Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in der Wochenzeitung „Freitag“
am 19.12.2008

Robert Kurz

ALLE BÄNDER STEHEN STILL

Warum die Autoindustrie ins Zentrum der Krise rückt

Während das Weihnachtsgeschäft noch einmal als eine Art Henkersmahlzeit läuft und in vielen Unternehmen die letzten Auftragsbestände abgearbeitet werden, hat der Einbruch der Weltwirtschaft die Autoindustrie bereits ins Herz getroffen. Weltweit schicken die Autokonzerne ihre Beschäftigten über die Feiertage hinaus in einen verlängerten Zwangsurlaub. Nicht nur in Sindelfingen, München und Eisenach ist Friedhofsruhe eingekehrt. Mit den Bändern steht die gesamte Just-in-time-Logistik still. In den USA, Europa und Asien liegen die Absatzverluste der verschiedenen Marken in den letzten beiden Monaten zwischen 10 und 50 Prozent. Staatliche Rettungsaktionen wie im Bankensektor, um die noch gefeilscht wird, können das Absatzdebakel schon nicht mehr auffangen und bestenfalls mittelfristig den Zusammenbruch der Bilanzen aufschieben.

Vorerst werden Überstunden des vergangenen Booms abgefeiert; aber schon für das erste Quartal 2009 ist durchwegs Kurzarbeit angemeldet. Mit der beschlossenen Verlängerung des Kurzarbeitergeldes signalisiert die Bundesregierung ihre Bereitschaft, die Autoindustrie zu subventionieren. Das könnte der erste Schritt in eine Teilverstaatlichung wie beim Finanzsektor sein; Präsident Sarkozy hat diese Möglichkeit für Frankreich bereits öffentlich ins Auge gefasst.

Optimistisch heißt es, man müsse differenzieren, denn zum Teil seien die Probleme in der Autoindustrie auch hausgemacht. Dabei werden an erster Stelle die „big three“ (General Motors, Chrysler und Ford) im Großraum Detroit genannt, die den Übergang zu spritsparenden Modellen verschlafen haben und nun in ein schwarzes Loch fallen. Die europäischen GM-Töchter Opel, Saab und Volvo drohen mitgerissen zu werden. Man hofft auf einen ganz normalen Strukturwandel hin zu schadstoffärmeren Autos, dem vielleicht einige Überkapazitäten des alten Spritfressertypus zum Opfer fallen. In dieser Hinsicht erscheinen die selektiven Staatshilfen für die großen US-Autokonzerne, die noch nicht in trockenen Tüchern sind, als „Wettbewerbsverzerrung“.

In Europa sind es die deutschen Nobelmarken Porsche, Daimler und BMW, denen ein Beharren auf PS-starken Prestigekutschen vorgeworfen wird, wie sie von den klamm gewordenen Neureichen in aller Welt plötzlich kaum mehr geordert werden. Deshalb gibt es in der EU ein nationales Gerangel um Klimaziele und Staatshilfen zwischen der deutschen PS-Aristokratie und den süd- bzw. westeuropäischen Kleinwagenproduzenten. Aber der Verweis auf einen Strukturwandel in der Autoindustrie ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn auch Fiat oder Renault haben Zwangsurlaub verordnet, auch die japanischen Autokonzerne arbeiten kurz.

Der Absatzeinbruch betrifft alle Marken und Modelle, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Das Auto ist ein besonders gewichtiges Konsumgut, dessen Kauf einer privaten Investitionsentscheidung gleichkommt. Autos kauft man nicht wie Brötchen, Hosen oder MP3-Player. Deshalb stürzt die Nachfrage in diesem Sektor bei einer sich anbahnenden Weltwirtschaftskrise zuerst ab. Wenn nicht nur die kleinen, sondern auch die mittleren und großen Geldeinkommen wegschmelzen, werden zunächst eben die alten Autos weitergefahren oder man bedient sich auf dem selber längst unter Überkapazitäten leidenden Gebrauchtwagenmarkt.

Gleichzeitig bildet aber die Autoindustrie einen zentralen Nervenpunkt des vernetzten realökonomischen Gesamtsystems. Daran hängen nicht nur die zahlreichen Zulieferbetriebe, sondern auch erhebliche Teile der Grundstoffindustrien wie Stahl und Chemie; ganz abgesehen von den sekundären Dienstleistungen aller Art an den jeweiligen Produktionsstandorten. Die Autonachfrage ist auf dem europäischen Binnenmarkt schon seit Jahren rückläufig und lebte nur noch vom Exportboom in die USA und die Schwellenländer. In dem Maße, wie nun die weltweite Nachfrage zum Stehen kommt, setzt zwangsläufig eine Kettenreaktion quer durch das gesamte Spektrum der Produktionskomponenten ein.

Es zeigt sich, dass die Autoindustrie nach wie vor eine Schlüsselstellung besetzt, die jetzt zum Katalysator der branchenübergreifenden Krise wird. Der Diskurs über einen „postindustriellen“ Kapitalismus hatte sich hauptsächlich vom Kredit- und Finanzblasen-Boom der letzten Jahrzehnte genährt, dem keine reale Wertschöpfung mehr entsprach. Damit wurde eine künstliche Nachfrage erzeugt, von der die Autokonzerne besonders profitieren konnten. Der Absatz wurde mit immer billigeren Kundenkrediten und Leasingverträgen gefördert. Aus den „Financial Services“ der Autokonzerne entstanden regelrechte Autobanken, zum Teil mit Vollbanklizenzen für allgemeine Kreditgeschäfte, bei denen womöglich auch noch einige Spekulationsleichen im Keller liegen. Auf jeden Fall ist die Refinanzierung der Autobanken aufgrund der Finanzkrise so teuer geworden, dass die Absatzförderung auch in den mittleren und unteren Segmenten zum Auslaufmodell wird. Viele Autohändler stehen bereits vor dem Ruin.

Dasselbe Bild bietet sich auf der anderen Seite bei der Finanzierung von Investitions- und Entwicklungskosten. Innerhalb eines Jahres sind die Risikoaufschläge für die Kreditvergabe der Geschäftsbanken an die Autokonzerne um das Zehnfache gestiegen. Jetzt wird eine Erhöhung der Produktivität von jährlich bis zu zehn Prozent durch teure Rationalisierungsinvestitionen zum Bumerang. Der Absatz müsste in derselben Größenordnung steigen, um Kapazität und Beschäftigung halten zu können. Mit dem Wegfall der Nachfrage sind nicht nur Werksschließungen programmiert. Auch die ständige Modell-Innovation kommt zum Stillstand. Der Rückzug von Honda aus der Formel 1 und die Finanzklemme der Rennsportabteilungen deuten die Grenzen der Entwicklungsfähigkeit an, die sich auch auf die projektierte Konstruktion von Elektroautos auswirken werden.

Schon hat VW für seine Autobank Staatsgarantien aus dem Rettungsfonds beantragt. Nicht nur die anderen Autobauer werden folgen, sondern auch die Banken der übrigen Industriekonzerne und der großen Handelsketten, sobald der Dominoeffekt der Krise durchschlägt. Umso mehr stellt sich die Frage, woher der Staat das Geld dafür nehmen soll, wenn der Absatz mit bloßen Bilanzhilfen nicht zu retten ist. Die Autoindustrie ist ins Zentrum einer Systemkrise gerückt, die keinem klassischen Konjunkturzyklus mehr folgt und auch nicht als „normaler“ Strukturwandel bezeichnet werden kann.