Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in der Wochenzeitung „Freitag“
am 23.01.2009

Robert Kurz

BEI EXPLOSION BITTE HANDBREMSE ZIEHEN

Die surrealen Konzepte der Finanzpolitik in der Krise

Die Debatte über die Staatsverschuldung ist ein finanzpolitischer Evergreen. Selbsternannte Apostel der Seriosität bemühen gern das Bild vom sparsamen Hausvater, der künftige Generationen nicht unzumutbar belastet. Aus der kapitalistischen Vergesellschaftung ergeben sich aber staatliche Aufgaben, die mit den laufenden Steuereinnahmen nicht zu finanzieren sind. Dieser Widerspruch hat seine Geschichte; faktisch ist in den letzten 100 Jahren zusammen mit der Staatsquote die Verschuldung der öffentlichen Hände trotz gelegentlicher Unterbrechungen auf ein immer höheres Niveau angestiegen. Die parteiübergreifende neoliberale Doktrin wollte den staatlichen Hausvater im Prinzip auf einen ausgeglichenen Haushalt verpflichten, um die inflationäre Potenz auf Kosten der öffentlichen Daseinsvorsorge in Schach zu halten. Jetzt ist eine veritable Weltwirtschaftskrise dazwischengekommen. Und schon sieht alles anders aus, weil es um die Rettung des Finanz- und Wirtschaftssystems geht.

Finanzminister Steinbrück gehört eigentlich zu den Hardlinern der Haushaltskonsolidierung in der SPD. Noch im Frühjahr 2008 wollte er unter dem Eindruck der gerade heißlaufenden Exportkonjunktur im Grundgesetz eine „Schuldenbremse“ einbauen. Steuerliche Mehreinnahmen sollten zwingend für die Schuldentilgung eingesetzt werden. Das ist jetzt natürlich Makulatur. Dass bei den Rettungs- und Konjunkturpaketen die Milliarde die kleinste Einheit bildet, verweist auf die beispiellose Problemdimension. In dieser Lage nimmt die finanzpolitische Auseinandersetzung geradezu surreale Züge an. FDP-Chef Westerwelle hat das zweite Konjunkturpaket als „Currywurst mit Mayo ohne Pommes“ verspottet, weil nach seiner Rechnung beim einzelnen Bürger gerade mal 3,10 Euro monatlich ankommen. Aber sogar diese Wurst ohne Pommes kostet bereits 50 Milliarden Euro.

Obwohl das Abschmelzen der Steuereinnahmen durch den weltkonjunkturellen Einbruch noch gar nicht durchgerechnet ist, preisen FDP und CSU eine generelle Steuersenkung als Patentrezept an. Allein das könnte schon auf einen Crash der Staatsfinanzen hinauslaufen; die öffentliche Tätigkeit müsste geradezu stillgelegt werden. Aber eine Regeneration der Privatwirtschaft wäre damit keineswegs garantiert, weil die Summe der Entlastung eher in die Sparstrümpfe fließen würde. Umgekehrt haben die Unionsparteien eine Forderung der SPD abgeschmettert, den Spitzensteuersatz für zwei Jahre von 45 auf 47,5 Prozent zu erhöhen, um die Mehrbelastung finanzieren zu können. Wie man es auch dreht und wendet: Die Konjunkturpakete sind zu klein und trotzdem schon zu teuer. Die Steuern müssten gleichzeitig erhöht und gesenkt werden, was selbst ausgefuchsten Bilanzjongleuren der Staatsfinanzen schwer fallen dürfte.

Das Gezerre um die Steuerpolitik leidet unter Realitätsverlust. Ein Drehen an der Steuerschraube, egal in welche Richtung, geht unter den neuen Krisenbedingungen ins Leere. Selbst die schwache Dosis der Konjunkturspritze ist nicht mehr „seriös“ zu finanzieren. Dabei hat das Feilschen um Abwrackprämien für Altautos oder eine vorübergehende Senkung der Krankenkassenbeiträge fast schon die Rettungspakete für das Bankensystem in Vergessenheit geraten lassen, deren Fälligkeit völlig unklar ist. Wenn der Staat hier nicht mehr als abstrakte Garantie-Instanz fungieren kann, sondern auch nur einen Teil der eingegangenen Verpflichtungen realisieren muss, sind die Konjunkturpakete vergleichsweise Peanuts. Tatsächlich hat eine Umfrage von Bundesbank und Bankenaufsicht (BaFin) unter 20 großen Kreditinstituten ergeben, dass im Keller des deutschen Bankensystems weitere Abschreibungsleichen in der Größenordnung von rund einer Billion Euro liegen.

Schon jetzt ist klar, dass 2009 für den Bund die höchste Neuverschuldung der Nachkriegsgeschichte bringen wird. Die Kriterien des als „Stabilitätspakt“ firmierenden Maastricht-Vertrags, der die maximal erlaubte Neuverschuldung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt, können nicht mehr eingehalten werden, zumal ja gleichzeitig das Wachstum abstürzt. Zwar gilt das für alle EU-Staaten, aber das ist kein Trost. Um der katastrophalen Realität nicht mehr ins Auge sehen zu müssen, hat sich Steinbrück letzte Woche auf eine Zeitreise begeben; und zwar in die Jahre „nach der Krise“. In dieser finanzpolitisch erbaulichen Zukunft sollen die dann angeblich zu erwartenden Mehreinnahmen ausschließlich einer Rückzahlung der aktuellen Mammutkredite dienen. Entsprechend strenge Tilgungsregeln will die Bundesregierung noch Ende Januar festlegen; auch Steinbrücks Vorschlag einer Verfassungsänderung in diesem Sinne wird wieder ins Gespräch gebracht.

Diese aparte Idee eines Ausweichens in den völlig imaginären Aufschwung jenseits der Krise, die dem Finanzminister sein neoliberales Überich eingegeben haben muss, stößt in seiner eigenen Partei auf wenig Gegenliebe. Berlins regierender Bürgermeister Wowereit erregte sich über die „abstruse Vorstellung“ einer „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, während allein die bisherigen Maßnahmen einen dauerhaft erhöhten Schuldendienst bedingen. In der Tat gleicht Steinbrücks Zielsetzung dem Vorschlag, die Handbremse zu ziehen, wenn der Wagen in die Luft fliegt. Und eine Explosion der Staatsschulden ist zu erwarten, weil eine Weltwirtschaftskrise im Unterschied zu gewöhnlichen Rezessionen ein Langzeitproblem mit offenem Ausgang darstellt. Bislang hat der Staat den universellen Retter in Absichtserklärungen nur gemimt. In dem Maße, wie er seine monumentalen Eingriffe wirklich finanzieren muss, wird sich die derzeitige Konzepthuberei als Gespensterdebatte erweisen. Alle haben recht; aber nur mit ihrer Warnung, dass die Argumente der Gegenseite nichts taugen. Dieser Sachverhalt ist ein Indiz dafür, dass wir es mit einer ausgewachsenen Systemkrise zu tun haben. Schlechte Zeiten für sparsame Hausväter des Kapitalismus.