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Uwe Stelbrink

Das Stolpern des Vortänzers

Wir haben jetzt vier Wochen Gelegenheit, die einfache Wahrheit zu leben, dass es für unseren Alltag völlig unerheblich ist, ob dieser deutschen Republik ein Bundespräsident vorsteht oder nicht. Die hektische Betriebsamkeit der Politik, die am 31. Mai 2010 offiziell um 14:15 Uhr, inoffiziell bereits mittags begann – Bundeshotte hatte doch wenigstens auf Kosten des Präsidialamtes noch ein Rundtelefonat mit allen „Verfassungsorganen“ geführt, bevor er die Brocken mit ein paar abgelesenen Brocken hinwarf – zeigt aber, dass die Machteliten das anders sehen: Zur Aufrechterhaltung des ideologischen Scheins eines funktionsfähigen Staates gehört in ihren Augen offensichtlich auch eine Gallionsfigur, ein Vortänzer, der unhinterfragt die Selbstverwertung des Werts als normalen Alltag, ja als fröhliche Bürgertugend vorlebt. In diesem Sinne wollte gerade Horst Köhler ein „Präsident des Volkes“ sein, quasi der „Durchschnitt der deutschen Gesamtbevölkerung“. Wer sich von Köhlers Durchschnittlichkeit (sein häufig irritierender Satzbau ist gewiss nicht Adorno geschuldet) nicht eingemeindet fühlen will, war lange nicht Gast an deutschen Stammtischen, deren Stammgästen der Ex-Präsident mehr als einmal aus tiefstem Herzen oder Bauche sprach, was in diesen Runden meist auf das Gleiche hinaus läuft. Damit reiht er sich würdig ein in die Tradition seiner Vorgänger, die es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – mit der deutschen Geschichte nicht so genau nahmen, Ruck-Reden hielten oder die Neger der deutschen Fürsorge anheimstellten. Köhler beherrschte im Gegensatz zu Lübke zwar „pc“, aber nach Afrika trieb es auch ihn, gewissermaßen an einen alten Tatort, den er als IWF-Direktor in treuer Erfüllung der Expansionsbedürfnisse des Weltkapitals in den Zustand versetzen half, den er nun mit wohlfeiler Rhetorik glaubte, doch noch ein wenig zum Feld der sich erschöpfenden Verwertung aufpäppeln zu können. In seinem volkstümelnden Schnitt, der ihm sicher aus ehrlichstem Herzen und Bauche kam, wandelte sich dieser als Aushängeschild des neoliberalen Projektes Erkorene zum wandelnden Volkstribun, der letztlich mit seiner an die Banker gerichteten Schuldzuweisung für den Crash des spekulativen Finanzmarktes legitimes Mitglied einer sich in Verbesserungsvorschlägen zur Krisenverwaltung übenden deutschen Linken hätte werden können wie weiland schon der zum urkommunistischen Mahner gewandelte Heiner Geisler bei attac. Und so hätte Horst Köhler – getragen von der Zustimmung des deutschen Stammtisches, heimlich geächtet von den ihn seinerzeit nominierenden Parteien und weiterhin bespöttelt von der Medienindustrie seine Amtszeit aussitzen können. Hat er aber nicht.

Stattdessen begehrte seine überfließende Seele Austritt – sie lief ihm über in einem Flugzeug hoch über Afghanistan und direkt in die Mikrofone von Deutschland Radio Kultur. Beeindruckt vom Kampfesgeist unserer schlecht versicherten Freiwilligen am Hindukusch wollte er ihnen eine Lanze brechen und der im Weißbuch der Bundeswehr längst verankerten Militärdoktrin endlich Rückhalt im Volke verschaffen. Und sprach die Wahrheit aus, die in den Eliten alle wissen, die man aber nicht aussprechen darf, sowenig wie Rumpelstilzchen beim Namen nennen : Für die Verwertungsinteressen des Kapitals, speziell des deutschen, darf „im Zweifel, im Notfall“ auch ein „militärischer Einsatz“ , sprich Krieg geführt werden. Und damit auch an den Stammtischen beifällig geklatscht wird: Um „bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern“.

Die Eliten schwiegen zunächst betreten, aber tags drauf war man im concerto grosso mit der Meinungsindustrie dabei, die verfängliche Rede des Staatsoberhauptes zunächst einmal einzukürzen (den allzu populären Halbsatz am Ende obigen Zitats ließ man weg), um sie dann in ein peinliches Missverständnis umzudeuten. Der Bundespräsident habe nur in dem Sinne über Afghanistan gesprochen, dieweil er sich im Moment seines ungebremsten Wahrheitsausflusses in der Tat über Afghanistan befand. Denn dort werde die Freiheit überhaupt und bei der Aktion ATALANTA am Horn von Afrika die Freiheit des internationalen Handels verteidigt. Als ob letzteres nicht genau das ist, was im letzten Halbsatz des verfänglichen Interviewsatzes zu lesen steht. Das Ex-Bundespräsidialamt des Ex-Bundespräsidenten beeilte sich zwar flugs mitzuteilen: Ja, genauso hat der Horst das gemeint! Aber es war schon zu spät. Volksvertreter, die den Zerschlagungskrieg gegen Jugoslawien, der schon mit den gleichen Zielen geführt wurde, wie sie im obigen Zitat des gewesenen Bundespräsidenten öffentlich gemacht wurden, mit einer humanitären Katastrophe und dem Verhindern eines zweiten Auschwitz begründet hatten, zichtigten ihn der Kanonenbootpolitik. Und andere gar grundgesetzwidriger Aussagen. Was dem verletzlichen obersten Hüter des Grundgesetzes dann doch als eine respektlose Anschuldigung bar jeder Rechtfertigung erschien (wessen sie allerdings nicht bedarf, denn Art. 26 GG stellt klar: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“).

Wäre das also ein Grund für den Rücktritt eines Bundespräsidenten gewesen? Der Hüter des Grundgesetzes als Demonteur desselben? Wohl kaum. Steht doch die ganze stolze deutsche Republik auf illegitimem Grund. Wie heißt es im gleichen GG weiter? „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ (Art. 146) Stattdessen beschlossen gewählte Volksvertreter in freier Entscheidung, dass man es so ernst mit dem GG nun auch nicht nehmen muss.

Nein, der Verletzliche fühlte sich verletzt, weil ihn seine Inthronisateure spüren ließen, dass ihnen selbst eine krittelnde Volkstümelei schon zu sehr am schönen Scheine kratzte – und ihn zappeln (oder hängen, wie der Volksmund wohl treffender sagt) ließen.

Und seine Eva Luise wird ihm gesagt haben: Horschte, das ham wir nich nötig. Und was Eva Luise sagt, ist Gesetz. Und außerdem hatte sie Recht damit. Und so geschah das immer noch Unfassbare. Horst trat vor die Kameras und Mikrofone und las vor: „Hiermit trete ich von meinem Amt als Bundespräsident zurück.“ und las weiter vom nächsten Blatt, tapfer die Überraschung unterdrückend: „Mit sofortiger Wirkung.“

Ein anderer, ganz anderer Deutscher schlug einmal vor, „den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vor(zu)spielen und sie so zum Tanzen zu bringen“. Freilich hatte Marx dabei nicht den staatlichen Vortänzer als Taktgeber im Sinne. Kein Wunder, dass der stolpern musste.

Keine Trauer: In vier Wochen haben wir einen neuen. Business as usual.