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erschienen in der Wochenzeitung "Freitag"
am 23.05.2008

Robert Kurz

ANGST VOR DEM MONSTER

Der Krisenpopulismus der Eliten erklärt nichts und bewältigt nichts

Jeder vierte Bundesbürger lebt an der Armutsgrenze und die Mittelschicht schwindet dahin. Eine Tankfüllung lässt fast schon das durchschnittliche Monatsbudget kollabieren. Am Horizont zeichnet sich der Zusammenbruch der Altersversorgung ab und die Zahlungsunfähigen dürfen sich in der Zweiklassenmedizin keine Krankheit mehr leisten. Gleichzeitig macht die globale Nahrungsmittelkrise Schlagzeilen. Die Furcht geht um, dass es für die Milliardenmassen bald nichts mehr zu beißen gibt. Und das alles mitten im „Aufschwung“ einer Defizitkonjunktur, die von Finanzblasen genährt wurde und nur in den Glaspalästen der Globalisierung angekommen ist. Allerdings könnte auch damit bald Schluss sein. Die monatelang heruntergespielte Unpässlichkeit der Hypothekenkredite in den USA hat sich als weltweite Finanzkrise entpuppt; die größte nach 1945 und womöglich die schlimmste seit den 30er Jahren. Was ist dagegen schon die Klimakatastrophe, die in den Medien wieder nach hinten gerückt wurde?

Wenn es darum geht, die Verluste des Finanzdesasters zu sozialisieren, glaubt nicht einmal der Chef der Deutschen Bank mehr an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“. Der Bankrott des Neoliberalismus ist handgreiflich geworden. Aber wie schon Margret Thatcher sagte: Es gibt keine Alternative, solange der Kapitalismus als Lebensprinzip gilt. Die Parole „Augen zu und durch“ schlägt in Angst und Panik um, auch bei den bislang so selbstverliebten Eliten der marktradikalen Krisenverwaltung. Bundespräsident Köhler weiß auf einmal, „dass sich die internationalen Finanzmärkte zu einem Monster entwickelt haben“. Hinsichtlich seiner Zeit als Direktor des Internationalen Währungsfonds scheint er an Erinnerungslücken zu leiden. Damit steht er freilich nicht allein. Schon Franz Müntefering, der Sozialdemokrat mit dem roten Schal, hatte ja die „Heuschrecken“ der Investment-Fonds als Schuldige dingfest gemacht und großzügig vergessen, dass es die rotgrüne Regierung war, die vor den „Marktkräften“ kapitulieren musste.

Plötzlich wollen es die strammen Musterschüler von gestern nicht mehr gewesen sein. Alle gerieren sich jetzt als Widerstandskämpfer gegen die neoliberalen „Auswüchse“, denen es nur um einen Gutmenschen-Kapitalismus zu tun ist; allerdings, so Köhler, „ohne den Markt- und Preismechanismus auszuschalten“. Diese Option ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Hoffnung, dass das Berliner Regierungsviertel von sozialen Schutzengeln bevölkert wird. Sogar die gesamte Wirtschaftspresse sucht die Ursachen der Misere bloß in der subjektiven „Gier“ von Akteuren, die als Sündenböcke herhalten sollen. Auch Köhler appelliert an den Stammtischverstand, wenn er die „bizarr hohen Vergütungen für einzelne Finanzmanager“ anprangert. Und die Banker geben untereinander aus Furcht vor den Leichen im Keller nicht nur keine Kredite mehr, sondern sie lauern darauf, sich in Anpassung an die präsidiale Schelte gegenseitig als diejenigen vorzuführen, die das „Monster“ gefüttert haben. Dass dabei das Ressentiment und der antisemitische Affekt bedient werden, scheint keine Rolle mehr zu spielen. „Bizarr“ ist vor allem, wie die Gemeinde der Krisendemokraten ideologisch in die Nähe der NPD rückt, auch wenn sie das nicht wahrhaben möchte.

Die Metaphorik der „Monster“ und „Heuschrecken“ verweist auf den Erklärungsnotstand eines Bewusstseins, das den Kapitalismus verinnerlicht hat. Der Krisenpopulismus der angststarren Eliten erklärt nichts und bewältigt nichts. Eine Analyse der Krisenursachen würde zurückführen auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Aber die theoretische Kultur dieser Kritik ist abgebrochen, seit große Teile der Linken in einer falschen Verarbeitung des realsozialistischen Zusammenbruchs beim kapitalistischen Realitätsprinzip angekommen sind. Jetzt blamiert der unantastbare „Markt- und Preismechanismus“ seine Jünger. Deshalb geht auch der offiziellen Expertokratie die Luft aus. Die Absolventen der Wirtschaftswissenschaft in Gewerkschaften, Unternehmerverbänden, Parteien, Staatsbürokratie und Stiftungen sind allesamt austauschbar und von derselben Mentalität geprägt wie geklonte Schafe. Angesichts des selbsterzeugten „Monsters“ entlässt die Betriebswirtschaft ihre smarten Kinder. Sie verstehen ihre eigene Welt nicht mehr. Wenn die berufsmäßig Ahnungslosen mit Köhler feststellen, dass wir zwar „nahe dran an einem Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte waren“, aktuell aber Entwarnung angesagt sei, sollte das ein Alarmzeichen sein. Ein Durchschlagen der Finanzkrise auf den Alltag droht die Dämonen einer allgemeinen Verzweiflungskonkurrenz zu wecken. Dann nützt es den Hütern der „Finanzierbarkeit“ auch nichts mehr, wenn sie ihre Hände in populistischer Unschuld waschen.