Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 25.04.2008

Robert Kurz

ÖKONOMIE DER ALTERSARMUT

Der Kapitalismus will nur das Beste der Menschen: ihre Lebensenergie, die als mehrwertschaffende „Arbeit“ abgesaugt werden soll. Wenn es ginge, am liebsten rund um die Uhr. Noch nicht verwertungsfähige Kinder werden geduldet als potentielle zukünftige Arbeitskräfte; aber ausgemusterte Alte sind im Prinzip Ballast. Die mühsam erkämpften sozialen Sicherungssysteme schienen zu Wirtschaftswunderzeiten diese brutale Logik dauerhaft zu humanisieren, wenn auch keineswegs für alle. Vor allem Frauen drohten durch „Auszeiten“ in der Rentenversicherung für die Kinderbetreuung oder durch Teilzeitarbeit mit verminderten Rentenansprüchen der Altersarmut zu verfallen, wenn sie nicht vom Ruhegeld der Ehepartner mitzehren konnten. Unter den krisenhaften Verwertungsbedingungen des Kapitals in der 3. industriellen Revolution und im Zuge der Globalisierung werden nun seit Jahren alle sozialen Transfers demontiert, darunter an vorderster Stelle die Rentenversicherung. Die Rentenformel ist längst so umgestellt worden, dass sie keinen Inflationsausgleich mehr garantiert. Seit 2004 ist die Kaufkraft der Rentner noch stärker gesunken als bei den Beschäftigten. Auch die jüngste außerplanmäßige Rentenerhöhung von 1,1 Prozent liegt weit unter der Inflationsrate; für den Gegenwert kann man nicht einmal eine Wurst kaufen.

Trotzdem wurde diese Maßnahme von Ökonomen und Teilen der politischen Klasse als wahltaktischer „Populismus“ attackiert. Das sinkende Realeinkommen der Rentner liegt derzeit aufgrund beitragsstarker Jahrgänge zwar noch auf einem relativ hohen durchschnittlichen Niveau. Aber das wird sich in naher Zukunft dramatisch ändern. Dass daran die demographische Entwicklung bei schwachen Geburtenraten schuld sei, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Tatsächlich verfällt das Beitragsaufkommen vor allem durch die langfristig aufgebaute Massenarbeitslosigkeit und die auch politisch gewollte rapide Ausdehnung des Billiglohns. Die von Jahr zu Jahr steigende Verarmung der „Erwerbsfähigen“ zieht in naher Zukunft zwangsläufig eine noch stärkere Altersarmut nach sich. Die bereits beschlossene Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ist eine beschäftigungspolitische Milchmädchenrechnung; erst recht die soeben erhobene Forderung der Bundesbank, den Rentenbeginn sogar auf 68,5 Jahre hinaufzusetzen. Da auf absehbare Zeit das Kapital nur an der Verwertungsfähigkeit jüngeren Menschenmaterials interessiert ist, wird diese Maßnahme hauptsächlich zu höheren Ausfallzeiten führen und damit die Altersarmut zusätzlich verstärken.

Aber auch für die fernere Zukunft kann die Geburtenschwäche nicht zum kommenden Arbeitskräftemangel hochgerechnet werden. Sinkende Kaufkraft führt zu sinkender Produktion, und das geringere Angebot von Arbeitskraft wird durch technologische Rationalisierung überkompensiert, die noch lange nicht ausgeschöpft ist. Weil das Beitragssystem der Rentenversicherung von der massenhaften Beschäftigungsfähigkeit des Verwertungsprozesses abhängig bleibt, kehrt der Kapitalismus zur Brutalisierung gegenüber den Ausgemusterten zurück. Die Warnung des Alt-Bundespräsidenten Herzog vor einer „Rentnerdemokratie“, in der „die Älteren die Jüngeren ausplündern“, folgt dieser Logik und will die jungen Armen gegen die alten Armen ausspielen. Die materiellen Reichtumspotenzen könnten längst ausreichend Lebensmittel und Kulturgüter für alle garantieren. Aber weil das letzte Stück Brot durch eine gelingende Geldverwertung hindurch muss, ist der Kapitalismus in diesem Sinne nicht zukunftsfähig.