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erschienen in der Wochenzeitung "Freitag"
am 20.03.2008

Robert Kurz

STURMLAUF GEGEN MINDESTLOHN

Die Hardliner der Arbeit um jeden Preis formieren sich

Wer erwartet hatte, dass die von der Großen Koalition festgesetzte Lohnuntergrenze in der Briefzusteller-Branche von 8 bis 9,80 Euro eine Bresche für den allgemeinen Mindestlohn geschlagen hätte, sieht sich getäuscht. In einem gemeinsamen Aufruf der Präsidenten und Direktoren der Wirtschaftsforschungsinstitute vom 12. März 2008 wird mit Pathos beklagt, die Post-Vereinbarung beschädige die marktwirtschaftliche Ordnung „in ihren Grundfesten“. Die Möglichkeit einer „Korrektur der Tarifpolitik durch Außenseiterwettbewerb“ werde liquidiert und ein gesetzlicher Mindestlohn auch nur von 7,50 Euro müsse zu dramatischen Beschäftigungsverlusten führen. Schon einige Tage zuvor hatte das Berliner Verwaltungsgericht einer Klage der Springer-Tochter Pin-Group stattgegeben und den Post-Mindestlohn für rechtswidrig erklärt, weil er die Tarifautonomie verletze. Jetzt erwägt der Springer-Konzern, den Bund auf Schadenersatz zu verklagen. Wirtschaftsminister Glos will nicht nur die beschlossene Vereinbarung zurücknehmen, sondern die Mindestlohn-Debatte überhaupt abwürgen. In dieses Horn stoßen auch die CSU-Mittelstandsunion und Arbeitgeberpräsident Hundt.

Die Hardliner der Arbeit um jeden Preis formieren sich. Zwar hat Arbeitsminister Scholz (SPD) gegen das Berliner Urteil Berufung eingelegt. Aber seine Position wackelt und ist letztlich unglaubwürdig. Denn schließlich war der miserable Billiglohn politisch gewollt und wurde durch Schröders berüchtigte Agenda 2010 unter rot-grüner Regie auf den Weg gebracht. Die vielgelobten Erfolge der Hartz-Reformen bestehen vor allem darin, dass mittels Zwangsmaßnahmen der Arbeitsagenturen inzwischen 10 Prozent der Beschäftigten im Westen und 25 Prozent im Osten weniger als 7,50 Euro verdienen. Im Aufruf der Instituts-Direktoren heißt es sogar mit dürrer Dreistigkeit, in Gestalt des ALG-II-Geldes bestehe ja bereits ein ausreichender „impliziter“ Mindestlohn, der für Alleinstehende einem Bruttostundenlohn (!) von vier bis fünf Euro entspreche. Alles andere käme einem „staatlichen Lohndiktat“ gleich. Die Sozialdemokratie erntet, was sie gesät hat. Ihre absurden „Beschäftigungserfolge“ führen dazu, dass ihr die Klientel wegbricht. Mit einer Beckschen Wackelpudding-Politik zwischen Agenda 2010 und Mindestlohn ist da nichts mehr zu retten.

Zu den „Erfolgen“ der Prekarisierungs-Offensive gehört auch die Existenz der 2007 gegründeten Zombie-Gewerkschaft für Neue Brief- und Zustelldienste (GNBZ), die mit der Pin-Group und der niederländischen TNT Post Elends-Tarifverträge abschließen und im Dienste ihrer Auftraggeber bereits Demos gegen den Post-Mindestlohn organisieren durfte. Verdi hat gegen die GNBZ Strafantrag bei der Kölner Staatsanwaltschaft gestellt, weil diese dubiose Kampforganisation für Hungerlöhne sich kaum durch Mitgliedsbeiträge, sondern „eindeutig über Gelder Dritter“ finanziere. Mit einem juristischen Vorgehen gegen die zweifellos nicht vorhandene Tariffähigkeit dieser Ungewerkschaft ist es freilich nicht getan. Die sogenannte Tarifautonomie wurde durch die staatlich forcierte Billigkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt längst ausgehöhlt und zur Farce degradiert. Wie die aktuelle Entwicklung zeigt, ist ein ausreichend hoher allgemeiner und gesetzlicher Mindestlohn in der BRD aber nicht mehr auf dem politischen Dienstweg zu haben, sondern nur noch durch außerparlamentarische Kampfmassnahmen.

Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren die Billiglohn-Politik lediglich verbal kritisiert, um im Windschatten von SPD und Grünen eher auf die besserverdienende Mittelschicht zu setzen, die nun selber zunehmend prekarisiert wird. Die Quittung ist der Absturz des allgemeinen Einkommensniveaus; die realen Nettolöhne pro Beschäftigten sanken sogar im jüngsten Aufschwung um 3,5 Prozent. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung bezieht derzeit in der BRD ein Einkommen von weniger als 70 Prozent des Durchschnitts. Der Sturmlauf gegen den Mindestlohn ist durch das lahme Rückzugsgefecht einer begrenzten Klientel nicht zu stoppen. Eine gesellschaftliche Gegenbewegung muss vor allem mit dem Konsens brechen, dass jede Arbeit besser sei als keine. Die bis tief in die Linke hineinreichende Ideologie der „heiligen Arbeit“ ist zum Bumerang geworden; der Neoliberalismus hat diese falsche Ethik längst kassiert. Klipp und klar ist zu fordern, dass Halsabschneider-Unternehmen vom Markt verschwinden, deren „Geschäftsmodell“ einzig auf Lohnkosten unter jedem „moralischen Niveau“ (Marx) beruht. Wenn sich dadurch Teile der „Dienstleistungsgesellschaft“ in Rauch auflösen, beweist das einfach, dass hier nur Scheinarbeitsplätze entstanden sind. Derartige Verhältnisse als gesellschaftliche „Teilhabe“ zu verkaufen, ist ein Indiz dafür, dass die kapitalistische Widerspruchsbearbeitung Grenzen erreicht hat.