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Robert Kurz

Weltwirtschaftskrise, soziale Bewegung und Sozialismus. 12 Thesen

Vorlage zur Konferenz des Marxistischen Forums Sachsen am 14. November 2009

  1. In der aktuellen medialen, politischen und wirtschaftswissenschaftlichen „Meinungsbildung“ soll die Weltwirtschaftskrise schon wieder gar keine mehr sein. Die Entwarnungsdiskurse haben Tageskonjunktur. Irgendwie möchte man glauben, dass alles binnen Jahresfrist der Vergangenheit angehören wird. Vielleicht war es halb so wild; vergessen die allgemeine Schreckstarre in den Monaten nach dem Lehman-Kollaps und den davon ausgelösten Schockwellen. Gleichzeitig muss zugegeben werden, dass das erhoffte neue Wachstum nach dem globalen Einbruch von einem wesentlich tieferen Niveau ausgeht; es würde viele Jahre dauern, bis das Akkumulationsniveau der Zeit vor der Krise wieder erreichbar wäre. Welche Konsequenzen das hat, wird kaum diskutiert. In dieser Situation ist es angebracht, auf die epistemische Grundlage für die „Meinungsbildung“ hinzuweisen. Sie besteht in einem positivistischen Denken, das nur unmittelbare Tatsachen wahrnimmt, die weder in ihrem weltgesellschaftlichen Zusammenhang noch in ihrem historischen Gewordensein erscheinen. Die Methode besteht in einer „Hochrechnung“ (Extrapolation) von empirischen Einzeldaten und demoskopischen „Stimmungen“. Diese Herangehensweise hat in der jüngsten Vergangenheit grandios versagt. Noch im Frühsommer 2008 wurde die vermeintlich boomende Weltkonjunktur berufsoptimistisch bis 2020 hochgerechnet. Der Kriseneinbruch kam scheinbar aus heiterem Himmel. Daraus kann man schließen, dass die positivistische Wahrnehmung und Methode nichts über die wirkliche Entwicklung aussagen kann. Das gilt auch für den aktuellen Entwarnungsdiskurs. Wenn der Großteil der akademischen und politischen Linken die Weltwirtschaftskrise ebensowenig vorhersehen konnte, deutet dies darauf hin, dass sie längst Momente des positivistischen Denkens adaptiert hat und krisentheoretisch unterbelichtet ist.
  2. Ein wesentlicher Bestandteil der aktuellen positiven Meinungsbildung besteht in der Hoffnung auf eine asiatische (insbesondere chinesische) Akkumulationsdynamik, von der nun die Weltwirtschaft mitgezogen werden soll. Außer Acht gelassen wird dabei die Struktur dieser Dynamik. Das chinesische Rekordwachstum in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts beruhte zu 60 Prozent auf dem Export, vor allem in die USA. Umgekehrt beruhte das Wachstum in den USA zu 70 Prozent auf dem Konsum. Es handelte sich um eine einseitige pazifische Defizitkonjunktur, von der das globale Wachstum getragen wurde. Dieses Schwungrad ist zum Stehen gekommen. Obwohl der Rückgang des US-Konsums noch gar nicht in vollem Umfang realisiert ist, sind die chinesischen Exporte in den ersten drei Quartalen 2009 um 25 Prozent eingebrochen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass China aus dem Stand den Hebel auf einen Binnenkonsum umstellen könnte, der quantitativ auch nur annähernd diesen Rückgang ausgleichen oder gar eine globale Wachstumsdynamik tragen könnte. Der erweiterte Konsum einer chinesischen Mittelklasse war nur das Abfallprodukt der einseitigen Exportströme. Aufgefangen wurde die chinesische Wachstumskrise in den letzten Monaten allein durch ein gigantisches staatliches Konjunkturprogramm, das zum geringsten Teil in den Konsum und zum größten Teil in Infrastruktur-Investitionen (Flug- und Seehäfen, Straßen- und Eisenbahnbau etc. sowie in die Immobilienspekulation) geht. Dieses Programm ist staatlich und privat kreditfinanziert, wobei die Banken im Unterschied zum Westen gegen ihre betriebswirtschaftliche Rationalität vom Staat gezwungen wurden, in das volle Risiko zu gehen. Vorausgesetzt ist, dass die einseitige pazifische Defizitkonjunktur wieder anspringt und schnell das alte Niveau wieder erreicht und übertrifft. Das ist äußerst unwahrscheinlich. Wenn aber diese Erwartung nicht eintritt, werden sich nicht nur die derzeitigen Infrastrukturprogramme, sondern auch die nach dem Baukastenprinzip aufgebauten Überkapazitäten der Exportwirtschaftszonen als Investitionsruinen erweisen. China holt dann den Mega-Finanzcrash lediglich zeitversetzt nach. Auch in dieser Hinsicht ist zu beobachten, dass erhebliche Teile der Linken derselben blauäugigen Erwartungshaltung wie die bürgerliche Öffentlichkeit frönen, ohne dafür eine analytische Grundlage vorweisen zu können.
  3. Nicht nur in China, sondern in der ganzen Welt fußt die vermeintliche Erholung der letzten Monate allein auf staatlichen Konjunkturprogrammen, also letztlich auf kreditfinanziertem Staatskonsum. Diese Programme können leicht mit den während der Defizitkonjunktur aufgebauten Kapazitäten bedient werden. Sie erfordern keinerlei privatkapitalistische Neuinvestitionen; im Gegenteil bleiben die bestehenden Kapazitäten trotz dieser Programme weiterhin hochgradig unausgelastet. Zu erwarten ist eher ein Zwang zum weiteren Abbau von Überkapazitäten in allen Schlüsselbereichen. Deshalb geben die Konjunkturprogramme keinen Anschub für das viel beschworene selbsttragende Wachstum. Dafür wäre eine private Investitionskonjunktur erforderlich, für die es keine Grundlagen gibt. Der aufgeblähte Staatskonsum, dessen Finanzierung direkt in die Währungsräume eingespeist wird, enthält jedoch ein gewaltiges Inflationspotential, wenn er längerfristig die autonome Kapitalakkumulation ersetzen muss. In der Zwickmühle eines nicht mehr tragfähigen Wachstumszwangs können die Staaten eine außer Kontrolle geratende Inflation in Kauf nehmen, um die Konjunktur eine Zeit lang künstlich zu beatmen und sich dann inflationär zu entschulden. Das hätte aber letztlich abermals verheerende Konsequenzen für die Kapitalakkumulation selbst. Und wiederum ist zu beobachten, dass ein Großteil der Linken ebenso wie die in ihrer Meinungsbildung gekippte bürgerliche Öffentlichkeit den Staat als „deus ex machina“ und „lender of last resort“ (Kreditgeber letzter Instanz) für bewältigungsfähig halten möchte, ohne diese Option und deren Konsequenzen ausreichend durchdacht zu haben.
  4. Schon eine bloß phänomenologische Analyse der Weltwirtschaftskrise verweist darauf, dass deren Ursachen durch die bisherigen Auffangmanöver nicht beseitigt sind. Eine tiefer gehende historische Analyse kann zeigen, dass diese Ursachen bis in die 1980er Jahre zurückreichen. Nachdem sich die fordistische Akkumulationsdynamik der Nachkriegszeit erschöpft hatte, blieben die erwarteten Potentiale realer Verwertung in den neuen technologischen Feldern (Informationstechnologie, Biotechnologie etc.) aus. Der Versuch, die Verwertungsprobleme zunächst durch Staatskonsum anzuschieben, scheiterte schon damals und mündete in Inflation. Die neoliberale Deregulierungspolitik verlagerte aber das Problem nur vom Staatskredit auf die transnationalen Finanzmärkte. Es bildeten sich die berüchtigten Finanzblasen, die über mehr als zwei Jahrzehnte eine virtuelle, substanzlose Akkumulation zu generieren schienen. Diese Scheinakkumulation war begleitet von einer dichten Kette partieller Finanzkrisen in einzelnen Ländern, Weltregionen und Sektoren (von der Schuldenkrise der Dritten Welt über die Finanzcrashs in den USA und Japan Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, die Krise der asiatischen Tigerstaaten, die Rußlandkrise, skandinavische Bankenkrise und Argentinienkrise bis zum Dotcom-Crash nach der Jahrhundertwende), die aber nicht in ihrem inneren Zusammenhang wahrgenommen wurden und durch Geldflutung der Notenbanken bewältigbar schienen. Die neue Finanzkrise ist nun erstmals eine globale, die mit den bisherigen Mitteln nicht mehr eingedämmt werden kann. Das offizielle Erklärungsmuster läuft darauf hinaus, die neoliberale Deregulierung als „historischen Fehler“ zu bezeichnen und die Krise auf „Exzesse“ der Banker im Finanzhimmel zurückzuführen, die leider auf die an sich gesunde „Realökonomie“ zurückschlagen würden. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt. Schon seit den 1990er Jahren fand ein Recycling aus den Finanzblasen in die sogenannte Realökonomie statt, das von realer Wertsubstanz nicht mehr gedeckte Kaufkraft für Konsum und Investitionen in die kapitalistische Reproduktion einspeiste und die seitherigen Defizitkonjunkturen hervorbrachte. Das inflationäre Potential dieses „Finanzmarkt-Keynesianismus“ war über globale Währungsräume verteilt und begann sich erst auf dem Höhepunkt der Defizitkonjunktur zu manifestieren (fast 20 Prozent in China, erwartete 6 Prozent in den USA), wurde dann aber durch den Entwertungsschock des Finanzkapitals überlagert, um sich jetzt erneut durch die Staatsprogramme aufzubauen. Weil das offizielle Erklärungsmuster falsch ist, kommt auch die angestrebte Re-Regulierung nicht vom Fleck, sondern wird auf die imaginäre Zeit „nach der Krise“ verschoben. Es gibt keine „gesunde“ Realakkumulation, sondern deren langfristig erschöpfte Dynamik kann nur durch prekäre Simulationsprogramme gestreckt werden, wobei die nach dem Entwertungsschock zugelassenen neuen Finanzblasen keine Kraft zum Recycling in eine Defizitkonjunktur mehr haben und der Staatskredit bereits kurzfristig an Grenzen stößt. In diesen Zusammenhang gehört die schlimmste Fehlleistung eines Großteils der Linken. Bereits vor dem globalen Einbruch hatten die globalisierungskritischen Bewegungen und die politische Linke mehrheitlich selber in einer „verkürzten Kapitalismuskritik“ die Finanzspekulation für die sozialen und ökonomischen Krisenerscheinungen verantwortlich gemacht und damit das Verhältnis von Ursache und Wirkung auf den Kopf gestellt. Die Linke folgt also hierin nicht dem falschen Erklärungsmuster der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern diese hat es umgekehrt vom linken Mainstream übernommen.
  5. Auch die historische Analyse der wechselseitigen Bedingtheit von mangelnder realer Akkumulationsdynamik des globalen Kapitals und der Herausbildung einer transnationalen Finanzblasen-Ökonomie ist noch phänomenologisch beschränkt. Eine zureichende Erklärung ist erst durch den Rückbezug auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie möglich. Marx hat die historische Dynamik des Kapitals und deren „innere Schranke“ auf einer abstrakt-begrifflichen Ebene analysiert. Seine kategoriale Darstellung entzieht sich dem positivistischen Denken, weil sie auf der empirisch nicht unmittelbar erkennbaren Ebene der Wertsubstanz argumentiert, die nicht mit dem Wertschöpfungsbegriff von VWL und BWL identisch ist, in deren Rechnungsweise der Zusammenhang von Mengen abstrakter Arbeit, realer Wertsubstanz, Umschlagszyklen des Sach- und Warenkapitals, Geldschöpfung und Kreditsystem nicht erscheint, also die wirkliche Bewegung nur verzerrt wiedergegeben wird. Die Marxsche kategoriale Analyse der Akkumulationsdynamik zeigt den inneren Selbstwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise anhand der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals. Der wachsende Anteil des konstanten Kapitals (des „toten“, nur Wert übertragenden, aber nicht Wert schöpfenden Sachkapitals) gegenüber dem variablen Kapital (Wert und Mehrwert schöpfender Arbeitskraft) pro eingesetztem Geldkapital führt zum tendenziellen (historischen) Fall der Profitrate. Dieser relative Ausdruck des Selbstwiderspruchs kann durch die gesamtgesellschaftliche Wirkung eines steigenden relativen Mehrwerts pro Arbeitskraft (Absinken von deren Wert durch Produktivkraftentwicklung) zwar kompensiert werden; aber nur dann, wenn sich gleichzeitig der Einsatz von Geldkapital und damit die Anwendung von Arbeitskraft entsprechend erhöht und zu einer wachsenden Profitmasse trotz Falls der Profitrate führt. Auch dabei macht sich der Selbstwiderspruch insofern geltend, als die stetig steigenden Vorauskosten für das Sachkapital nicht mehr ausreichend aus vorangegangenen Profiten finanziert werden können, sondern einen ebenso stetig wachsenden Rückgriff auf das Kreditsystem erforderlich machen. Auf diese Weise muss das Kapital immer mehr auf zukünftigen Mehrwert vorgreifen, um die aktuelle Mehrwertproduktion am Laufen zu halten. Daraus lässt sich auf eine historische innere Schranke der Verwertung schließen, wenn die zusätzliche Anwendung von Arbeitskraft auch bei steigendem Einsatz von Geldkapital nicht mehr ausreichend gelingt und die weit in die Zukunft vorgreifenden Kreditketten reißen, damit aber auch die Profitmasse fällt. Die Entwicklung auf Basis der dritten industriellen Revolution seit den 1980er Jahren lässt sich in diesem Sinne erklären, auch wenn es aus den genannten Gründen keinen empirischen Beweis im Sinne einer positivistischen Hochrechnung gibt. Es geht aber um die begriffliche „Abstraktionskraft“ (Marx), um die realen Erscheinungen zu erklären statt sie als zusammenhanglose Tatsachen wahrzunehmen, die man beliebig deuten kann. Die skizzierten Defizite eines Großteils der Linken sind letztlich darauf zurückzuführen, dass ein Rekurs auf die Marxsche Theorie nur noch bruchstückhaft stattgefunden hat. Soweit die kategoriale Ebene überhaupt Thema war, wurde sie mit positivistischen Befunden kurzgeschlossen und eine an sich ewige Tragfähigkeit von relativer Mehrwertproduktion und Expansion des Kapitals vorausgesetzt.
  6. Kern des Problems ist die Kategorie der abstrakten Arbeit, die bei Marx eindeutig negativ bestimmt ist, aber im traditionellen Marxismus mit einer positiven Arbeitsontologie verbunden wurde. „Arbeit“ erschien so nicht als spezifisch kapitalistische Realabstraktion, sondern die Substanz des Kapitals gleichzeitig als ewige Menschheitsbedingung. Als eine solche wäre sie natürlich unerschöpflich. Für die Krisentheorie hieß das, dass eine innere Schranke der Verwertungssubstanz selber undenkbar blieb und die Krise ausschließlich auf der Ebene der zirkulativen Metamorphosen und Disproportionalitäten des Kapitals bestimmt wurde; nämlich als sogenannte „Reinigungskrise“, die nur das gestörte Gleichgewicht der kapitalistischen Reproduktion wiederherstellt. So wird auch die neue Weltwirtschaftskrise wahrgenommen, und daher rührt letztlich die Übereinstimmung mit dem bürgerlichen Erwartungshorizont. Daraus resultiert auch eine Handlungsoption, die nur darauf abzielt, auf die Restrukturierung des Akkumulationsprozesses Einfluss zu nehmen, diesen aber bereits voraussetzt und die Möglichkeit seiner historischen Erschöpfung von vornherein ausschließt.
  7. Damit findet sich die Linke in einer allerdings falschen und der Wirklichkeit nicht standhaltenden Übereinstimmung mit dem Massenbewusstsein, die passiv und ohne Mobilisierungskraft bleibt. Die Verinnerlichung der kapitalistischen Kategorien als unhinterfragbare Existenzbedingungen hat einen langen historischen Vorlauf. Die klassische Arbeiterbewegung blieb in ihren Zielsetzungen auf dem Boden der kapitalistischen Daseinsformen und machte deren Substanz, die abstrakte Arbeit, zu ihrer Legitimationsgrundlage. Aber diese Selbstlegitimation bricht in der dritten industriellen Revolution weg. Der globale Rückgang der mehrwertschaffenden Arbeiterklasse bildet nur die Kehrseite der substantiellen Krise des Kapitals. Die chinesischen Exportsektoren sind kein quantitativer Gegenbeweis, weil sie keine reale Mehrwertproduktion zum Ausgangspunkt haben, sondern nur von den Finanzblasen seit den 1990er Jahren generiert wurden. Deshalb geht die Anrufung eines „Klassenbewusstseins“ auf Basis der realen Mehrwertschöpfung ins Leere. Die „Arbeit“ hat ihre vermeintliche ontologische Sicherheit verloren. Sie ist demoralisiert; und zwar sowohl hinsichtlich ihrer verschwindenden kapitalproduktiven Quantität als auch wegen ihres zunehmend destruktiven, nicht mehr auf lebensnotwendigen Bedürfnisinhalten gründenden Charakters wie auch im Zuge ihrer Prekarisierung. Ein Ausdruck dieser Demoralisierung ist es, dass der offizielle Slogan, „jede Arbeit sei besser als keine“, im arbeitsontologischen Massenbewusstsein selber verankert ist. Daraus folgt die desperate Hoffnung, nur eine Wiederbelebung der Akkumulationsdynamik könne noch Verbesserungen bringen. So erklärt sich auch die Wählbarkeit konservativ-liberaler Parteien bis in die restlichen Kernbelegschaften und selbst in die Population der Arbeitslosen und Überflüssigen hinein.
  8. Eingriffsmächtige Gegenbewegungen mit traditionellem Streikpotential entstehen nur noch für Partikularinteressen in Schlüsselpositionen (Lokführer, Fluglotsen) oder sie bleiben als zu schwache Lobby-Vertretung auf der Strecke (Milchbauern). Die links motivierten Protestbewegungen mit ihrer verkürzten Kapitalismuskritik kommen nicht über symbolische Aktionen mit Event-Charakter hinaus. Andererseits droht die etatistische Orientierung der politischen Linken in eine Beteiligung an der kapitalistischen Krisenverwaltung zu münden (Linkspartei in Berlin und anderswo). Die unabweisbare Abwärtstendenz wird eher in antisemitischen, rassistischen und sexistischen Ideologiebildungen verarbeitet. Auch der Feminismus der jüngeren Geschichte kommt in der Krisenentwicklung unter die Räder, weil der strukturell androzentrische Charakter der kapitalistischen Kategorien ausgeblendet bleibt und schon in der klassischen Arbeiterbewegung nicht reflektiert wurde. Gleichzeitig wissen die quantitativ dominierend gewordenen neuen Mittelschichten, dass das Interesse ihres prekär gewordenen qualifizierten Humankapitals von der Abschöpfung realer Mehrwertproduktion und bei deren Ausbleiben von Staatskredit und Finanzblasen abhängig ist. Einerseits werden sie so zu Trägern der verkürzten, auf das Finanzkapital reduzierten Kapitalismuskritik; andererseits hoffen sie gerade auf dessen Wiederbelebung.
  9. Ein bislang nicht sichtbarer allgemeiner Widerstand gegen die Krisenverwaltung ist nur möglich, wenn bis zu einem gewissen Grad die universelle Konkurrenz durchbrochen wird. Zweifellos müssen zunächst immanente Forderungen der Ausgangspunkt sein. Dazu gehören etwa ein ausreichender allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, eine drastische Erhöhung des Existenzminimums bei Transfereinkommen und ein Stop des Ausverkaufs der öffentlichen Daseinsvorsorge in der Medizin und anderen Bereichen. Aber solche Forderungen sind erstens angesichts der Lage nicht mehr auf dem politischen Dienstweg zu erreichen. Die etatistische Orientierung im Massenbewusstsein wie in der Linken ist ein Bremsklotz in dieser Hinsicht, weil auf diese Weise das Problem an den Staat delegiert wird. Nötig wäre stattdessen eine nicht mehr bloß symbolische soziale Massenbewegung, die willens und in der Lage ist, den kapitalistischen Betrieb auch in der Krise lahmzulegen. Zweitens, und das ist das eigentlich Entscheidende, kann eine solche Bewegung sich nicht mehr vom Kriterium der kapitalistischen Finanzierungsfähigkeit abhängig machen, die eine gelingende Kapitalakkumulation voraussetzt. Sie muss die Lebensinteressen für unverhandelbar erklären und bewusst „verantwortungslos“ gegenüber dem systemischen Finanzierbarkeitskriterium werden. Wenn sowieso die Inflationierung das Resultat der Krisenverwaltungspolitik ist, kann nur darin Handlungsfähigkeit gewonnen werden. Das bedingt das Eingeständnis, dass die traditionelle Reformpolitik auf Basis der Kapitalakkumulation bzw. unter Berufung auf deren Gelingen („Anteil am Wachstumserfolg“) obsolet und nicht umsonst in sozial repressive Gegenreformen umgeschlagen ist. Damit ist allerdings auch eine linke Politik als Geburtshilfe und reformorientierte Besetzung einer restrukturierten Kapitalakkumulation ausgeschlossen. Es kann sich nur um eine transitorische Bewegung handeln, die ein neues Bewusstsein von der Unhaltbarkeit der kapitalistischen Daseinsbedingungen entwickelt und darüber hinausgehen will.
  10. Damit steht allerdings auch die Neuerfindung des Sozialismus auf der Tagesordnung. Die Drohung, dass wir „auch anders können“ und eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus anstreben, war in Wirklichkeit stets der Katalysator für eine Durchschlagskraft immanenter Forderungen. In der Vergangenheit wäre eine Weltwirtschaftskrise von der Dimension der gegenwärtigen unvermeidlich Anlass für eine Aktualisierung des Übergangs zum Sozialismus gewesen. Wenn eine solche Zielsetzung für den Großteil der Linken heute undenkbar erscheint, hat das natürlich mit dem Untergang des staatsbürokratischen Realsozialismus zu tun. Dieses Ende wurde ja soeben am Rosenmontag des Durchbruchs zur „Freiheit“ zelebriert, dessen Unwahrheit die Linke nicht kenntlich machen kann. Schon in der Ideologie der klassischen Arbeiterbewegung und erst recht unter den Zwängen einer „nachholenden Modernisierung“ in der Peripherie des Weltmarkts reduzierte sich der Begriff des Sozialismus auf eine Verstaatlichung der kapitalistischen Kategorien, statt ihre Abschaffung ins Auge zu fassen. Das Scheitern dieser historisch bedingten Verkürzung wurde aber nicht kritisch, sondern affirmativ verarbeitet. Jetzt blamiert sich das „Ankommen“ im Kapitalismus, dessen Kriterien (Selbständigkeit der „Unternehmen“, Zugeständnisse an die Konkurrenz, „Freiheit“ der Preisbildung etc.) schon Gegenstand der realsozialistischen Reformen gewesen und in der westlichen Linken längst vor dem Untergang dieser Formation zum Paradigma einer Unüberschreitbarkeit der kapitalistischen Kategorien geworden war.
  11. Deshalb hat die etatistische Orientierung der Linken auch nichts mehr mit der historisch verfallenen Zielsetzung eines „Arbeiterstaats“ auf Basis der ontologisierten abstrakten Arbeit zu tun, sondern kapriziert sich ganz auf den bestehenden Staat, wie es die Sozialdemokratie schon in den 1920er Jahren vorgemacht hatte, um schließlich bei Godesberg und später bei Schröder und Hartz IV zu landen. Was übrig bleibt, ist einerseits ein pseudomarxistisch aufgemotzter Linkskeynesianismus, der nie etwas anderes als ein ideologisches „Rettungspaket“ für die Kapitalverwertung war und von den kapitalistischen Institutionen in den 1980er Jahren abserviert wurde. Wenn dessen Revitalisierung von Teilen der Linken hoffnungsfroh für eine reformpolitische Neubesetzung reklamiert wird, ist das eine Illusion, denn der neue Krisenkeynesianismus kann nur die repressive Krisenverwaltung exekutieren und stellt nichts als eine Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln dar. Die drängende Frage einer gesellschaftlichen Planung der Ressourcen erscheint nur in einer perversen Form als Verstaatlichung der Krise. Andererseits macht sich komplementär zum „linken“ Krisenkeynesianismus das Programm einer „solidarischen Ökonomie“ geltend, die am kapitalistischen Vergesellschaftungs-Zusammenhang vorbei in partikularen Alternativstrukturen (kleinen Genossenschaften, selbstausbeuterischen Kommunen, Nachbarschaftshilfe, Schrebergarten-Subsistenz, regionalen Alternativwährungen usw.) die Illusion einer „anderen“ Produktions- und Lebensweise auf der verbrannten Erde des Kapitals propagiert und von der Krisenverwaltung vereinnahmt werden könnte. Ein weiterer Aspekt der zu kurz greifenden alternativen Orientierungen besteht darin, die alte Idee einer betrieblichen „Demokratisierung“ wieder aufzugreifen. Eine betriebliche Mitbestimmung läuft aber unter Krisenbedingungen darauf hinaus, die Beschäftigten für das Bestehen in der Konkurrenz mitverantwortlich zu machen (Scheitern der besetzten Belegschaftsbetriebe am Markt in Argentinien, freiwilliger Lohnverzicht bei Opel und Arcandor).
  12. Alle diese Transformations- oder Sozialismus-Surrogate verfehlen grundsätzlich das Problem der „gesellschaftlichen Synthesis“ durch die allgemeine Wert- und Warenform der Reproduktion, die überhaupt nur aufgrund der Warenform der Arbeitskraft existiert. Ein neuer Sozialismusbegriff kann nur gewonnen werden, indem die Verinnerlichung der kapitalistischen Daseinsformen von Warenform der Arbeitskraft, abstrakter Arbeit, Verwertungslogik und Warenform der Reproduktion durchbrochen wird. Historisch auf die Tagesordnung gesetzt wird eine gesellschaftliche Selbstverwaltung jenseits dieses Form- und Funktionszusammenhangs als bewusste Planung des gesamtgesellschaftlichen Ressourcen-Einsatzes (naturale Mittel, Technologie, Wissen), die nicht mehr auf Recheneinheiten abstrakter Arbeit beruht; einschließlich der Infrastrukturen und der bislang an die Frauen delegierten nicht-wertförmigen Momente der Reproduktion. Eine solche weiter gehende Zielbestimmung sozialistischer Transformation bedarf einer historischen Zeit ihrer Verankerung; aber sie ist gleichzeitig Voraussetzung, um den Widerstand gegen die restriktive Krisenverwaltung mobilisieren zu können. Einsichtig gemacht werden kann sie praktisch in dem Maße, wie der Verlauf der Weltwirtschaftskrise über das bisherige Ausmaß hinaus dazu führt, dass mangels Rentabilität, Konkurrenz- und Finanzierungsfähigkeit lebensnotwendige Ressourcen stillgelegt werden, obwohl die materiellen Mittel dafür existieren. Wenn die linke Kapitalismuskritik aus dem matten Rückzugsgefecht herauskommen und die Offensive zurückgewinnen will, muss sie diese Nuss knacken und über ihren historischen Schatten springen.