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EISZEIT FÜR KRITISCHE THEORIE?

Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT!

Zum Jahreswechsel ist es auf dem postmodernen Jahrmarkt der Eitelkeiten üblich,  den jeweils eigenen Laden in aller Bescheidenheit als Erfolgsgeschichte darzustellen und in Optimismus zu machen. Auch wenn es gar nicht stimmt, business as usual ist angesagt in allen gesellschaftlichen Bereichen. Theoretische Reflexion droht wieder einmal im allgemeinen Pragmatismus ersäuft zu werden, je mehr die Prekarisierung zum alltäglichen Lebenshintergrund geworden ist. Pragmatik im Sinne eines Probehandelns und eines offenen Verhältnisses zu den menschlichen Ressourcen wie zur Natur wäre freilich erst möglich, wenn das „eiserne Gehäuse“ der kapitalistischen „zweiten Natur“ durch eine gesamtgesellschaftliche Transformationsbewegung aufgesprengt wird. Solange davon nichts zu sehen ist, bedarf es einer Distanz kritischer Theorie zu allen immanenten Praxisformen. Der Pragmatismus ist als -Ismus schon immer eine Ideologie und verschränkt sich mit destruktiven und ausgrenzenden Verarbeitungsweisen der Krise, auch wenn er menschenfreundlich oder gar emanzipatorisch daherkommt.

Wenn in den Medien von einem „Linksruck“ die Rede ist, ob in Teilen der politischen Klasse hierzulande oder etwa in Lateinamerika, so hat das nichts mit einer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit kritischer Reflexion zu tun. Wesentliche Triebkraft des oberflächlichen Stimmungsschwenks ist nicht die weiter schwelende Weltkrise der 3. industriellen Revolution, sondern im Gegenteil die Illusion einer ökonomischen Stabilisierung, obwohl der vielbeschworene Aufschwung schon wieder bröckelt. Während panikartige Aktionen der Notenbanken das Ende der Defizitkonjunktur andeuten, wird diese hoffnungsvoll hochgerechnet zu einer langen Trägerwelle der Prosperität, die neue pragmatische Handlungsmöglichkeiten eröffnen soll. Das gesellschaftliche Bewusstsein möchte am liebsten irgendeinen Hauch sozialer Wärme spüren, ohne sich mit seinen kapitalistischen Konstitutionsbedingungen konfrontieren zu müssen. Aber außer Knut ist nichts gewesen.

Dass der Markt der Ideen von einer billigen Konzepthuberei überschwemmt wird, verweist nur auf zunehmende politische Legitimationsschwierigkeiten. Die offizielle Wirtschaftseuphorie steht in krassem Gegensatz zur praktischen Lebenserfahrung der Mehrheit, bei der kein Aufschwung angekommen ist. In dieser Situation entsteht eine gewisse ideologische Spannung zwischen dem Finanzblasen-Management und der demoskopisch abhängigen Politikerkaste. Der parteiübergreifende neoliberale Konsens verschwindet dabei nicht, sondern lädt sich umso mehr populistisch auf, je heftiger man sich gegenseitig des Populismus bezichtigt. In Aussicht gestellte Milderungen bei Hartz IV, die aber keinen Cent kosten dürfen, Kampagnen gegen jugendliche „Ausländerkriminalität“, Appelle an das „schaffende“ Kapital und wohlfeile Kritik an „überhöhten Managergehältern“ jagen sich gegenseitig den Rang ab. Andererseits soll die Klimadebatte samt Grönland-Tourismus der Kanzlerin ökologisches Problembewusstsein suggerieren. Es fehlt nicht viel, und nach Heiner Geissler treten die Partei- und Regierungsmoralisten scharenweise Attac oder Greenpeace bei, um gleichzeitig die überhöhten Abgaswerte der protzigen deutschen Autoindustrie gegen die europäische Kleinwagen-Konkurrenz zu verteidigen.

Adressat sind im Grunde die vom Absturz bedrohten Mittelschichten, die gerade in der Prekarisierung ihre „neue Bürgerlichkeit“ zelebrieren möchten und nach gehobenem Öko-Food gieren, während die Lage der bereits voll Deklassierten auf schlechte Ernährungsgewohnheiten und mangelnde Erziehung zurückgeführt wird. Dazu passen die selektiven Gebärprämien einer Familienministerin, die das drohende biologische Aussterben der deutschen Mittelschicht umtreibt; im Gegenzug will man die bekanntlich kindermordenden Unterschichtsfrauen an die staatliche Kandare nehmen, obwohl die Mittel der Jugendämter weiter zusammengestrichen werden. Und je haarsträubender die Widersprüche klaffen, desto lauter ertönt der Appell an den „Bürgersinn“, um mitten in der zusammenphantasierten Prosperität die sich voranfressenden „gesellschaftlichen Naturkatastrophen“ pragmatisch zu bewältigen.

Die Gründung der Linkspartei bildet keinen Kontrapunkt zu diesem seltsamen „Linksruck“, sondern sie ist dessen integraler Bestandteil; nicht nur hinsichtlich der wieder aufgewärmten Illusion vom politisch-demokratischen Dienstweg. Der Parteimarxismus ist Geschichte, der „Marsch durch die Institutionen“ längst gescheitert. Pate stand nicht eine Erneuerung der Marxschen Theorie, sondern eine bestenfalls keynesianische Linkspragmatik, wie sie theoretisch bei den Restbeständen der Traditionslinken ebenso wie in der globalisierungskritischen Bewegung grassiert. Aber der Populismus des Lafontaine-Flügels fällt selbst noch hinter die bürgerliche VWL-Theorie von Keynes zurück. Die linksnationalistische Orientierung dieser dominierenden Position geht einher mit einem unheimlichen „Internationalismus“, der die alten Parolen auf die unheilige antiamerikanische Allianz des caudillistischen Öl-Regimes eines Chavez mit dem antisemitischen Mullah-Regime im Iran auszurichten sucht. Für kritische Theorie kann es nicht auf der Agenda stehen, in solchen Zusammenhängen nach einem Nährboden zu schnüffeln und auf die 12-Prozent-Fleischtöpfe zu schielen.

Auch die Bewegungslinke erweckt keine Frühlingsgefühle für kritische Theoriebildung, ganz im Gegenteil. Nach Heiligendamm wird die Erschöpfung einer bloß symbolischen Protestkultur deutlich. Je mehr die Erinnerung an die radikale Kritik der politischen Ökonomie verblasst ist, desto offener sind auch die Protestbewegungen für Ideologeme der verkürzten Kapitalismuskritik geworden, an die rechtspopulistische Querfrontstrategien anknüpfen. Solange dieser Zusammenhang nicht offengelegt und stattdessen der strukturelle Antisemitismus eines Affronts gegen das „parasitäre“ Finanz- und Informationskapital als „unschuldig“ gedeckt wird, nützt die Alibi-Distanzierung von offen antisemitischen „Entgleisungen“ nichts.

Erkenntnistheoretische Grundlage solcher Haltungen ist ein „Bewegungspragmatismus“, wie er etwa in der postoperaistischen Subjektivierung der kapitalistischen Fetischverhältnisse angelegt ist, deren Kehrseite die ideologiekritische Entwaffnung bildet. Nachdem in dieser Hinsicht eine Zeitlang das offiziell staatsferne Trial-and-Error-Prinzip der mexikanischen Zapatistas als Paradigma einer im Kern theoriefeindlichen Romantik gedient hatte, scheint sich nun eine neo-etatistische Umorientierung eines Teils der Bewegungslinken anzudeuten. Der postmoderne Differenz-Leninismus setzt wieder mehr auf die Staatlichkeit des lateinamerikanischen „Linksrucks“ á la Chavez und möchte auch hierzulande die parlamentarische Parteipolitik in die unverbindliche „Vielfalt“ der Ansätze eingemeinden, um sich endgültig gegen theoretische Reflexion zu immunisieren.

Der Frankfurter „No-way-out“-Kongress im Dezember machte seinem Namen alle Ehre, indem er die inhaltlichen Widersprüche nicht thematisieren, sondern erst recht in die Bewegungspragmatik auflösen wollte. Der Jahreszeit entsprechend kam so kaum mehr als eine Art Christkindlesmarkt des linken Pluralismus heraus. „Wegweisend“ war die Veranstaltung offenbar bloß insofern, als die Kritik des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses im offiziellen Programm nur noch als Schrumpfversion auftauchte und damit das Scheitern des Feminismus in der Bewegungslinken dokumentiert wurde. Der theoretisch abgerüstete androzentrische Universalismus des hausfrauisierten Mittelschichts-Mannes scheint das Maß aller Dinge zu sein.

In diesem Ambiente musste natürlich auch eine hemmungslos gemäßigte Ramsch-„Wertkritik“ mitschwimmen, um dem unterbelichteten Teil des Publikums zu verkünden, wie man sich im eigenen Szene-Mief ein Stück weit zum „neuen Mann-Menschen“ hochzüchtet. Wenn die theoretische Schärfe der Subjektkritik nur ein wenig durch stumpfen Pragmatismus gemildert wird, so die Botschaft, dann bewegt man sich zumindest mit dem Hintern fast schon „jenseits der Warenform“. Nachdem dabei die Umsonstläden und alternativen Fahrrad-Werkstätten anscheinend ein wenig an Reiz verloren haben, soll jetzt eine virtuelle „Peer-Ökonomie“ die beschäftigungstherapeutischen Bedürfnisse der kleinen Sozialbastler befriedigen. Ein Beitrag zur Erneuerung radikaler Kritik ist das zwar höchstens in dem Sinne, wie eine Viererbob-Crew aus Jamaika auch einmal an den olympischen Winterspielen teilgenommen hat. Aber die „wertkritisch“ angehauchten Mittelschichts-Sprösslinge stehen nun einmal auf anspruchslose Unterhaltung. Und weil in diesem Rahmen der Pluralismus höchst dehnbar ist, durfte 2007 im „Bravo“-Magazin der Wiener Billig-Wertkritik auch das höchst pragmatische Räsonnement über die existentiellen Sorgen islamistischer Selbstmordattentäter zu Wort kommen, deren Motive bekanntlich vor allem in der hohen Kindersterblichkeit des Nahen Ostens zu suchen sind. Nun, wenn es denn der Erhöhung der notleidenden Abo-Zahlen dient...

Eine neue Eiszeit also für die wert-abspaltungskritische Theoriebildung von EXIT!, weil diese ein unversöhnlicher Feind des falschen Pragmatismus sein muss, der die Reflexion stets instrumentell und legitimationsideologisch verbiegt? Die berühmte Vermittlung von theoretischer Kritik und praktischer Umwälzung kann einzig dort einsetzen, wo sich eine gesamtgesellschaftliche soziale Bewegung mit realer Eingriffsmacht gegen die Krisenverwaltung formiert. Die Klassenkampf-Ideologie ist nicht deswegen zu kritisieren, weil sie den sozialen Kampf propagiert, sondern weil sie anachronistisch in Arbeitsontologie, Wertform und geschlechtlichem Abspaltungsverhältnis befangen bleibt. Die Parole „Entkoppelt euch!“ wird zur hohlen Phrase, wenn sie die Not zur Tugend macht, um sich an der negativen Vergesellschaftung vorbei in die Büsche alternativ-ökonomischer Inseln zu schlagen, die nicht umsonst zunehmend im „Second Life“ des virtuellen Raums angesiedelt sind.

Es ist nicht der Beruf kritischer Theorie, die Leute „dort abzuholen, wo sie sind“. Das ist der Beruf des pragmatischen Politikastertums und der Populisten, und sei es in „antipolitischer“ Camouflage. Solange die Schwelle des realen Widerstands und der gesamtgesellschaftlichen Konfrontation nicht erreicht ist, kann die wert-abspaltungskritische Theorie nur die aufflackernden sozialen Konflikte der immanenten Widerspruchsbearbeitung analytisch und ideologiekritisch begleiten, ohne sich die begriffliche Distanz ausreden zu lassen. Der Beitrag theoretischer Praxis zur Umwälzung der Verhältnisse besteht vor allem darin, unbeirrt auf ihrem eigenen Terrain die neue Kapitalismuskritik und damit die „Begriffszertrümmerung“ der noch lange nicht erledigten alten Paradigmen weiterzuentwickeln.

Der Appell, ein solches Programm materiell zu unterstützen, mag am Mainstream des Bewegungspragmatismus vorbeigehen. Trotzdem wissen wir, dass es einige Leute gibt, die daran interessiert sind, dass die Stimme von EXIT! nicht verstummt. Für Seminare, Arbeitstreffen und publizistische Vorhaben benötigen wir dringend weitere finanzielle Mittel. Deshalb die Aufforderung an die InteressentInnen, auch 2008 etwas für dieses Projekt zu tun, ob aktiv oder passiv. Die Möglichkeiten sind dieselben wie immer.

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