. Die Zusammenbruchskrise
stand für sie noch lange nicht konkret-historisch auf der Tagesordnung.
Und damit hatte sie ja auch für ihre Zeit durchaus recht; wir wissen heute,
welche Entwicklungsmöglichkeiten »Monsieur le Capital« noch
in sich barg, die erst am Ende des 20. Jahrhunderts tatsächlich zu erlöschen
beginnen. Rosa Luxemburg erwartete schon deshalb, daß ihre Zusammenbruchstheorie
»theoretisches Konstrukt« bleiben würde, weil sie auf die zeitaktuelle
revolutionäre Potenz der Arbeiterbewegung als Arbeiterbewegung setzte (auch
hierin wieder noch im Irrtum Marx nicht unähnlich). Bevor die kapitalistische
Logik an der äußeren Grenze scheitern würde, so ihre Hoffnung,
hätte die Arbeiterbewegung dem kapitalistischen Spuk schon längst
eine Ende gemacht.
Daß Rosa Luxemburg für ihre Zusammenbruchstheorie
keine Zeitaktualität in Anspruch nahm, wird in ihrer Kritik an Eduard Bernstein
deutlich (dem »Vater« des Reformismus), in der sie zu bestimmen
sucht, wie sich der Charakter der Krisen bis dahin verändert hat. Die bisherigen
Krisen, sagt sie klipp und klar, waren Ausdruck des »Kindheitsalters«
des Kapitalismus: »Es war also jedesmal die plötzliche Erweiterung
des Gebiets der kapitalistischen Wirtschaft und nicht die Einengung ihres Spielraums,
nicht ihre Erschöpfung, die bisher den Anlaß zu Handelskrisen gab.
Die zehnjährige Periodizität der bisherigen internationalen Krisen
erscheint somit als rein äußerliche, zufällige Erscheinung.
Das Marxsche Schema der Krisenbildung ... trifft auf die bisherigen Krisen nur
insofern zu, als es den inneren Mechanismus aller Krisen und deren tiefliegende
>allgemeine Ursachen< aufdeckt. In seinem Ganzen paßt aber dieses
Schema vielmehr auf eine vollkommen entwickelte kapitalistische Wirtschaft,
wo der Weltmarkt als etwas bereits gegebenes vorausgesetzt wird. Nur dann können
sich die Krisen aus der inneren, eigenen Bewegung des Produktions- und Austauschprozesses
auf jene mechanische Weise, ohne den äußeren Anlaß einer plötzlichen
Erschütterung in den Produktions- oder Marktverhältnissen, wiederholen,
wie es von der Marxschen Analyse angenommen wird. Wenn wir uns nun die heutige
ökonomische Lage (kurz vor der Jahrhundertwende, U.W) vergegenwärtigen,
so müssen wir jedenfalls zugeben, daß wir noch nicht in jene Phase
vollkommener kapitalistischer Entwicklung getreten sind...«. Der Kapitalismus
befindet sich also nach Rosa Luxemburg zur damaligen Zeit in der Übergangsperiode,
»wo die Krisen nicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und noch nicht
seinen Untergang begleiten«(8). Gerade diese »binnenhistorische«
Betrachtungsweise Rosa Luxemburgs, der zufolge sich der Charakter der kapitalistischen
Formen und der Krisen mit zunehmender Entwicklung verändert, ist heute
besonders aktuell in einer Zeit, in der trotz einer qualitativ neuartigen Weltkrise
besinnungsloser denn je eine immanente Verewigungsfähigkeit des Kapitalismus
angenommen wird.
Trotz, oder vielmehr wegen ihrer zusammenbruchstheoretischen Überlegungen
war Rosa Luxemburgs Denken nichts so fremd wie die im Marxismus ihrer Zeit weitverbreitete
Neigung zum mechanischen Determinismus. Sie konstatierte stattdessen eine kapitalistische
Doppellogik, d.h. die Logik des kapitalistischen Systems enthält ihrer
Auffassung nach selbst zwei widerstreitende Tendenzen: einerseits die Entwicklung
des Kapitals mit dem Bestreben, sich alle Verhältnisse zu subsumieren,
und andererseits die gleichzeitige und immer massenhaftere Produktion seines
eigenen »Totengräbers« (Marx/Engels), der natürlich auch
für Rosa Luxemburg zeitgemäß nur das Proletariat sein konnte.
Sie versuchte nun, jeweils die entgegengesetzten Logiken zu konkretisieren und
ihre jeweils spezifisch historischen Formen herauszuarbeiten, d.h. es ging ihr
natürlich um die Entfaltung der Arbeiterbewegung als Gegenspieler der Kapitallogik;
heute ein Auslaufmodell und erkennbar als innerer Motor der »zivilisatorischen
Mission« (Marx) des Kapitals selbst, damals jedoch in dieser historischen
Immanenz noch gar nicht wahrnehmbar.
Der erhoffte Triumph der Arbeiterbewegung entspringt dabei
aber für Rosa Luxemburg nicht dem Selbstlauf des historischen Prozesses
und stellt sich nicht hinter dem Rücken der Beteiligten her, er setzt vielmehr
bewußte Aktion voraus. »Der Sozialismus ist die erste Volksbewegung
der Weltgeschichte, die sich zum Ziel setzt ... in das gesellschaftliche Tun
der Menschen einen bewußten Sinn, einen planmäßigen Gedanken
und damit den freien Willen hineinzutragen«. Der von Engels formulierte
Sprung der Menschheit aus dem Tierreich in das Reich der Freiheit ist an eine
vorhergehende qualvolle Entwicklung gebunden. »Aber er kann nimmermehr
vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff
der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewußten
Willens der großen Volksmassen aufspringt«. Das bedeutet aber, die
sozialistische Umwälzung ist nicht gesichert, es gibt keine automatische
Transformation zu einer von den Menschen bewußt gestalteten Gesellschaft.
Es steht nicht von vornherein fest, welche Tendenz sich durchsetzt: »Friedrich
Engels sagte einmal: Die bürgerliche Gesellschaft steht vor dem Dilemma,
entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei ...
entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur wie im alten
Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof.
Oder Sieg des Sozialismus, d.h. der bewußten Kampfaktion«(9).
Inzwischen läßt die Erfahrung mit der zunehmenden Barbarisierung
am Ende dieses Jahrhunderts die Alternative sogar noch dringender erscheinen,
und ebenso Rosa Luxemburgs nicht-fatalistische, nicht-deterministische Antwort
darauf, wenn auch heute nicht mehr innerhalb ihrer arbeiterbewegten Vorstellungswelt.
Es gibt zwar einen logischen Schlußpunkt des Kapitals, auf den sich die
Entwicklungstendenz hinbewegt, und der nach Luxemburgs Verständnis mit
dem Endziel der Arbeiterbewegung übereinstimmt. Aber die Kapitallogik,
die in den Zusammenbruch treibt, setzt ihrer Auffassung nach nicht den Sozialismus
frei. Zusammenbruch bedeutet Chaos, Barbarei. Die sozialistische Alternative
kann nur durch bewußte Intervention verwirklicht werden. Für die
Unterstützung und das Weitertreiben dieser Alternative - die damals noch
nicht auf der Tagesordnung stand - hat Rosa Luxemburg bis zu ihrem Tode gekämpft.
Heute stellt sich unter neuen, historisch viel weiter entwickelten
Bedingungen und sicherlich auch in anderen Begriffen diese Doppellogik auf höherer
Stufenleiter erstmals konkret und gleichzeitig, d.h. nicht mehr in der Zeitdimension
auseinanderfallend wie (notgedrungen) noch bei Rosa Luxemburg: die absolute,
logisch und ökonomisch aus dem inneren Prozeß der Kapitalakkumulation
gesetzte Schranke des warenproduzierenden Systems einerseits; und die nicht-determinierte,
an die Entwicklung eines entsprechenden Bewußtseins und der daraus folgenden
bewußten Aktion gebundene Transformation über die Ware-Geld-Form
hinaus andererseits (mit der immer möglichen Alternative des Rückfalls
in die Barbarei). Auch wenn heute nicht mehr die Arbeiterbewegung (und überhaupt
kein prädeterminiertes Sozialsubjekt) als Träger dieser Aufhebung
gedacht werden kann, sondern vielmehr die Selbst-Konstitution einer Aufhebungsbewegung
jenseits des bloß immanenten »Klassenkampfs« an den krisenhaften
Bruchlinien der warenförmigen Vergesellschaftung entlang entwickelt werden
muß, so bleibt Rosa Luxemburgs Doppellogik von objektivierter immanenter
Schranke der Kapitalakkumulation und bewußter, nicht-objektivierter Aufhebung
des Kapitalverhältnisses gerade heute, wenn auch entkoppelt von den Begriffen
des Arbeiterbewegungs-Marxismus, ein entscheidender Gesichtspunkt(10).
Wenn, so Rosa Luxemburg, die sozialistische
Revolution und die sozialistische Gesellschaft aber nur als bewußte Tat
zu denken sind, dann gewinnen sie dadurch eine neue Tiefendimension. Die sozialistische
Umwälzung ist für sie keine nur politische und ökonomische Revolution,
sie läßt keinen Aspekt des sozialen Lebens aus. Rosa Luxemburgs Standpunkt
hebt sich grundlegend von den politizistischen (und etatistischen) Konzeptionen
sozialdemokratischer wie parteikommunistischer Observanz ab, wenn sie in ihrer
Auseinandersetzung mit der russischen Revolution betont: »Die Praxis des
Sozialismus erfordert eine ganze geistige Umwälzung in den durch Jahrhunderte
der bürgerlichen Klassenherrschaft degradierten Massen«(11).
Auch im »Spartakusprogramm« hebt sie diesen Gesichtspunkt hervor:
»Die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung ist die gewaltigste
Aufgabe, die je ... einer Revolution der Weltgeschichte zugefallen ist«.
Sie erfordert »eine vollständige Umwälzung in den wirtschaftlichen
und sozialen Grundlagen der Gesellschaft... Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft
besteht darin, daß die große arbeitende Masse aufhört, eine
regierte Masse zu sein... Die Proletariermassen müssen lernen, aus toten
Maschinen, die der Kapitalist an den Produktionsprozeß stellt, zu denkenden,
freien, selbständigen Lenkern dieses Prozesses zu werden«(12).
Auch dieser Gedanke behält, entbunden von den Fetischbegriffen der »Arbeit«
und eines Arbeiterbewegungs-Sozialismus, am Ende der Modernisierungsgeschichte
seine Gültigkeit. Die kulturelle, soziale und mikrosoziale Seite der Umwälzung
wird unter den heutigen Krisenbedingungen sogar wichtiger denn je, wenn die
Anforderung des »Selbertuns« endgültig keinen geschichtsdeterministischen,
ontologischen Hebel (»Arbeit«, Arbeiterklassenstandpunkt) mehr für
sich reklamieren kann.
Rosa Luxemburg zur Aufhebung der Politischen Ökonomie als Theorie und
gesellschaftliche Praxis
Neben den bisher betrachteten theoretischen Ansätzen, die in den praktischen
Kämpfen der Zeit entstanden waren und daher eng in den Arbeiterbewegungskontext
eingebunden blieben, trieben Rosa Luxemburg aber auch noch weiterreichende,
diesen Zusammenhang von vornherein sprengende Gedanken um. Sie hat diese zwar
nie systematisch entwickelt, sondern eher beiläufig in Gelegenheitsartikeln
aufgeworfen. Trotzdem bieten gerade diese von der Luxemburg-Ikonographie unbeachteten
Stellen ihre wichtigsten Antizipationen der heutigen theoretischen Problemlage.
Bei diesen Bemerkungen lehnt sie sich immer eng (aber unbequem) an Marx an,
um seinen Ansatz weiterzuspinnnen. Anders als bei ihren Zeitgenossen findet
in ihrer Marxinterpretation aber immer wieder auch der »esoterische Marx«
Beachtung.
Die Bedeutung, die die Marxsche Theorie für sie hat,
formuliert Rosa Luxemburg im Artikel »Karl Marx« folgendermaßen:
»Durch die Entdeckung, daß die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften
in letzter Linie die Geschichte ihrer Produktions- und Austauschverhältnisse
ist..., durch diese Entdeckung hat Marx die wichtigste Triebfeder der Geschichte
bloßgelegt. Damit war erst eine Erklärung für das notwendige
Mißverhältnis zwischen dem Bewußtsein und dem Sein, zwischen
dem menschlichen Wollen und dem sozialen Tun, zwischen den Absichten und den
Resultaten in den bisherigen Gesellschaftsformen gewonnen. Durch den Marxschen
Gedanken ist also die Menschheit zuerst hinter das Geheimnis ihres eigenen gesellschaftlichen
Prozesses gekommen. Durch die Aufdeckung der Gesetze der kapitalistischen Entwicklung
war aber ferner auch der Weg gezeigt, den die Gesellschaft aus ihrem naturwüchsigen,
unbewußten Stadium, worin sie ihre Geschichte machte, wie die Bienen ihre
Wachszellen bilden, in das Stadium der bewußten, gewollten, wahrhaft menschlichen
Geschichte geht, worin der Wille der Gesellschaft und ihr Tun zum ersten Male
im Einklang miteinander kommen, worin der soziale Mensch zum ersten Male seit
Jahrtausenden das tun wird, was er will«(13).
Mit diesem Verständnis, in dem sich wieder ihre grundsätzliche
Ausrichtung am Gesichtspunkt der Totalität des gesellschaftlichen Prozesses
zeigt, trat Rosa Luxemburg auch dem Bernsteinschen Positivismus in der Sozialdemokratie
entgegen: »Diese (Bernsteinsche, U.W) Theorie faßt alle behandelten
Erscheinungen des ökonomischen Lebens nicht in ihrer organischen Angliederung
an die kapitalistische Entwicklung im Ganzen und in ihrem Zusammenhang mit dem
ganzen Wirtschaftsmechanismus auf, sondern aus diesem Zusammenhang gerissen,
im selbständigen Dasein, als disjecta membra (zerstreute Glieder, U.W)
einer leblosen Maschine«. So sind Krisen für Bernstein z.B. einfach
Störungen im wirtschaftlichen Mechanismus und nicht die auf kapitalistischer
Grundlage einzig mögliche Methode der periodischen Lösung des Widerspruchs
zwischen der unbeschränkten Entwicklung der Produktivkräfte und den
engen Schranken kapitalistischer Verwertung: »Es gibt nun freilich einen
Standpunkt, von dem alle behandelten Erscheinungen sich auch wirklich so darstellen,
wie sie die Anpassungstheorie zusammenfaßt, nämlich den Standpunkt
des einzelnen Kapitalisten, wie ihm die Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens,
verunstaltet durch die Gesetze der Konkurrenz, zum Bewußtsein kommen.
Der einzelne Kapitalist sieht vor allem tatsächlich jedes organische Glied
des Wirtschaftsganzen als ein ganzes selbständiges für sich, er sieht
sie auch ferner nur von der Seite, wie sie auf ihn, den einzelnen Kapitalisten,
einwirken, deshalb als bloße >Störungen<, oder bloße
>Anpassungsmittel<. Für den einzelnen Kapitalisten sind die Krisen
tatsächlich bloße Störungen, und ihr Ausbleiben gewährt
ihm eine längere Lebensfrist, für ihn ist der Kredit gleichfalls ein
Mittel, seine unzureichenden Produktivkräfte den Anforderungen des Marktes
»anzupassen«, für ihn hebt ein Kartell, in das er eintritt,
auch wirklich die Anarchie der Produktion auf«(14).
Bernstein erweist sich so als eine theoretische
Verallgemeinerung der einzelkapitalistischen Perspektive: »Bernstein erklärt,
das Marxsche Arbeitswertgesetz sei eine bloße Abstraktion, was nach ihm
in der politischen Okonomie offenbar ein Schimpfwort ist. Ist aber der Arbeitswert
bloß eine Abstraktion, >ein Gedankenbild(, dann hat jeder rechtschaffene
Bürger, der beim Militär gedient und seine Steuern entrichtet hat,
das gleiche Recht wie Karl Marx, sich beliebigen Unsinn zu einem solchen >Gedankenbild<,
d.h. zum Wertgesetz zurechtzumachen. >Von Haus aus ist es Marx ebenso erlaubt,
von den Eigenschaften der Waren soweit abzusehen, daß sie nur noch Verkörperungen
von Mengen einfacher menschlicher Arbeit bleiben, wie es der Böhm-Jevonschen
Schule freisteht, von allen Eigenschaften der Waren außer ihrer Nützlichkeit
zu abstrahieren.( ... Bernstein hat somit ganz vergessen, daß die Marxsche
Abstraktion nicht eine Erfindung, sondern eine Entdeckung ist, daß sie
nicht in Marxens Kopfe, sondern in der Warenwirtschaft existiert, nicht ein
eingebildetes, sondern ein reales gesellschaftliches Dasein führt, ein
so reales Dasein, daß sie geschnitten und gehämmert, gewogen und
geprägt wird. Die von Marx entdeckte abstrakt-menschliche Arbeit ist nämlich
in ihrer entfalteten Form nichts anderes als - das Geld. Und dies ist gerade
eine der genialsten ökonomischen Entdeckungen von Marx, während für
die ganze bürgerliche Ökonomie, vom ersten Merkantilisten bis auf
den letzten Klassiker, das mystische Wesen des Geldes ein Buch mit sieben Siegeln
geblieben ist«(15). Da Bernstein die Bedeutung des Wertgesetzes
bei Marx nicht begreifen kann, muß ihm das ganze System, d.h. der Aufbau
des »Kapital«, unverständlich bleiben.
In einer Besprechung der von Kautsky aus dem Marxschen Nachlaß herausgegebenen
»Theorien über den Mehrwert«(16) arbeitet
Rosa Luxemburg den Unterschied zwischen der Nationalökonomie und der Marxschen
Kritik der Politischen Ökonomie heraus - ein Text, der von dem heutigen
»marktsozialistischen« Klerus und seinen Bischöfen wohl auf
den Index gesetzt werden muß. Rosa Luxemburg macht sich dort über
die »Vulgärökonomen« lustig, die die Bestimmung der »produktiven
Arbeit« wie alle nationalökonomischen Grundbegriffe zur reinen »Definitionsfrage«
erklären: »Das Arbeiten mit Definitionen (ist) die erprobte Methode,
die es dem Ökonomen gestattet, nach einem höchst wissenschaftlich
schillernden Prozeß der Untersuchung an ihrem Schluß genau dieselbe
Portion Weisheit glücklich herauszufischen, die er selbst an ihrem Anfang
hineingeschmuggelt hat... Ob man die Arbeit >produktiv< nennen soll, je
nachdem sie Waren oder materielle Güter überhaupt oder auch, noch
allgemeiner, >nützliche Dienste< leistet, ob wir die Arbeit des Schusters,
des Seiltänzers und des Reichskanzlers gleichmäßig >produktiv<
nennen oder nur einzelne Kategorien davon mit diesem schmeichelhaften Titel
auszeichnen sollen, das ist ein Streitpunkt der bürgerlichen Ökonomie,
der ebenso alt ist wie diese Ökonomie selbst... Marx ... weist nach, daß
der Begriff der >produktiven Arbeit< nicht Gegenstand der Privatliebhaberei
oder des Esprits des einzelnen Ökonomen, sondern ein geschichtliches Produkt
der Gesellschaft sei... Der Begriff der Produktivität der Arbeit liegt
somit in der Marxschen Beleuchtung nicht im Verhältnis zwischen Mensch
und Arbeitsstoff, allgemeiner: zwischen Mensch und Natur, allwo ihn der Vulgarus
seit einem Jahrhundert im Schweiße seines Angesichts sucht, sondern zwischen
Mensch und Mensch, es ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das unter
dem Begriff der >produktiven Arbeit< steckt, genau wie unter dem Begriff
von Kapital«.
Rosa Luxemburg zeigt außerdem, daß Marx nicht hur den Begriff der
»produktiven Arbeit« als historischen Begriff dechiffriert. Sie
macht klar, daß Marx überhaupt alle zum Kapitalverhältnis gehörigen
Kategorien als dem geschichtlichen Wandel unterworfen begreift. In diesem Sinne
ordnet sie auch die »Theorien über den Mehrwert« ein, und versteht
sie als eine kritische Geschichte der Nationalökonomie. Die aufhebende
Selbstkritik, die von der Nationalökonomie als bürgerlicher Wissenschaft
nicht geleistet werden kann, hat Marx in den »Theorien über den Mehrwert«
nachgeliefert: »Zur Geschichtsschreibung gehört ... als erste Bedingung
diejenige Einsicht in den Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Prozeß
und seinem theoretischen Reflex, deren Fehlen gerade die wissenschaftliche Grundlage
der bürgerlichen Nationalökonomie und ihrer Methoden bildet. Und daraus
ergibt sich schon der merkwürdige Umstand, daß die Nationalökonomie
über ihren Forschungsgegenstand, ihren Stoff selbst im dunkeln ist, indem
ihre gelehrten Historiker krampfhaft den Anfängen der nationalökonomischen
Theorien im ersten Morgengrauen der menschlichen Geschichte, im klassischen
Orient, beinahe bei den Affenmenschen, kurz überall da nachspüren,
wo sie ebensowenig zu finden ist, wie ihr einziger wirklicher Gegenstand - die
kapitalistische Produktionsweise. Der Vorstellung von der bürgerlichen
Gesellschaft als einer absoluten und ewigen Gesellschaftsform in bezug auf die
Zukunft entspricht logisch die Vorstellung von der Nationalökonomie als
einer absoluten und ewigen Wissenschaft in bezug auf die Vergangenheit«.
Diese Sätze treffen nicht nur auf die alten bürgerlichen Nationalökonomen,
sondern genauso auf die heutigen Marxisten und wissenschaftlichen Hiwis der
»Realpolitik« zu.
In ihrem Artikel »Die >deutsche Wissenschaft<
hinter den Arbeitern« schlägt Rosa Luxemburg ein weiteres Mal in
diese Kerbe und kritisiert vehement die Neigung der Nationalökonomie zur
Enthistorisierung: »Wenn die klassische Schule der Nationalökonomie
die Bewegung des Lohnes auf naturgesetzliche Erscheinungen, auf das Bevölkerungsgesetz
und die absolute Größe des Produktionskapitals zurückführte,
so verfuhr sie dabei nur konsequent nach ihrer Grundmethode: die Schranken der
bürgerlichen Gesellschaft mit gesellschaftlichen Naturschranken zu identifizieren.
Und die historisch-dialektische Kritik der klassischen Nationalökonomie
- die von Marx gelöste Aufgabe - bestand hier wie meistens in der Rückübersetzung
der >Naturgesetze< in Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft«(17).
Rosa Luxemburg greift in diesen Gedanken immer wieder tastend jenen »esoterischen«
Ansatz von Marx auf, der weit über den Arbeiterbewegungsmarxismus hinausweist,
und mit dem sie daher in ihrem sozialhistorischen und theoretischen Kontext
nur Unverständnis ernten konnte: die Schlußfolgerung nämlich,
daß die (ernstgenommene) Kritik der Nationalökonomie theoretisch
wie praktisch deren sämtliche Grundkategorien aufzuheben und nicht etwa
alternativ zu operationalisieren hat. Letztere verkürzte Lesart war bekanntlich
nicht nur diejenige der Sozialdemokratie, sondern auch der realsozialistischen
Planwirtschaft im Kontext »nachholender Modernisierung«, die nur
mit unaufgehobenen Waren- und Geldkategorien operieren konnte. Heute ist die
besinnungslose Affirmation der »nationalökonomischen Kategorien«
zwar im Mainstream des realpolitischen und restmarxistischen Denkens mehr denn
je vorherrschend; umso heller leuchtet Rosa Luxemburgs frühe Vorahnung
des umstürzenden Gedankens, daß eine nachkapitalistische Gesellschaft
keine Politische Ökonomie mehr »hat« und keine Nationalökonomie
mehr »ist«, deren falsch ontologisierte Kategorien also verschwinden
müssen.
Rosa Luxemburg zur Historisierung des Marxismus
Rosa Luxemburg war sich darüber im klaren, daß die Marxsche Lehre
selber insofern historischen Charakter hat, als sie mit dem Untergang des Kapitalismus
gegenstandslos wird. Ihr Sinn für das Geschichtliche reichte so weit, daß
sie sogar ein vom heutigen Standpunkt aus fast schon seherisch anmutendes Gespür
für die Binnengeschichte des Marxismus entwickelte. In ihrem Aufsatz »Stillstand
und Fortschritt im Marxismus«(18) setzt sie sich mit
der Rezeption von Marx in der Arbeiterbewegung auseinander. Anlaß dieser
Schrift und Ausgangspunkt ihrer Reflexion ist dabei die Aufnahme des III. Bandes
des »Kapital«: »Der dritte Band des >Kapital< ist zweifellos
vom wissenschaftlichen Standpunkt erst als die Vollendung der Marxschen Kritik
des Kapitalismus zu betrachten. Ohne den dritten Band ist das eigentliche herrschende
Gesetz der Profitrate, ist die Spaltung des Mehrwertes in Profit, Zins und Rente,
ist die Wirkung des Wertgesetzes innerhalb der Konkurrenz nicht zu verstehen.
Aber ... alle diese Probleme, so wichtig sie vom theoretischen Standpunkt sind,
sind doch ziemlich gleichgültig vom Standpunkte des praktischen Klassenkampfes.
Für diesen war das große theoretische Problem: die Entstehung des
Mehrwertes, d.h. die wissenschaftliche Erklärung der Ausbeutung, sowie
die Tendenz der Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, d.h. die wissenschaftliche
Erklärung der objektiven Grundlagen der sozialistischen Umwälzung.
Beide Probleme beantwortet bereits der erste Band, der die >Expropriation
der Expropriateure< als unausbleibliches Endergebnis der Produktion des Mehrwertes
und der fortschreitenden Kapitalkonzentration folgert. Damit war das eigentliche
theoretische Bedürfnis der Arbeiterbewegung im großen und ganzen
befriedigt... Und deshalb ist der dritte Band des >Kapitals< bis jetzt
für den Sozialismus im ganzen ein ungelesenes Kapital geblieben«.
Es ist schon verblüffend, wie Rosa Luxemburg hier trotz ihrer arbeiterbewegungsimmanenten
Perspektive deren Grenze überschreitet und im Grunde genommen die Beschränktheit
dieser Sicht kritisch formuliert, wenn sie de facto sagt, daß Marx mehr
und Weitergehendes bringt, als für den »Klassenkampf« nötig
ist. Aus heutiger Sicht können wir noch klarer sehen, daß die begrenzte
Marxrezeption der Arbeiterbewegung in deren letztlich immanenten Zielen begründet
lag. Denn noch stand erst die »Befreiung der Arbeit« (innerhalb
des warenproduzierenden Systems), nicht ihre Aufhebung auf der historischen
Tagesordnung.
Auch Rosa Luxemburg war es erstaunlicherweise klar: »Aber auch schon die
Schöpfung Marx', die als wissenschaftliche Leistung ein riesenhaftes Ganzes
in sich ist, überschreitet die direkten Anforderungen des proletarischen
Klassenkampfes (sic!) ... Nur in dem Maße, als unsere Bewegung in fortgeschrittenere
Stadien tritt und neue praktische Fragen aufrollt, greifen wir wieder in das
Marxsche Gedankendepot... Wenn wir deshalb jetzt in der Bewegung einen theoretischen
Stillstand verspüren, so ist es nicht, weil die Marxsche Theorie, von der
wir gezehrt, der Entwicklung unfähig sei oder sich >überlebt<
habe, sondern umgekehrt, weil wir die ... geistigen Waffen, die uns in dem bisherigen
Stadium zum Kampf notwendig waren, der Marxschen Rüstkammer bereits entnommen
haben, ohne sie damit zu erschöpfen; nicht, weil wir im praktischen Kampf
Marx >überholt< haben, sondern umgekehrt, weil Marx in seiner wissenschaftlichen
Schöpfung uns als praktische Kampfespartei im voraus überholt hat
(sic!), nicht weil Marx für unsre Bedürfnisse nicht mehr ausreicht,
sondern weil unsre Bedürfnisse noch nicht für die Verwer-tung der
Marxschen Gedanken ausreichen. So rächen sich die von Marx theoretisch
aufgedeckten sozialen Daseinsbedingungen ... in der heutigen Gesellschaft an
den Schicksalen der Marxschen Theorie selbst«.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts, mitten in der Aufschwungphase der marxistischen
Arbeiterbewegung, mußten derart erstaunliche Worte als dunkles Raunen
verhallen. Dafür können sie uns Nachgeborenen umso mehr sagen. Wer
sich heute weder über das Ende des traditionellen Marxismus hinweglügen
noch seinen Frieden mit den herrschenden Verhältnissen machen will, darf
die Marxsche Theorie nicht als starre, einheitliche, historisch ungebrochene
»Lehre« verstehen, die man nur falsch oder richtig interpretieren
kann. In diesem Sinne können wir Rosa Luxemburgs Reflexionen, die über
ihre Zeit hinausreichen, erst heute angemessen würdigen, wenn wir die Krisengeschichte
unserer eigenen Zeit zu begreifen suchen, statt sie zu verdrängen. Das
Denken von Rosa Luxemburg bleibt dabei jedenfalls anregender als die Auslassungen
der senil gewordenen Linken unserer Tage. »Die Genossin Luxemburg bringt
alles durcheinander«, so jammerte die Bürokratie der alten Sozialdemokratie.
Wie wir gesehen haben, schafft sie das erfreulicherweise auch heute noch. Wir
müssen noch viel mehr »durcheinanderbringen«.
Fußnoten
1) Der Text basiert auf Teilen eines Referats,
das der Verfasser am Vorabend des 1. Mai 1994 in einem Nürnberger Kulturladen
gehalten hat.
2) Siehe hierzu die schon länger geführte
Auseinandersetzung mit dieser Thematik in der »Krisis«, insbesondere
den Beitrag »Postmarxismus
und Arbeitsfetisch« von Robert Kurz in der vorliegenden Ausgabe, der
die Differenz zwischen dem »esoterischen« und dem »exoterischen«
Marx herauszuarbeiten sucht.
3) Paul Frölich: Rosa Luxemburg-Gedanke
und Tat, Frankfurt 1967, S. 23.
4) Peter Nettl: Rosa Luxemburg, Köln-Berlin
1969, S. 90-91.
5) Auf die Totalität reflektieren dann
erst wieder die »Hegelmarxisten«, u.a. der junge Lukács in
»Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923). Sie erregten damit
den Unwillen der »Leninisten« in der Komintern und wurden scharf
kritisiert.
6) Lelio Basso: Der Beitrag Rosa Luxemburgs
zur Entwicklung des marxistischen Gedankens, maschinengeschriebenes Manuskript
eines Referats auf dem gleichnamige Kongreß in Reggio Emilia, 18.-22.9.1973,
S.6. Der inzwischen verstorbene Linkssozialist Basso hatte versucht, Rosa Luxemburg
für die italienische Arbeiterbewegung fruchtbar zu machen.
7) Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals,
Berlin 1923, Reprint Frankfurt/Main 1966, S.288. Rosa Luxemburgs Kritiker, meist
akademische Marxisten wie etwa Otto Bauer, versuchten dagegen durch Jonglieren
mit den Marxschen Reproduktionsschemata (2. Band des »Kapitals«)
die Funktionsfähigkeit des wollentwickelten Kapitalismus nachzuweisen.
8) Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?,
in: dieselbe: Politische Schriften, Leipzig 1969, S. 25-26.
9) Rosa Luxemburg: Juniusbroschüre,
in: dieselbe, ebenda, S. 241-42.
10) In gewisser Weise ruft die "Krisis"-Position
gerade in diesem Punkt übrigens heute ähnliche Irritationen wie einst
Rosa Luxemburg hervor, indem die "harte" Krisen- und Aufhebungstheorie
auch heute wieder einerseits des "Determinismus" und "Objektivismus",
andererseits aber gleichzeitig des "Voluntarismus" geziehen wird.
Jedesmal steht hinter diesen Anwürfen das Unverständnis der "Doppellogik",
d.h. der Dialektik von objektiver (determinierter) Krisenlogik einerseits und
bewußtseins-abhängiger, in keinerlei Objektivität mehr verankerter
Aufhebungsproblematik andererseits. Indem diese beiden Logiken, die für
Rosa Luxemburg noch historisch auseinanderfielen, heute in eins fallen, wird
ihr Verhältnis umso brisanter. Die Scheinradikalen, die uns heute wegen
eines angeblichen "sozialdemokratischen Objektivismus" usw. anklagen,
stehen dem Theorieverständnis für sozialdemokratischen II. Internationale
viel näher, als sie glauben. Rosa Luxemburg war darüber schon hinaus.
11) Rosa Luxemburg: Die russische Revolution,
in: diesselbe: Schriften zur Theorie der Sponanität, Reinbek 1970, S. 188
12) Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund?,
in: dieselbe: Politische Schriften, ebenda, S. 418.
13) Rosa Luxemburg: Karl Marx, in: dieselbe:
Gesammelte Werke Bd. l, 2.Hbd., S. 370-71.
14)Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?
a.a.O., S. 52.
15) Ebenda, S. 61-62.
16) Rosa Luxemburg: Aus dem literarischen
Nachlaß von Karl Marx, in: dieselbe: Gesammelte Werke, Bd. l, 2. Hbd.,
S. 465-70.
17) Rosa Luxemburg: Die »deutsche
Wissenschaft« hinter den Arbeitern, in: dieselbe: Gesammelte Werke, Bd.
1,1. Hbd., S.770.
18) Rosa Luxemburg: Stillstand und Fortschritt
im Marxismus, in: dieselbe: Gesammelte Schriften, Bd. l, 2. Hbd., S. 366-67.