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Robert Kurz

DEN KAPITALISMUS GESUNDPFLEGEN?

Die Linke und der historische Finanzkrach

 

Die Geschichte bringt immer wieder eine böse Ironie hervor, die darauf beruht, dass diese Geschichte laut Marx von den Menschen zwar selber, aber nicht mit Bewusstsein gemacht wird. Die Ironie der aktuellen Krise besteht in einer eigenartigen Verkehrung. Während die Linke nach dem Epochenbruch von 1989 den Kapitalismus auf der historischen Siegerstraße sah, großenteils in den nun einmal gegebenen Verhältnissen „ankommen“ wollte und sich daran gewöhnte, das „finanzgetriebene Wachstum“ für bare Münze zu nehmen, kippt nun ausgerechnet das Kapitalverhältnis selbst über Nacht um in eine desperate Widerspruchsbearbeitung, die mit hysterischem Kichern als „Finanzmarkt-Sozialismus“ oder gar als „Wallstreet-Kommunismus“ bezeichnet wird. Obwohl die Kredit- und Finanzblasen-Ökonomie von der akademischen Wissenschaft als tragfähiges neues Gesetz der Ökonomie dargestellt und von der Deregulierungspolitik der herrschenden Institutionen selber auf den Weg gebracht worden war, gilt sie plötzlich denselben Eliten als „Exzess“ und als Ausdruck der „Gier“. Der Katzenjammer ruft wieder den Staat als letzte Instanz und vermeintlichen deus es machina auf den Plan.

Ein erheblicher Teil der akademischen Linken und der globalisierungskritischen Bewegung fühlt sich durch diese abrupte Wende bestätigt und stimmt in die geforderte Re-Regulierung der Finanzmärkte ein. Eine Differenz wird nur in der Hinsicht geltend gemacht, dass die erneuerte Staatsintervention in soziale Bahnen gelenkt werden soll. Diese schwache Option hat mit einer Kritik zu kämpfen, von der die Erklärung des Desasters aus der „Gier“ der Spekulanten und Banker als verkürzt und anschlussfähig für antisemitische Deutungsmuster zurückgewiesen wird. Obwohl diese Kritik inzwischen fast ausgeleiert ist, trifft sie ein tief sitzendes volksdämliches Vorurteil, das auch in der Bewegungsideologie etwa mit dem Slogan „Schließt das Spielkasino“ (Attac) weiter schwelt. Zu kritisieren ist allerdings erst recht der ökonomische Begründungszusammenhang, der inzwischen allgemein geworden ist. Danach hat sich das Drama hauptsächlich im entkoppelten Finanzhimmel abgespielt und müsste nur in seinen Rückwirkungen auf die an sich reproduktionsfähige Realwirtschaft gedämpft werden. Greifen die staatlichen Rettungspakete und Konjunkturprogramme, so die Hoffnung, dann wäre eine Rückkehr zu sozialverträglichen Arbeitsplatz-Investitionen möglich. Wie vor 20 Jahren der Staatssozialimus, so wird nun die neoliberale Finanzblasen-Ökonomie als bloßer „Irrtum“ erlebt, der zu korrigieren wäre.

Dieses Programm rechnet nicht mit der Verschränkung von Kreditsystem und sogenannter Realwirtschaft. Schon die säkulare Expansion des Kredits beruhte auf einem inneren Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise. Mit zunehmender Produktivkraftentwicklung erhöhte sich der Anteil des Sachkapitals und damit der „toten“ Vorauskosten, die nicht mehr aus der laufenden realen Mehrwertproduktion finanziert werden konnten. Der Vorgriff auf zukünftigen Mehrwert in Form des Kredits musste immer weiter hinausgeschoben werden. In der dritten industriellen Revolution hat sich seit den 80er Jahren der Knoten dieses Widerspruchs geschürzt. Die Aushöhlung der realen Mehrwertproduktion durch die neue Qualität der Wegrationalisierung von Arbeitskraft konnte nicht mehr kompensiert werden. Als die Kreditketten zu reißen drohten, ging das Kapital in eine substanzlose Virtualität über, die sich nur noch aus den Differenzgewinnen in der Zirkulation von Finanztiteln nährte; ablesbar am historisch beispiellosen Abheben der Aktien- und Immobilienmärkte. Insofern war die neoliberale Finanzblasen-Ökonomie kein „Irrtum“, sondern die einzig mögliche Reaktion auf die innere Schranke der realen Mehrwertproduktion.

Die Scheinakkumulation des Kapitals spielte sich aber nicht bloß im Finanzüberbau ab. Mangels neuer realer Verwertungspotentiale wurde aus den Finanzblasen substanzlose Kaufkraft für Investitionen und Konsum in die Weltwirtschaft eingespeist. Die auf diese Weise künstlich ernährten Defizitkonjunkturen, zuletzt von 2003 bis zum Frühjahr 2008, erzeugten den Anschein einer gelingenden realen Verwertung und Mobilisierung abstrakter Arbeit. Der pazifische Defizitkreislauf nahm die Weltwirtschaft unter Einschluss der deutschen Exportwalze mit und suggerierte den Aufstieg Chinas und Indiens. Jetzt verdampft die ganze Herrlichkeit unter unseren Augen schubweise; ein Prozess, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Der globale Finanzcrash hat nur enthüllt, dass die vermeintlich reale Weltkonjunktur längst von der Finanzblasen-Ökonomie abhängig geworden ist. Deshalb resultiert die neue Weltwirtschaftskrise auch nicht aus einer bloßen Rückwirkung von Finanzexzessen, sondern aus der inneren Schranke der realen Mehrwertproduktion selbst, die jetzt manifest wird und von der Finanzblasen-Ökonomie nur zeitweilig hinausgeschoben wurde.

So gesehen stellt die aktuelle Regulierungsphantasie in allen politisch-ideologischen Lagern die Verhältnisse auf den Kopf. Der Staat kann gar nichts mehr regulieren, sondern muss die erlahmte Realakkumulation schlicht ersetzen. Rettungspakete und Konjunkturprogramme zünden keinen Anschub; sie werden notgedrungen auf Dauer gestellt. An die Stelle der Finanzblasen treten der explodierende Staatskredit und die Notenpresse. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass dieses Substitut realer Mehrwertproduktion nach einer mittelfristigen Inkubationszeit auf die galoppierende globale Inflation hinausläuft. Deshalb kann die neue Staatsorientierung gar nicht in soziale Bahnen gelenkt werden. Absehbar ist vielmehr, dass sich im Namen der desperaten Krisenbewältigung die soziale Notstandsverwaltung dramatisch verschärft. Egal welche Regierungskoalition am Ruder ist, sie kann nur die Verlaufsform einer Krise der Staatsfinanzen modulieren, die ebenso historisch ist wie die Krise der Finanzmärkte und der Weltkonjunktur. Die Absenkung aller Transfereinkommen unter das Existenzminimum und die endgültige Liquidierung der öffentlichen Daseinsvorsorge wird zur unausweichlichen Konsequenz der systemischen Krisenbedingungen, die von der Politik nur exekutiert werden können, weil das Kapitalverhältnis nun einmal ihre Voraussetzung bildet.

Eine Linke, die sich auf die Regulierungsphantasie einlässt, ist zu einer Option verurteilt, die den Kapitalismus gesundpflegen will. Das wäre allerdings nur die Ratifizierung einer Kapitulation, die in der Nachkriegsentwicklung und spätestens seit dem Untergang des Staatssozialismus längst vollzogen worden ist. Das sozialistische Ziel wurde nicht neu formuliert, sondern verdunkelt und in keynesianische Versatzstücke aufgelöst. Ironischerweise können die linken Pflegekräfte jetzt nur noch Sterbebeistand leisten. Dieses Händchenhalten ist allerdings identisch mit einer begleitenden Mitverwaltung der zu erwartenden Notstandsmaßnahmen, denen die Illusion einer sozialen „Gestaltung“ (ohnehin ein Unwort) nicht standhalten kann. Die Beteiligung linker Parteien an Regierungskoalitionen hat bereits einen Vorgeschmack geliefert. Der Kapitalismus ist nicht zu „gestalten“, sondern abzuschaffen. Hätte die Linke einen Sinn für historische Ironien, müsste sie die Verkehrung der Positionen nachvollziehen und im Zeichen des staatlichen „Finanzmarkt-Sozialismus“ umgekehrt ihre traditionelle Staatsorientierung aufgeben. Diese Befangenheit in der kapitalistischen Kategorie „Staat“ zog sowohl in der starken Version (staatskapitalistischer „Arbeiterstaat“) als auch in der schwachen Version (regulierender keynesianischer „Wohlfahrtsstaat“) immer die Selbstvergatterung auf die Daseinsbedingungen einer selbstzweckhaften „Verwertung des Werts“ nach sich, die nun an objektive historische Grenzen stoßen.

Die auf falschen Voraussetzungen beruhende neoliberale Staatskritik, deren kapitalistische Unhaltbarkeit sich enthüllt, wäre zu kontern mit einer radikal emanzipatorischen Staatskritik. Wenn der Markt zusammenbricht und die blinde Dynamik des Kapitals die Lebensbedürfnisse unterpflügt, steht nicht deren Delegation an den Notstandsstaat auf der Tagesordnung, zu deren Erfüllungsgehilfen sich auch noch sogenannte Bewegungsorganisationen machen. Auch die linken Regulierungsphantasien implizieren eine „Veranwortung für den Kapitalismus“. Stattdessen muss sich eine transnationale soziale Gegenbewegung konstituieren, die dem Kapitalverhältnis gegenüber bewusst „verantwortungslos“ ist. Das bedeutet, gerade in der Krise immanente Forderungen zu erheben (etwa ausreichend hohe gesetzliche Mindestlöhne, Erhöhung der Transfereinkommen, Ausbau statt Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge), deren Durchsetzung nicht mehr dem politischen Dienstweg folgt, sondern eine eigene polizeiwidrige Eingriffsmacht entwickelt. Wenn sowieso die Inflation kommt und die Lebensbedürfnisse nach herrschenden Kriterien „unfinanzierbar“ werden, braucht sich eine soziale Gegenbewegung nicht mehr auf die Milchmädchenrechnungen des Finanzierbarkeitsterrors einzulassen. Das setzt allerdings den transitorischen Charakter einer solchen Bewegung voraus, der auf die Übernahme der „ganzen Bäckerei“ zielt und erstmals ein sozialistisches Ziel gesellschaftlicher Planung jenseits der Logik von abstrakter Arbeit und Verwertung auf die historische Tagesordnung setzt.