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erschienen im Neuen Deutschland
am 15.08.2008

Robert Kurz

DAS ELEND DER MIKROÖKONOMIE

Die moderne Wirtschaftswissenschaft kennt zwei verschiedene Erklärungsmuster für ihren Gegenstand. Die sogenannte Makroökonomie befasst sich mit dem Gesamtzusammenhang der wirtschaftlichen Prozesse und den wechselseitigen Beziehungen ihrer einzelnen Momente, z.B. dem Verhältnis von konjunktureller Entwicklung und Inflationsrate. Die sogenannte Mikroökonomie geht stattdessen vom Verhalten der einzelnen „Wirtschaftssubjekte“ aus, wobei ein Kalkül der individuellen „Nutzenmaximierung“ unterstellt wird. Beide Herangehensweisen setzen die kapitalistische Form der Gesellschaft blind als „Naturgrundlage“ voraus. Die Marxsche Theorie dagegen bezieht sich nicht nur von vornherein auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, sondern sie kritisiert die zu Grunde liegenden ökonomischen Formen als „fetischistisch“ und die ganze Veranstaltung der Kapitalverwertung als irrationalen und letztlich zerstörerischen Selbstzweck.

In der Entwicklung der letzten Jahrzehnte wurde die Marxsche Theorie zurückgedrängt und spätestens seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus weitgehend aus dem Wissenschaftsbetrieb verbannt. Damit einher ging jedoch auch eine Umwälzung innerhalb der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft. Schon seit langem war der makroökonomische Gesichtspunkt zunehmend dem mikroökonomischen untergeordnet worden. Das Ganze der Ökonomie erschien nur noch als Resultat von Entscheidungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte, das sich in Form von mathematischen „Modellen“ darstellen sollte, die selbst von kapitalistischen Praktikern als wirklichkeitsfremd beklagt wurden. Die sogenannte neoliberale Revolution hat die Mikroökonomie nicht nur theoretisch radikalisiert. Die „eiserne Lady“ Margret Thatcher brachte es mit ihrer berüchtigten Aussage auf den Punkt: „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen und Familien“.

Dieser Imperialismus der Mikroökonomie bildet den Kern des neoliberalen Marktradikalismus in Gestalt einer individuellen „Angebotsökonomie“. Das neue Glaubensbekenntnis lautete: „Werdet billig“ um jeden Preis. Mit einer drastischen Kostensenkungspolitik der Unternehmen und einer damit verbundenen Verbilligung der Ware Arbeitskraft sollte der Kapitalismus aus seinen Verwertungsproblemen herausgeführt werden. Wenn sich alle nur individuell „marktgerecht“ verhalten, so der Grundgedanke, wird das System wieder prächtig funktionieren. Die Ausblendung des gesellschaftlichen Ganzen ging einher mit einer postmodernen sozialen „Individualisierung“ nach dem Motto: Jeder für sich und Gott gegen alle. Die „Mikroökonomisierung“ wurde ideologisch auf alle Lebensbereiche ausgedehnt, von der Kultur bis zu den persönlichen Beziehungen.

Aber der systemische Zusammenhang des gesellschaftlichen Verhältnisses, die berühmte „Totalität“, musste sich an der mikroökonomischen Ignoranz rächen. Schon die spiegelbildliche Entwicklung von Massenarbeitslosigkeit einerseits, Finanzblasen-Ökonomie und Globalisierung andererseits deutete darauf hin, dass das Ganze mehr und etwas anderes ist als bloß die Summe seiner Teile. Die derzeitige Finanzkrise mit ihrem drohenden Rückschlag auf die Weltkonjunktur, vom ehemaligen US-Notenbankchef Alan Greenspan als „Jahrhundertkrise“ bezeichnet, blamiert das zusammenhanglose Hochrechnen von Wirtschaftsdaten. Die Mikroökonomie kann nichts mehr erklären. Ihr aktuelles Elend ist auch das Elend der „Individualisierung“. Die Menschen werden mit der Nase darauf gestoßen, dass sie gesellschaftliche Wesen sind.