Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen am 22.10.2009 in leicht gekürzter Form
in der Printausgabe der Wochenzeitung „Freitag“;
verfasst kurz vor Abschluss des schwarz-gelben Koalitionsvertrags

Robert Kurz

MÜNCHHAUSEN ALS KASSENWART

Schwarz-Gelb schnürt schon vor dem Start eine Mogelpackung

Wahlversprechungen nimmt normalerweise sowieso niemand ganz ernst. Aber so weit aus dem Fenster gehängt wie Westerwelle hat sich schon lang keiner mehr. Selten saß deshalb eine neue Regierungskoalition so tief in der Glaubwürdigkeitsfalle wie diese. Die Wahl wurde gewonnen durch den Vertrauensvorschuss der verunsicherten Mittelschichten, dass die Kapitalismus-Kompetenz von Schwarz-Gelb die Krise schnell vergessen machen könnte. Die große Steuersenkung als Aufschwungversprechen fand Anklang bei einer Mehrheits-Mentalität, die den individuellen Geldbeutel als oberste Instanz betrachtet und keine gesellschaftlichen Probleme kennen mag. Funktionieren sollte das Patentrezept nach dem Muster des Lügenbarons Münchhausen, der sich bekanntlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen haben will. Mehr Netto vom Brutto würde den Konsum und eine weitere Unternehmenssteuersenkung die Investitionen auf Touren bringen, so tönten Westerwelle, Seehofer und auch Merkel vor der Wahl. Aus den dann sprudelnden Steuereinnahmen könnte sich die Steuerreform selbst finanzieren.

Schon die Begründung war selbstwiderspüchlich, denn was man als Konzept der Krisenbewältigung ausgab, wurde im Kleingedruckten auf die Zeit „nach der Krise“ terminiert, die ganz unabhängig von der Steuerpolitik in Bälde kommen sollte. Das peinliche Gezerre um den Koalitionsvertrag zeigt, dass die Verhältnisse so nicht sind. Die Pleitewelle und die Arbeitslosenwelle haben gerade erst begonnen. In der Arbeitsverwaltung und beim Gesundheitsfonds klaffen 2010 Milliardenlöcher. Alle Vorschläge, in diesen Bereichen den Rotstift anzusetzen, sind Makulatur. Selbst eine Streichung der Altersteilzeit und vieler Arbeitsmarktprogramme würde angesichts der explodierenden Ausgaben keinen Ausgleich bringen; ganz abgesehen davon, dass es dann vorbei wäre mit der Kosmetik der Arbeitslosenzahlen. Und die Krise ist noch lange nicht beendet. Selbst im besten Fall wird es auf Jahre hinaus nur flache Wachstumsraten mit abgesenkten Einkommen und niedrigem Steueraufkommen geben. Auch eine Steuerersparnis würde weder in Investitionen noch in Konsum fließen, weil weiterhin Überkapazitäten bei der Industrie wie bei den Dienstleistungen bestehen und die Mittelschicht angesichts unsicherer Arbeitsplätze eher zum Sparen neigen dürfte. Die Masse der Niedriglöhner und neuen Armen hat sowieso kein Geld zum Ausgeben.

Man darf gespannt sein, wie Schwarz-Gelb in der Zwickmühle manövrieren will. Im Grunde gibt es keinen Ausweg in der kommenden Legislaturperiode. Eine Steuersenkung auf Pump birgt nicht nur hohe Risiken angesichts der ohnehin ausufernden öffentlichen Verschuldung; sie würde auch die offizielle Ideologie der finanzpolitischen Seriosität blamieren und die beschlossene „Schuldenbremse“ unmöglich machen. Kurz- und mittelfristig droht den Ländern und Gemeinden bei einer Steuersenkung das Geld für notwendige Aufgaben auszugehen; ganz nebenbei mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Konjunktur. Deshalb geht auch die Option ins Leere, das Finanzierungsproblem zu verschieben und späteren Regierungen unlösbare Probleme zu hinterlassen. Kein Wunder, dass die CDU-Länderchefs und selbst FDP-Minister auf Landesebene kalte Füße bekommen, ganz zu schweigen von den schwarz-gelben Bürgermeistern und Landräten.

Dennoch führt kein Weg daran vorbei, Farbe zu bekennen. Aussitzen und Tee trinken war gestern. Die Finanzierung einer Steuerreform aus dem Fonds der Konjunkturhoffnungen war als Versprechen gut für den Wahlkampf, aber jetzt hilft keine Stimmungsmache mehr. Einschneidende Kürzungen der Sozialausgaben hatten schon die rot-grüne und die schwarz-rote Regierung auf den Weg gebracht. Dass Schwarz-Gelb hier noch einmal die Daumenschrauben anzieht, ist zu erwarten. Dummerweise steht im Frühjahr 2010 die Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen an, und bis dahin will man sich den Vorwurf der „sozialen Kälte“ nicht zuziehen. Auch ein Konflikt mit dem sozialpolitischen Flügel der CDU/CSU ist riskant. Schon sitzt der Spaltpilz in der neuen Harmonie-Koalition. Überdies würden weitere Sozialkürzungen die schwache Binnenkonjunktur ausbremsen; mit fatalen Folgen, wenn der Export nicht wie erhofft anspringt und der vermeintlichen Weltlokomotive China zusammen mit dem US-Konsum die Puste ausgeht.

Der finanzpolitische Spagat kann nur auf faule Tricks hinauslaufen, obwohl der Spielraum dafür immer enger wird. Wenn lediglich die schon von der großen Koalition gesenkte Unternehmenssteuer 2010 noch einmal vermindert wird, hätte der Berg eine Maus geboren. Das Versprechen einer großen Einkommenssteuerreform 2011 oder 2012 (Seehofer) bliebe bloße Absichtserklärung. Wahrscheinlich geworden ist die Münchhausiade eines Bilanzierungsmanövers, indem durch einen dritten Nachtragshaushalt die bislang größte Schuldenbombe bereits in diesem Jahr verbucht wird, um fürs erste rein formal „finanzielle Spielräume“ im kommenden Haushaltsjahr zu gewinnen. Unterm Strich bringt das letztlich gar nichts. Deshalb wurde sogar die Idee eines „Schattenhaushalts“ als letzte Rettung ins Spiel gebracht, um Schuldenlasten in eine Art bad bank des Staatshaushalts auszulagern, obwohl Finanzexperten diese Option bei den Koalitionsverhandlungen als unseriös abgelehnt hatten. Wenn es so kommt, schnürt Schwarz-Gelb schon vor dem Start eine Mogelpackung. In dieser Situation wäre es nur gerecht, wenn Guido Westerwelle das Finanzressort übernehmen müsste. Münchhausen als Kassenwart – das wäre die angemessene Besetzung in Zeiten des deutschen Selbstbetrugs.