Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 19.09.2008

Robert Kurz

DIE LETZTE INSTANZ

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert. Nach diesem Motto verfahren die kapitalistischen Eliten, seit der Bankrott des Neoliberalismus offenkundig geworden ist. Wenn es um die Systemrettung geht, schert das ideologische Geschwätz von gestern keinen mehr. Der Kapitalismus als solcher ist eben heiliger als die neoliberale Doktrin, die in der ausufernden Finanzkrise „pragmatisch“ über Bord geworfen wird. Massive Staatseingriffe und die reihenweise Verstaatlichung von maroden Banken ausgerechnet im neoliberalen Mekka USA gelten plötzlich als genialer Schachzug, um die in Panik geratenen Finanzmärkte zu beruhigen. Die staatlichen Notenbanken als „lender of last resort“ (Kreditgeber der letzten Instanz) fluten in konzertierten Aktionen das globale Finanzsystem mit dreistelligen Milliardenbeträgen, die per Mausklick aus dem Nichts „geschöpft“ werden. Und mit Staatsanleihen und Steuergeldern werden Unsummen in die Sanierung der unter Staatsverwaltung gestellten Bankrotteure gepumpt. Nach der Privatisierung der Finanzblasen-Gewinne ist die Sozialisierung der Verluste im Prozess einer gigantischen Geldverbrennung das kapitalistische Gebot der Stunde.

Der Finanzkapitalismus der letzten 15 Jahre verwandelt sich rapide in einen offenen Staatskapitalismus neuen Typs. Unter der marktradikalen Oberfläche hatte sich diese Entwicklung längst angedeutet. Eine zentrale Säule der neoliberalen Ideologie, der sogenannte Monetarismus als Doktrin einer Knapphaltung der Geldmenge, hat ihren Sündenfall seit Jahren hinter sich. Die defizitäre Finanzierung der gefeierten Weltkonjunktur war bereits Resultat einer hemmungslosen Dollarschwemme durch die US-Notenbank. Seit Beginn der Finanzkrise 2007 enthüllt sich in immer neuen Schüben der substanzlose Charakter dieses scheinbaren Aufschwungs, der bei der Mehrheit sowieso nie angekommen ist. Wenn jetzt der Staat als letzte Instanz die ganze Chose übernimmt, kann er nur die Widersprüche eines im Kern todkranken Systems verwalten. Die staatlich induzierte Geldflut besteht offiziell in kurzfristigen Krediten an die Banken, die dafür in Gestalt von Gäubigerpapieren Sicherheiten hinterlegen müssen, die keine mehr sind. Die Finanzkrise wird damit nur hinausgeschoben und in der Folge auch die Staatsfinanzen erfassen, die für das Desaster gerade stehen sollen.

Die Hoffnung ist eitel, dass die Verwertungsmaschine nach den prekären Rettungsaktionen wieder anspringen wird. In der Marxschen Terminologie bestehen die verschiedenen Formen des Kredits in einem Vorgriff auf zukünftigen Mehrwert. Die reale Verwertung ist in einem säkularen Prozess immer abhängiger von diesem Vorgriff geworden, der sich unter den Bedingungen der 3. industriellen Revolution völlig überdehnt hat, weil keine ausreichende Mehrwertmasse mehr nachfolgt. Zusätzliche Arbeitskraft, etwa in Asien, wurde nicht durch reale Gewinne mobilisiert, sondern durch Finanzblasen. Deshalb ist der Rückschlag der Finanzkrise auf die reale Weltkonjunktur auch unter der Ägide eines verstaatlichten Finanzkapitals unvermeidlich. Natürlich wird diese Logik jetzt heruntergeredet, als wäre die Realökonomie relativ unabhängig von der Katastrophe im Finanzhimmel. Aber der Rückschlag wird gerade über das Kreditwesen in einer weitaus größeren Dimension kommen, als man wahrhaben will. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Gemeinde der Marktgläubigen den Staat  als „deus ex machina“ anrufen muss, dessen Bewältigungspotenz mehr als zweifelhaft ist.