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Robert Kurz
Weltwirtschaftskrise, soziale
Bewegung und
Sozialismus. 12 Thesen
Vorlage zur Konferenz des
Marxistischen Forums
Sachsen am 14. November 2009
- In der aktuellen medialen,
politischen und
wirtschaftswissenschaftlichen „Meinungsbildung“
soll die Weltwirtschaftskrise
schon wieder gar keine mehr sein. Die Entwarnungsdiskurse haben
Tageskonjunktur. Irgendwie möchte man glauben, dass alles
binnen Jahresfrist
der Vergangenheit angehören wird. Vielleicht war es halb so
wild; vergessen die
allgemeine Schreckstarre in den Monaten nach dem Lehman-Kollaps und den
davon
ausgelösten Schockwellen. Gleichzeitig muss zugegeben werden,
dass das erhoffte
neue Wachstum nach dem globalen Einbruch von einem wesentlich tieferen
Niveau
ausgeht; es würde viele Jahre dauern, bis das
Akkumulationsniveau der Zeit vor
der Krise wieder erreichbar wäre. Welche Konsequenzen das hat,
wird kaum
diskutiert. In dieser Situation ist es angebracht, auf die epistemische
Grundlage für die „Meinungsbildung“
hinzuweisen. Sie besteht in einem positivistischen
Denken, das nur unmittelbare Tatsachen wahrnimmt, die weder in ihrem
weltgesellschaftlichen Zusammenhang noch in ihrem historischen
Gewordensein
erscheinen. Die Methode besteht in einer
„Hochrechnung“ (Extrapolation) von
empirischen Einzeldaten und demoskopischen
„Stimmungen“. Diese Herangehensweise
hat in der jüngsten Vergangenheit grandios versagt. Noch im
Frühsommer 2008
wurde die vermeintlich boomende Weltkonjunktur berufsoptimistisch bis
2020
hochgerechnet. Der Kriseneinbruch kam scheinbar aus heiterem Himmel.
Daraus
kann man schließen, dass die positivistische Wahrnehmung und
Methode nichts
über die wirkliche Entwicklung aussagen kann. Das gilt auch
für den aktuellen
Entwarnungsdiskurs. Wenn der Großteil der akademischen und
politischen Linken
die Weltwirtschaftskrise ebensowenig vorhersehen konnte, deutet dies
darauf
hin, dass sie längst Momente des positivistischen Denkens
adaptiert hat und
krisentheoretisch unterbelichtet ist.
- Ein wesentlicher Bestandteil
der aktuellen
positiven Meinungsbildung besteht in der Hoffnung auf eine asiatische
(insbesondere chinesische) Akkumulationsdynamik, von der nun die
Weltwirtschaft
mitgezogen werden soll. Außer Acht gelassen wird dabei die
Struktur dieser
Dynamik. Das chinesische Rekordwachstum in der ersten Dekade des 21.
Jahrhunderts beruhte zu 60 Prozent auf dem Export, vor allem in die
USA.
Umgekehrt beruhte das Wachstum in den USA zu 70 Prozent auf dem Konsum.
Es
handelte sich um eine einseitige pazifische Defizitkonjunktur, von der
das globale
Wachstum getragen wurde. Dieses Schwungrad ist zum Stehen gekommen.
Obwohl der
Rückgang des US-Konsums noch gar nicht in vollem Umfang
realisiert ist, sind
die chinesischen Exporte in den ersten drei Quartalen 2009 um 25
Prozent
eingebrochen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass China
aus dem Stand den
Hebel auf einen Binnenkonsum umstellen könnte, der quantitativ
auch nur
annähernd diesen Rückgang ausgleichen oder gar eine
globale Wachstumsdynamik
tragen könnte. Der erweiterte Konsum einer chinesischen
Mittelklasse war nur
das Abfallprodukt der einseitigen Exportströme. Aufgefangen
wurde die
chinesische Wachstumskrise in den letzten Monaten allein durch ein
gigantisches
staatliches Konjunkturprogramm, das zum geringsten Teil in den Konsum
und zum größten
Teil in Infrastruktur-Investitionen (Flug- und Seehäfen,
Straßen- und
Eisenbahnbau etc. sowie in die Immobilienspekulation) geht. Dieses
Programm ist
staatlich und privat kreditfinanziert, wobei die Banken im Unterschied
zum
Westen gegen ihre betriebswirtschaftliche Rationalität vom
Staat gezwungen
wurden, in das volle Risiko zu gehen. Vorausgesetzt ist, dass die
einseitige
pazifische Defizitkonjunktur wieder anspringt und schnell das alte
Niveau
wieder erreicht und übertrifft. Das ist
äußerst unwahrscheinlich. Wenn aber
diese Erwartung nicht eintritt, werden sich nicht nur die derzeitigen
Infrastrukturprogramme, sondern auch die nach dem Baukastenprinzip
aufgebauten
Überkapazitäten der Exportwirtschaftszonen als
Investitionsruinen erweisen.
China holt dann den Mega-Finanzcrash lediglich zeitversetzt nach. Auch
in
dieser Hinsicht ist zu beobachten, dass erhebliche Teile der Linken
derselben
blauäugigen Erwartungshaltung wie die bürgerliche
Öffentlichkeit frönen, ohne
dafür eine analytische Grundlage vorweisen zu können.
- Nicht nur in China, sondern
in der ganzen Welt
fußt die vermeintliche Erholung der letzten Monate allein auf
staatlichen
Konjunkturprogrammen, also letztlich auf kreditfinanziertem
Staatskonsum. Diese
Programme können leicht mit den während der
Defizitkonjunktur aufgebauten
Kapazitäten bedient werden. Sie erfordern keinerlei
privatkapitalistische
Neuinvestitionen; im Gegenteil bleiben die bestehenden
Kapazitäten trotz dieser
Programme weiterhin hochgradig unausgelastet. Zu erwarten ist eher ein
Zwang
zum weiteren Abbau von Überkapazitäten in allen
Schlüsselbereichen. Deshalb
geben die Konjunkturprogramme keinen Anschub für das viel
beschworene
selbsttragende Wachstum. Dafür wäre eine private
Investitionskonjunktur
erforderlich, für die es keine Grundlagen gibt. Der
aufgeblähte Staatskonsum,
dessen Finanzierung direkt in die Währungsräume
eingespeist wird, enthält
jedoch ein gewaltiges Inflationspotential, wenn er
längerfristig die autonome
Kapitalakkumulation ersetzen muss. In der Zwickmühle eines
nicht mehr
tragfähigen Wachstumszwangs können die Staaten eine
außer Kontrolle geratende
Inflation in Kauf nehmen, um die Konjunktur eine Zeit lang
künstlich zu beatmen
und sich dann inflationär zu entschulden. Das hätte
aber letztlich abermals
verheerende Konsequenzen für die Kapitalakkumulation selbst.
Und wiederum ist
zu beobachten, dass ein Großteil der Linken ebenso wie die in
ihrer
Meinungsbildung gekippte bürgerliche Öffentlichkeit
den Staat als „deus ex
machina“ und „lender of last resort“
(Kreditgeber letzter Instanz) für
bewältigungsfähig halten möchte, ohne diese
Option und deren Konsequenzen ausreichend
durchdacht zu haben.
- Schon eine bloß
phänomenologische Analyse der
Weltwirtschaftskrise verweist darauf, dass deren Ursachen durch die
bisherigen
Auffangmanöver nicht beseitigt sind. Eine tiefer gehende
historische Analyse
kann zeigen, dass diese Ursachen bis in die 1980er Jahre
zurückreichen. Nachdem
sich die fordistische Akkumulationsdynamik der Nachkriegszeit
erschöpft hatte,
blieben die erwarteten Potentiale realer Verwertung in den neuen
technologischen Feldern (Informationstechnologie, Biotechnologie etc.)
aus. Der
Versuch, die Verwertungsprobleme zunächst durch Staatskonsum
anzuschieben,
scheiterte schon damals und mündete in Inflation. Die
neoliberale
Deregulierungspolitik verlagerte aber das Problem nur vom Staatskredit
auf die
transnationalen Finanzmärkte. Es bildeten sich die
berüchtigten Finanzblasen,
die über mehr als zwei Jahrzehnte eine virtuelle, substanzlose
Akkumulation zu
generieren schienen. Diese Scheinakkumulation war begleitet von einer
dichten
Kette partieller Finanzkrisen in einzelnen Ländern,
Weltregionen und Sektoren
(von der Schuldenkrise der Dritten Welt über die Finanzcrashs
in den USA und
Japan Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, die Krise der
asiatischen
Tigerstaaten, die Rußlandkrise, skandinavische Bankenkrise
und Argentinienkrise
bis zum Dotcom-Crash nach der Jahrhundertwende), die aber nicht in
ihrem
inneren Zusammenhang wahrgenommen wurden und durch Geldflutung der
Notenbanken
bewältigbar schienen. Die neue Finanzkrise ist nun erstmals
eine globale, die
mit den bisherigen Mitteln nicht mehr eingedämmt werden kann.
Das offizielle
Erklärungsmuster läuft darauf hinaus, die neoliberale
Deregulierung als
„historischen Fehler“ zu bezeichnen und die Krise
auf „Exzesse“ der Banker im
Finanzhimmel zurückzuführen, die leider auf die an
sich gesunde „Realökonomie“
zurückschlagen würden. In Wirklichkeit
verhält es sich genau umgekehrt. Schon
seit den 1990er Jahren fand ein Recycling aus den Finanzblasen in die
sogenannte Realökonomie statt, das von realer Wertsubstanz
nicht mehr gedeckte
Kaufkraft für Konsum und Investitionen in die kapitalistische
Reproduktion
einspeiste und die seitherigen Defizitkonjunkturen hervorbrachte. Das
inflationäre Potential dieses
„Finanzmarkt-Keynesianismus“ war über
globale
Währungsräume verteilt und begann sich erst auf dem
Höhepunkt der
Defizitkonjunktur zu manifestieren (fast 20 Prozent in China, erwartete
6
Prozent in den USA), wurde dann aber durch den Entwertungsschock des
Finanzkapitals überlagert, um sich jetzt erneut durch die
Staatsprogramme
aufzubauen. Weil das offizielle Erklärungsmuster falsch ist,
kommt auch die
angestrebte Re-Regulierung nicht vom Fleck, sondern wird auf die
imaginäre Zeit
„nach der Krise“ verschoben. Es gibt keine
„gesunde“ Realakkumulation, sondern
deren langfristig erschöpfte Dynamik kann nur durch
prekäre
Simulationsprogramme gestreckt werden, wobei die nach dem
Entwertungsschock
zugelassenen neuen Finanzblasen keine Kraft zum Recycling in eine
Defizitkonjunktur mehr haben und der Staatskredit bereits kurzfristig
an
Grenzen stößt. In diesen Zusammenhang
gehört die schlimmste Fehlleistung eines
Großteils der Linken. Bereits vor dem globalen Einbruch
hatten die
globalisierungskritischen Bewegungen und die politische Linke
mehrheitlich
selber in einer „verkürzten
Kapitalismuskritik“ die Finanzspekulation für die
sozialen und ökonomischen Krisenerscheinungen verantwortlich
gemacht und damit
das Verhältnis von Ursache und Wirkung auf den Kopf gestellt.
Die Linke folgt
also hierin nicht dem falschen Erklärungsmuster der
bürgerlichen
Öffentlichkeit, sondern diese hat es umgekehrt vom linken
Mainstream
übernommen.
- Auch die historische Analyse
der
wechselseitigen Bedingtheit von mangelnder realer Akkumulationsdynamik
des
globalen Kapitals und der Herausbildung einer transnationalen
Finanzblasen-Ökonomie ist noch phänomenologisch
beschränkt. Eine zureichende
Erklärung ist erst durch den Rückbezug auf die
Marxsche Kritik der politischen
Ökonomie möglich. Marx hat die historische Dynamik
des Kapitals und deren
„innere Schranke“ auf einer abstrakt-begrifflichen
Ebene analysiert. Seine
kategoriale Darstellung entzieht sich dem positivistischen Denken, weil
sie auf
der empirisch nicht unmittelbar erkennbaren Ebene der Wertsubstanz
argumentiert, die nicht mit dem Wertschöpfungsbegriff von VWL
und BWL identisch
ist, in deren Rechnungsweise der Zusammenhang von Mengen abstrakter
Arbeit,
realer Wertsubstanz, Umschlagszyklen des Sach- und Warenkapitals,
Geldschöpfung
und Kreditsystem nicht erscheint, also die wirkliche Bewegung nur
verzerrt
wiedergegeben wird. Die Marxsche kategoriale Analyse der
Akkumulationsdynamik
zeigt den inneren Selbstwiderspruch der kapitalistischen
Produktionsweise
anhand der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals. Der
wachsende
Anteil des konstanten Kapitals (des „toten“, nur
Wert übertragenden, aber nicht
Wert schöpfenden Sachkapitals) gegenüber dem
variablen Kapital (Wert und
Mehrwert schöpfender Arbeitskraft) pro eingesetztem
Geldkapital führt zum
tendenziellen (historischen) Fall der Profitrate. Dieser relative
Ausdruck des
Selbstwiderspruchs kann durch die gesamtgesellschaftliche Wirkung eines
steigenden relativen Mehrwerts pro Arbeitskraft (Absinken von deren
Wert durch
Produktivkraftentwicklung) zwar kompensiert werden; aber nur dann, wenn
sich
gleichzeitig der Einsatz von Geldkapital und damit die Anwendung von
Arbeitskraft entsprechend erhöht und zu einer wachsenden
Profitmasse trotz
Falls der Profitrate führt. Auch dabei macht sich der
Selbstwiderspruch
insofern geltend, als die stetig steigenden Vorauskosten für
das Sachkapital
nicht mehr ausreichend aus vorangegangenen Profiten finanziert werden
können,
sondern einen ebenso stetig wachsenden Rückgriff auf das
Kreditsystem
erforderlich machen. Auf diese Weise muss das Kapital immer mehr auf
zukünftigen Mehrwert vorgreifen, um die aktuelle
Mehrwertproduktion am Laufen
zu halten. Daraus lässt sich auf eine historische innere
Schranke der
Verwertung schließen, wenn die zusätzliche Anwendung
von Arbeitskraft auch bei
steigendem Einsatz von Geldkapital nicht mehr ausreichend gelingt und
die weit
in die Zukunft vorgreifenden Kreditketten reißen, damit aber
auch die Profitmasse
fällt. Die Entwicklung auf Basis der dritten industriellen
Revolution seit den
1980er Jahren lässt sich in diesem Sinne erklären,
auch wenn es aus den
genannten Gründen keinen empirischen Beweis im Sinne einer
positivistischen
Hochrechnung gibt. Es geht aber um die begriffliche
„Abstraktionskraft“ (Marx),
um die realen Erscheinungen zu erklären statt sie als
zusammenhanglose
Tatsachen wahrzunehmen, die man beliebig deuten kann. Die skizzierten
Defizite
eines Großteils der Linken sind letztlich darauf
zurückzuführen, dass ein
Rekurs auf die Marxsche Theorie nur noch bruchstückhaft
stattgefunden hat.
Soweit die kategoriale Ebene überhaupt Thema war, wurde sie
mit
positivistischen Befunden kurzgeschlossen und eine an sich ewige
Tragfähigkeit
von relativer Mehrwertproduktion und Expansion des Kapitals
vorausgesetzt.
- Kern des Problems ist die
Kategorie der
abstrakten Arbeit, die bei Marx eindeutig negativ bestimmt ist, aber im
traditionellen Marxismus mit einer positiven Arbeitsontologie verbunden
wurde.
„Arbeit“ erschien so nicht als spezifisch
kapitalistische Realabstraktion,
sondern die Substanz des Kapitals gleichzeitig als ewige
Menschheitsbedingung.
Als eine solche wäre sie natürlich
unerschöpflich. Für die Krisentheorie hieß
das, dass eine innere Schranke der Verwertungssubstanz selber undenkbar
blieb
und die Krise ausschließlich auf der Ebene der zirkulativen
Metamorphosen und
Disproportionalitäten des Kapitals bestimmt wurde;
nämlich als sogenannte
„Reinigungskrise“, die nur das gestörte
Gleichgewicht der kapitalistischen
Reproduktion wiederherstellt. So wird auch die neue
Weltwirtschaftskrise
wahrgenommen, und daher rührt letztlich die
Übereinstimmung mit dem
bürgerlichen Erwartungshorizont. Daraus resultiert auch eine
Handlungsoption,
die nur darauf abzielt, auf die Restrukturierung des
Akkumulationsprozesses
Einfluss zu nehmen, diesen aber bereits voraussetzt und die
Möglichkeit seiner
historischen Erschöpfung von vornherein ausschließt.
- Damit findet sich die Linke
in einer allerdings
falschen und der Wirklichkeit nicht standhaltenden
Übereinstimmung mit dem
Massenbewusstsein, die passiv und ohne Mobilisierungskraft bleibt. Die
Verinnerlichung der kapitalistischen Kategorien als unhinterfragbare
Existenzbedingungen hat einen langen historischen Vorlauf. Die
klassische
Arbeiterbewegung blieb in ihren Zielsetzungen auf dem Boden der
kapitalistischen Daseinsformen und machte deren Substanz, die abstrakte
Arbeit,
zu ihrer Legitimationsgrundlage. Aber diese Selbstlegitimation bricht
in der dritten
industriellen Revolution weg. Der globale Rückgang der
mehrwertschaffenden
Arbeiterklasse bildet nur die Kehrseite der substantiellen Krise des
Kapitals.
Die chinesischen Exportsektoren sind kein quantitativer Gegenbeweis,
weil sie
keine reale Mehrwertproduktion zum Ausgangspunkt haben, sondern nur von
den
Finanzblasen seit den 1990er Jahren generiert wurden. Deshalb geht die
Anrufung
eines „Klassenbewusstseins“ auf Basis der realen
Mehrwertschöpfung ins Leere.
Die „Arbeit“ hat ihre vermeintliche ontologische
Sicherheit verloren. Sie ist
demoralisiert; und zwar sowohl hinsichtlich ihrer verschwindenden
kapitalproduktiven Quantität als auch wegen ihres zunehmend
destruktiven, nicht
mehr auf lebensnotwendigen Bedürfnisinhalten
gründenden Charakters wie auch im
Zuge ihrer Prekarisierung. Ein Ausdruck dieser Demoralisierung ist es,
dass der
offizielle Slogan, „jede Arbeit sei besser als
keine“, im arbeitsontologischen
Massenbewusstsein selber verankert ist. Daraus folgt die desperate
Hoffnung,
nur eine Wiederbelebung der Akkumulationsdynamik könne noch
Verbesserungen
bringen. So erklärt sich auch die Wählbarkeit
konservativ-liberaler Parteien
bis in die restlichen Kernbelegschaften und selbst in die Population
der
Arbeitslosen und Überflüssigen hinein.
- Eingriffsmächtige
Gegenbewegungen mit
traditionellem Streikpotential entstehen nur noch für
Partikularinteressen in
Schlüsselpositionen (Lokführer, Fluglotsen) oder sie
bleiben als zu schwache
Lobby-Vertretung auf der Strecke (Milchbauern). Die links motivierten
Protestbewegungen mit ihrer verkürzten Kapitalismuskritik
kommen nicht über
symbolische Aktionen mit Event-Charakter hinaus. Andererseits droht die
etatistische Orientierung der politischen Linken in eine Beteiligung an
der
kapitalistischen Krisenverwaltung zu münden (Linkspartei in
Berlin und
anderswo). Die unabweisbare Abwärtstendenz wird eher in
antisemitischen,
rassistischen und sexistischen Ideologiebildungen verarbeitet. Auch der
Feminismus der jüngeren Geschichte kommt in der
Krisenentwicklung unter die
Räder, weil der strukturell androzentrische Charakter der
kapitalistischen
Kategorien ausgeblendet bleibt und schon in der klassischen
Arbeiterbewegung
nicht reflektiert wurde. Gleichzeitig wissen die quantitativ
dominierend
gewordenen neuen Mittelschichten, dass das Interesse ihres
prekär gewordenen
qualifizierten Humankapitals von der Abschöpfung realer
Mehrwertproduktion und
bei deren Ausbleiben von Staatskredit und Finanzblasen
abhängig ist. Einerseits
werden sie so zu Trägern der verkürzten, auf das
Finanzkapital reduzierten
Kapitalismuskritik; andererseits hoffen sie gerade auf dessen
Wiederbelebung.
- Ein bislang nicht sichtbarer
allgemeiner
Widerstand gegen die Krisenverwaltung ist nur möglich, wenn
bis zu einem
gewissen Grad die universelle Konkurrenz durchbrochen wird. Zweifellos
müssen
zunächst immanente Forderungen der Ausgangspunkt sein. Dazu
gehören etwa ein
ausreichender allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, eine drastische
Erhöhung
des Existenzminimums bei Transfereinkommen und ein Stop des Ausverkaufs
der
öffentlichen Daseinsvorsorge in der Medizin und anderen
Bereichen. Aber solche
Forderungen sind erstens angesichts der Lage nicht mehr auf dem
politischen
Dienstweg zu erreichen. Die etatistische Orientierung im
Massenbewusstsein wie
in der Linken ist ein Bremsklotz in dieser Hinsicht, weil auf diese
Weise das
Problem an den Staat delegiert wird. Nötig wäre
stattdessen eine nicht mehr
bloß symbolische soziale Massenbewegung, die willens und in
der Lage ist, den
kapitalistischen Betrieb auch in der Krise lahmzulegen. Zweitens, und
das ist
das eigentlich Entscheidende, kann eine solche Bewegung sich nicht mehr
vom
Kriterium der kapitalistischen Finanzierungsfähigkeit
abhängig machen, die eine
gelingende Kapitalakkumulation voraussetzt. Sie muss die
Lebensinteressen für
unverhandelbar erklären und bewusst
„verantwortungslos“ gegenüber dem
systemischen Finanzierbarkeitskriterium werden. Wenn sowieso die
Inflationierung das Resultat der Krisenverwaltungspolitik ist, kann nur
darin Handlungsfähigkeit
gewonnen werden. Das bedingt das Eingeständnis, dass die
traditionelle
Reformpolitik auf Basis der Kapitalakkumulation bzw. unter Berufung auf
deren
Gelingen („Anteil am Wachstumserfolg“) obsolet und
nicht umsonst in sozial
repressive Gegenreformen umgeschlagen ist. Damit ist allerdings auch
eine linke
Politik als Geburtshilfe und reformorientierte Besetzung einer
restrukturierten
Kapitalakkumulation ausgeschlossen. Es kann sich nur um eine
transitorische
Bewegung handeln, die ein neues Bewusstsein von der Unhaltbarkeit der
kapitalistischen Daseinsbedingungen entwickelt und darüber
hinausgehen will.
- Damit steht allerdings auch
die Neuerfindung
des Sozialismus auf der Tagesordnung. Die Drohung, dass wir
„auch anders
können“ und eine Gesellschaft jenseits des
Kapitalismus anstreben, war in
Wirklichkeit stets der Katalysator für eine Durchschlagskraft
immanenter
Forderungen. In der Vergangenheit wäre eine
Weltwirtschaftskrise von der
Dimension der gegenwärtigen unvermeidlich Anlass für
eine Aktualisierung des
Übergangs zum Sozialismus gewesen. Wenn eine solche
Zielsetzung für den
Großteil der Linken heute undenkbar erscheint, hat das
natürlich mit dem
Untergang des staatsbürokratischen Realsozialismus zu tun.
Dieses Ende wurde ja
soeben am Rosenmontag des Durchbruchs zur
„Freiheit“ zelebriert, dessen
Unwahrheit die Linke nicht kenntlich machen kann. Schon in der
Ideologie der
klassischen Arbeiterbewegung und erst recht unter den Zwängen
einer
„nachholenden Modernisierung“ in der Peripherie des
Weltmarkts reduzierte sich
der Begriff des Sozialismus auf eine Verstaatlichung der
kapitalistischen
Kategorien, statt ihre Abschaffung ins Auge zu fassen. Das Scheitern
dieser
historisch bedingten Verkürzung wurde aber nicht kritisch,
sondern affirmativ
verarbeitet. Jetzt blamiert sich das „Ankommen“ im
Kapitalismus, dessen
Kriterien (Selbständigkeit der
„Unternehmen“, Zugeständnisse an die
Konkurrenz,
„Freiheit“ der Preisbildung etc.) schon Gegenstand
der realsozialistischen
Reformen gewesen und in der westlichen Linken längst vor dem
Untergang dieser
Formation zum Paradigma einer Unüberschreitbarkeit der
kapitalistischen
Kategorien geworden war.
- Deshalb hat die etatistische
Orientierung der
Linken auch nichts mehr mit der historisch verfallenen Zielsetzung
eines
„Arbeiterstaats“ auf Basis der ontologisierten
abstrakten Arbeit zu tun,
sondern kapriziert sich ganz auf den bestehenden Staat, wie es die
Sozialdemokratie schon in den 1920er Jahren vorgemacht hatte, um
schließlich
bei Godesberg und später bei Schröder und Hartz IV zu
landen. Was übrig bleibt,
ist einerseits ein pseudomarxistisch aufgemotzter Linkskeynesianismus,
der nie
etwas anderes als ein ideologisches „Rettungspaket“
für die Kapitalverwertung
war und von den kapitalistischen Institutionen in den 1980er Jahren
abserviert
wurde. Wenn dessen Revitalisierung von Teilen der Linken hoffnungsfroh
für eine
reformpolitische Neubesetzung reklamiert wird, ist das eine Illusion,
denn der
neue Krisenkeynesianismus kann nur die repressive Krisenverwaltung
exekutieren
und stellt nichts als eine Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen
Mitteln
dar. Die drängende Frage einer gesellschaftlichen Planung der
Ressourcen
erscheint nur in einer perversen Form als Verstaatlichung der Krise.
Andererseits
macht sich komplementär zum „linken“
Krisenkeynesianismus das Programm einer
„solidarischen Ökonomie“ geltend, die am
kapitalistischen
Vergesellschaftungs-Zusammenhang vorbei in partikularen
Alternativstrukturen
(kleinen Genossenschaften, selbstausbeuterischen Kommunen,
Nachbarschaftshilfe,
Schrebergarten-Subsistenz, regionalen Alternativwährungen
usw.) die Illusion
einer „anderen“ Produktions- und Lebensweise auf
der verbrannten Erde des
Kapitals propagiert und von der Krisenverwaltung vereinnahmt werden
könnte. Ein
weiterer Aspekt der zu kurz greifenden alternativen Orientierungen
besteht
darin, die alte Idee einer betrieblichen
„Demokratisierung“ wieder
aufzugreifen. Eine betriebliche Mitbestimmung läuft aber unter
Krisenbedingungen darauf hinaus, die Beschäftigten
für das Bestehen in der
Konkurrenz mitverantwortlich zu machen (Scheitern der besetzten
Belegschaftsbetriebe am Markt in Argentinien, freiwilliger Lohnverzicht
bei
Opel und Arcandor).
- Alle diese Transformations-
oder
Sozialismus-Surrogate verfehlen grundsätzlich das Problem der
„gesellschaftlichen Synthesis“ durch die allgemeine
Wert- und Warenform der
Reproduktion, die überhaupt nur aufgrund der Warenform der
Arbeitskraft
existiert. Ein neuer Sozialismusbegriff kann nur gewonnen werden, indem
die
Verinnerlichung der kapitalistischen Daseinsformen von Warenform der
Arbeitskraft, abstrakter Arbeit, Verwertungslogik und Warenform der
Reproduktion durchbrochen wird. Historisch auf die Tagesordnung gesetzt
wird
eine gesellschaftliche Selbstverwaltung jenseits dieses Form- und
Funktionszusammenhangs als bewusste Planung des
gesamtgesellschaftlichen
Ressourcen-Einsatzes (naturale Mittel, Technologie, Wissen), die nicht
mehr auf
Recheneinheiten abstrakter Arbeit beruht; einschließlich der
Infrastrukturen
und der bislang an die Frauen delegierten nicht-wertförmigen
Momente der
Reproduktion. Eine solche weiter gehende Zielbestimmung sozialistischer
Transformation bedarf einer historischen Zeit ihrer Verankerung; aber
sie ist
gleichzeitig Voraussetzung, um den Widerstand gegen die restriktive
Krisenverwaltung mobilisieren zu können. Einsichtig gemacht
werden kann sie
praktisch in dem Maße, wie der Verlauf der
Weltwirtschaftskrise über das
bisherige Ausmaß hinaus dazu führt, dass mangels
Rentabilität, Konkurrenz- und
Finanzierungsfähigkeit lebensnotwendige Ressourcen stillgelegt
werden, obwohl
die materiellen Mittel dafür existieren. Wenn die linke
Kapitalismuskritik aus
dem matten Rückzugsgefecht herauskommen und die Offensive
zurückgewinnen will,
muss sie diese Nuss knacken und über ihren historischen
Schatten springen.
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