Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen in der Printausgabe
der Wochenzeitung „Freitag“
am 12.06.2009

Robert Kurz

DIE STUNDE DER WAHRHEIT

Konturen eines sozialen Notstandsprogramms nach der Bundestagswahl

Eine Gesellschaftsordnung säuft nie ab, bevor sie nicht die letzten Reserven ihres offiziellen Optimismus verbraucht hat. Obwohl die Krise nun allgemein als „historisch“ bezeichnet wird, gilt sie trotzdem weiterhin als eine bloß zyklische, die schon bald überwunden sein könnte. Dieses Szenario bedient auch die Europäische Zentralbank (EZB), die ab Mitte 2010 eine Erholung erwartet. Allerdings betonte EZB-Präsident Trichet, man dürfe sich „nicht auf Prognosen versteifen“. Der Optimismus steht in der Tat auf töneren Füßen; er stützt sich allein auf die Hoffnung, dass die staatlichen Konjunkturprogramme ein neues selbsttragendes Wachstum in Sichtweite anschieben. Sehr viel wahrscheinlicher ist aber, dass die globale Kettenreaktion der Krise erst begonnen hat. Insbesondere das Ende des pazifischen Defizitkreislaufs zwischen den USA und Asien hat noch gar nicht voll auf die Weltwirtschaft durchgeschlagen. Wenn die staatlichen Programme nichts anschieben, sondern auf unabsehbare Zeit immer größere Löcher stopfen müssen, wird die Stunde der Wahrheit umso bitterer. Ist der Kapitalismus überhaupt noch finanzierbar? Das paradoxe Scheitern dieser Gesellschaft an ihren eigenen Kriterien ist möglich geworden.

Selbst im günstigsten Fall eines Übergangs vom Absturz in die Stagnation binnen Jahresfrist müssen die sozialen Folgen abgearbeitet und bezahlt werden. Dass die Arbeitslosenstatistik frisiert ist, weiß jeder. Gegenwärtig fällt aus der Statistik der BRD, wer als Arbeitsloser in Schulungsmaßnahmen parkt, von kommerziellen Vermittlungsagenturen betreut wird oder schlicht krank geschrieben ist. Die statistisch gezählten 3,4 Millionen Arbeitslosen summieren sich real auf 5 bis 6 Millionen. Auch wenn die Konjunktur nicht noch weiter abstürzt, sind bis Mitte 2010 nach der jetzigen Zählmethode mindestens 5 Millionen Arbeitslose zu erwarten, also real mehr als 7 Millionen. Noch mehr frisieren geht nicht, denn auf einer Glatze kann man keine Locken drehen. Ein derart rapider Anstieg der Arbeitslosigkeit rüttelt an den Grundlagen der bereits zurückgefahrenen sozialen Sicherungssysteme. Die Einnahmeausfälle der Arbeitsagentur, der Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung in den kommenden Monaten drohen alle Defizitgrenzen zu sprengen. Auch das ist „historisch“.

Schlagen schon die diversen Rettungspakete und Rettungsaktionen ebenso zu Buche wie die vermutlich nicht ausreichenden Konjunkturprogramme, so werden die Ausfälle bei den Sozialkassen zu einer Defizitlawine, deren Dimension die noch gar nicht abbezahlten Kosten der deutschen Vereinigung übersteigt. Im Unterschied zu den Zeiten der Finanzblasen-Konjunktur brechen jetzt aber gleichzeitig die Steuereinnahmen in demselben Tempo weg, wie die Kosten der Krise explodieren; auch dieser Ausfall steht großenteils noch bevor. Die demnächst vom Bundesrat zu verabschiedende Verankerung einer „Schuldenbremse“ im Grundgesetz ist ein finanzpolitisches Phantasma, das die gelungene Krisenbewältigung bereits blauäugig voraussetzt. Aber es ist auch ein Signal für die weitere Verlaufsform des Desasters. In der politischen Klasse besteht wohl momentan darin Einigkeit, dass die Notenpresse nur in dem Maße angeworfen werden darf, wie sich die Inflation als unvermeidliche Folge einer Verstaatlichung der Krise ohne Systembruch einigermaßen beherrschen lässt. Deshalb ist eine dramatisch verschärfte soziale Notstandsverwaltung programmiert, die den Kollaps der Staatsfinanzen hinausschieben soll. Diese Stunde der Wahrheit kann aber erst nach der Wahl im Herbst eingeläutet werden; und bis dahin ist es ein Wettlauf der Demoskopie mit der Zeit.

Am kommenden Notstandsprogramm wird in den Ministerialbürokratien sicherlich bereits unter dem Siegel „streng geheim“ mit heißer Nadel gestrickt. Die Konturen sind leicht zu erahnen. Man muss nur die bisherigen Maßnahmen auf die neue Krisendimension hochrechnen. Das erste Szenario könnte in einer drastischen Erhöhung der Mehrwertsteuer ohne Ausnahmeregelungen bestehen; vielleicht sogar mittels einer europaweit konzertierten Aktion der Regierungen. Das ist die am wenigsten geräuschvolle Methode eines Drucks auf die unteren Einkommen, auch wenn damit allein die Staatsfinanzen nicht zu sanieren sind und die Binnenkonjunktur weiter abgewürgt wird. Aber es geht ohnehin nur um hinhaltende Verzögerungstaktiken, die sich in Widersprüchen bewegen müssen. Das zweite Szenario könnte in einem ebenso drastischen Zusammenstreichen sämtlicher Transfereinkommen bestehen, um die Sozialkassen zu entlasten und die staatlichen Zuschüsse in einem irgendwie bewältigbaren Rahmen zu halten. Also Kürzung der Renten, des Arbeitslosengeldes, der Hartz-IV-Bezüge und (noch weit härter als bisher) der gesetzlichen medizinischen Versorgung. Durch beide Szenarios, die einander ergänzen, wird das Existenzminimum neu definiert, und zwar in einem bisher nicht vorstellbaren Ausmaß nach unten.

Der zu erwartende Protest kann nicht allein durch den Gewaltapparat erstickt werden, obwohl dieser für den Fall der Fälle bereit steht. Es bedarf einer ideologischen Legitimation, mit deren Hilfe bei den Streichorgien neue soziale Differenzlinien eingezogen werden, um wenigstens die verarmende Mittelschicht bei der Stange zu halten. So wäre es denkbar, gemäß einem „Abstandsgebot“ das Arbeitslosengeld weniger stark zu kürzen als die Hartz-IV-Bezüge und es gleichzeitig ein bisschen zu verlängern. Ebenso könnten diejenigen Renten, die bei der Kürzung unter einen Mindestbetrag fallen, aus der Rentenkasse ausgelagert und dem seinerseits nach unten korrigierten Hartz-IV-System zugeschlagen werden. Nach der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wäre das der letzte Schritt, um eine vereinheitlichte Paria-Schicht als unterste soziale Kategorie zu schaffen, die auf Obdachlosen-Niveau gesetzt wird und in ihren Ausmaßen halbwegs beherrschbar bleiben soll.

So ließe sich der neue „Finanzmarkt-Sozialismus“ aufs schönste verbinden mit einem neuen Suppenküchen-Sozialismus, der die ausgesteuerten Parias gerade noch am Verhungern hindert und sie im übrigen für die ehrenamtliche Betreuung durch die restlichen Gutmenschen freigibt. Das Notstandsprogramm wird vermutlich in professionellen Kampagnen als eine Art Solidarität in der gesellschaftlichen Naturkatastrophe verkauft. Solche Zustände als schicksalhaft hinzunehmen, setzt allerdings die Konkurrenz zwischen Armut und Elend voraus. Wer vorerst bloß arm gemacht wird, soll sich mit Blick auf die neue Lazarus-Schicht sagen müssen: „Ganz so schlimm steht es für mich noch nicht – und so weit darf es mit mir auch nie kommen“. Fraglich ist nur, ob das Notstandsprogramm der nächsten Regierung überhaupt ausreichenden Spielraum gibt, die auch im günstigsten Fall unvermeidliche Krise der Staatsfinanzen bis auf weiteres auszusitzen und auf bessere Zeiten zu warten. Das gilt auch für den Teil der verarmenden Mittelschicht, der darauf hofft, mit Ersparnissen und Erbschaften vorläufig durchhalten zu können. Sollte die Krise doch tiefer gehen, als man bis jetzt glauben möchte, werden diese Puffer bald abgenutzt sein. Die zweite große Frage ist natürlich, bis zu welchem Grad sich der soziale Masochismus von mittellosen Objekten der Notstandsverwaltung in Deutschland und Europa ohne massive Gegenwehr ausreizen lässt. Auch in dieser Hinsicht schlägt im kommenden Jahr die Stunde der Wahrheit.